Ansichten eines Informatikers

Beruht die Love-Parade-Katastrophe auf gesellschaftlicher Inkompetenz?

Hadmut
26.7.2010 21:44

Ich habe mir heute die Berichterstattung über die Love-Parade-Katastrophe durchgelesen, und da ist mir so der ein oder andere Gedanke durch den Kopf gegangen:

Bevor ich hier wieder mal mit Gesellschaftskritik loslege, will ich aber darauf hinweisen, daß ich hier zwei entgegengesetze Kritiken an dieser Katastrophe äußere: Meine gesellschaftskritische Meinung steht hier, meine wissenschaftskritische steht unter Forschungsmafia.de.

Derzeit läuft die Suche nach Schuldigen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, die Presse rügt, daß das Gelände ungeeignet war und die Fluchtwege zu eng. Daß an der Stelle, an der die Menschen starben, Ströme aus drei Richtungen (zwei Tunnel und die Rampe von oben) zusammenprallten und das gar nicht gut gehen konnte. Daß das Gelände zu klein war und man auf breite Rettungswege und Feuerwehrpläne verzichtet habe. Alles berechtigte Vorwürfe, alles wüste Fehler.

Aber eines gefällt mir daran gar nicht: Diese Vollkaskomentalität, die dahintersteht. Für alles, was passiert, sucht man Schuldige – Polizei, Bürgermeister, Veranstalter, und, und, und. Nur die Besucher, die sind an nichts schuld.

Es ist bekannt, daß Menschenmengen einen solchen Druck ausüben können, daß der einