Die Dialektik der Lüge
Die Süddeutsche über die Lügenpresse.
In der Süddeutschen ist ein Jammerartikel über das schlechte Ansehen der Presse erschienen.
Es geht um den Fall Relotius.
Man beschwert sich darüber, dass der Fall Relotius zu Vorwürfen gegen die Presse und das Wiederaufkommen des „Lügenpresse”-Vorwurfs geführt habe. (Warum auch nicht, es war ja Lügenpresse.)
Sie zeigen, wie massiv der Schaden ist, den der Fall Relotius nicht nur dem Spiegel zufügt, sondern allen Qualitätsmedien im Land.
Ist er das?
Oder liegt die Kausalität nicht doch mal wieder andersherum?
War Relotius der Verursacher eines Schadens für die Presse, oder war er nicht eher das Symptom der Verkommenheit des Schadensfalles Presse?
Die Spiegel-Chefredaktion spricht von einer “Katastrophe”. Zu Recht. Das Nachrichtenmagazin hat an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Weil diese für Qualitätsmedien das höchste Gut ist, kennt der Fall nur Verlierer.
Moment mal.
Das hört sich an, als sei der SPIEGEL da Opfer, habe unschuldig sein höchstes Gut eingebüßt.
Ist es nicht eher so, dass das Nachrichtenmagazin schon lange auf Glaubwürdigkeit pfeift und diese hemmunglos verzockt hat?
Und dass der SPIEGEL auch nicht Verlierer ist, weil er das höchste Gut der Qualitätsmedien, seine Glaubwürdigkeit, eingebüßt habe, sondern die banale Sachlage einfach nur so ist, dass der SPIEGEL eben einfach kein Qualitätsmedium (mehr) ist, weil ihm die Glaubwürdigkeit nichts (mehr) zählt? Hat er hier noch irgendwas eingebüßt, oder trat es da einfach nur mal zu Tage, dass der SPIEGEL nicht (mehr) das ist, wofür man ihn hält, oder zumindest als was er sich noch ausgibt? Nämlich Qualitätsmedium?
Dazu gehören die Verantwortlichen, die jene Texte veröffentlicht haben, und die Dokumentationsabteilung der Zeitschrift, die als zusätzliche Kontrollinstanz wirkte.
Die, die den Bockmist veröffentlicht haben, sind jetzt arme Verlierer?
Dazu gehört Relotius, der vor den Scherben seiner beruflichen Existenz steht.
Ooooh, armes Hascherl, armes Opfer, steht von den Scherben seiner Existenz. Gibt’s noch kein Spendenkonto für diesen armen Menschen, dem so übel mitgespielt wurde?
Wie kommt man zu so einer absurden Ansicht?
Verlierer sind auch all die Reporterinnen und Reporter im Land, die unter bisweilen schwierigen oder gefährlichen Umständen sauber recherchieren, sowie alle Redaktionsmitglieder, die Texte auf Qualität und Richtigkeit überprüfen. Gegen sie alle richtet sich der Zorn von Leuten wie dem Leser aus München.
Ooooh, ooohooo, oooh Schmerz! Es geht gar nicht um die Lüge. Es geht darum, dass all diesen tapferen, braven, wackeren Helden nun Zorn statt des erwarteten und verdienten Jubels und tiefster Dankbarkeit entgegenwogt. Heieieiei. Geht’s noch pathetischer und schmalziger?
Wisst Ihr, wie mir das vorkommt?
Ich habe neulich auf einer Feier etwas geschenkt bekommen, etwas zu essen, und es aus Höflichkeit und um da nicht negativ zu wirken, auch gegessen. Danach war mir speiübel. Ein Muffin. Das an sich geht ja noch. Aber jedes Muffin mit einer knallbunten, riesigen, mit Lebensmittelfarbe bis zum Anschlag durchgefärbten Sahnehaube, die sich auch noch als fest und massiv herausgestellt hat, und die neben dem Farbbedarf zum Streichen einer Wohnung den Dreimonatsbedarf eines Menschen an Zucker und Fett enthielt. Das Ding lag mir dann so richtig schwer im Magen. Ich habe mir ernsthaft überlegt, ob ich die Flucht ins Sanitäre antrete. Nach zwei, drei Stunden ging’s mir dann wieder besser, ich verfüge doch über Hochleistungsmagensäure. Hässlich waren die Dinger auch noch, aber was macht man nicht, wenn einem der Gastgeber freudestrahlend so ein Ding überreicht, die er extra vom Lieferanten bestellt hat? Es gibt inzwischen Firmen, die solche Anschläge auf das Wohlbefinden im großen Stil herstellen und liefern.
An das musste ich gerade denken, als ich diesen Artikel da las. Fett, süß, durchgefärbt, widerlich, und hinterher ist einem speiübel. Nein, eigentlich war es nicht das Hirn, sondern zuerst der Magen, der da schimpfte.
Die produzieren da Pressemüll und beschweren sich dann darüber, dass der Leser zornig wird, und packen darauf dann so eine durchgefärbte Sahnehaube, von der es einem übel wird.
Der arme Relotius, die arme Presse, Opfer des Zorns. Hätte nur noch die vor zwei Jahre allgegenwärtige Dummphrase „Woher nur kommt all der Hass?” gefehlt.
Die dumme Frage kommt tatsächlich vor, nicht wörtlich explizit, sondern implizit, denn gleich darauf kommt die Antwort:
Diesen Zorn haben rechte Populisten mit “Lügenpresse”-Rufen gegen ihnen unliebsame Berichterstatter strategisch geschürt. So klar wie unanständig also, dass AfD-Politiker den Einzelfall Relotius sofort als Beleg für die angebliche Dysfunktionalität der Qualitätspresse werteten.
Aha.
Nicht der Lügner ist schuld daran, dass die Lüge als Lüge dasteht, sondern die AfD. Die hätten „Lügenpresse” gerufen.
Da sind wir wieder tief in dieser geisteswissenschaftlichen Diskurstheorie. So in die Richtung Lüge gibt es eigentlich gar nicht, alles nur eine gesellschaftlich ansozialisierte Wertung, und Schuld daran, dass man Lüge sieht, ist der, der sie Lüge nennt und durch den Sprechakt den Diskurs eröffnet. So wie Babys nach der Geburt kein Geschlecht hätten und ihnen das erst durch finster-fiese Hebammen, vor denen sogar Darth Vader aus Angst blass würde, willkürlich zugewiesen bekommt, indem sie schicksalhaft urteilsmäßig verkünden „Ein Mädchen!”.
Nun soll also die AfD die Rolle bitterböser Hebammen einnehmen, indem sie es ist, die verkündet „Ein Lügner!”
Was bleibt, ist Verunsicherung. In Zeiten, in denen anonyme Websites mit Servern auf fernen Kontinenten, aber auch Meinungsmacher und politische Akteure Propaganda, Hetze und Hass verbreiten, sind Qualitätsmedien als Garanten für saubere Recherchen, transparente Quellen und strenge Kontrollen wichtiger denn je. Diese Mechanismen haben im Fall Relotius versagt. Es wird die Aufgabe eines nun vom Spiegel einberufenen Gremiums sein, dieses Scheitern aufzuarbeiten, Konsequenzen zu ziehen und öffentlich zu vermitteln, wie ein solcher Fall verhindert werden kann. Nur so lässt sich der unfaire, ja verleumderische Vorwurf entkräften, der Fall Relotius sei typisch für die Medienbranche.
Mal abgesehen davon, dass nahezu alle Websites, mit denen ich bisher zu tun hatte, die anoynm waren und politische Meinungsmache, Propaganda, Hetze, Hass verbreiteten, stramm links waren (Münklerwatch, indymedia, unzählige feministische,…), und auch diese Autorin wieder mal nicht verstanden hat, was ein Garant ist, darf bezweifelt werden, dass es beim SPIEGEL zu wirksamen Konsequenzen kommt, jedenfalls nicht aus eigener Motivation heraus. Normalerweise würde man vor allem von links in solchen Fällen massenweise Rücktritte, den Ausschluss von öffentlichen Aufträgen, die Sperre aller Förderung fordern, den Laden einfach dicht machen. Hier läuft es darauf hinaus, die geringstmögliche Reaktion zu zeigen und dann weiterzumachen, wie bisher.
Wenn die Redaktionen Antworten finden und diese den Lesern vermitteln, kann der Fall, der gerade nur Verlierer kennt, den Journalismus ein Stück voranbringen.
Der Fall hat nicht nur Verlierer.
Gewinner ist der Leser, der Bürger, dem mal ersichtlich wurde, was da so abläuft.
Was aber wieder mal zeigt, für wie dumm die Süddeutsche die Leser hält. Denn der Leser kommt in diesem Geschreibsel überhaupt nicht vor. Es wird immer unterstellt, dass der Leser strohdoof sei und selbst überhaupt nicht denke, dass er nur von finsteren Mächten wie Websites und der AfD davon abgeleitet wird, den Qualitätsmedien zu vertrauen. Leser als unmündige Kinder. Auf die Idee, dass Leser sich eine eigene Meinung bilden, und das unabhängig von anonymen Websites und Parteien, kommen die nicht, weil sie das den Leser nicht zutrauen.
Die halten sich für die Erzieher der Dummen. Die schreiben für Dumme. Die halten den Leser für dumm.
Dumme mag es in unserer Gesellschaft reichlich geben, nur lesen die eben auch keine Zeitung.
Das zentrale Problem der Medien ist, dass sie mit ihrer Dummheit die Zielgruppe vergrault haben: Die Dummen als Zielgruppe funktioniert nicht, weil die keine Zeitung lesen. Die Schlauen als Zielgruppe hat man verprellt, die lesen keine Zeitung mehr.
Und dieses feministische „egal was wir machen, irgendwelche anderen, die Bösen, sind immer dran schuld”, das nutzt sich eben auch ab.
Medienkompetenz heißt heute, a) die Dummheit der Presse zu erkennen, zu verstehen, zu analysieren und sich b) von Dümmeren eben nicht mehr erziehen und beeinflussen zu lassen.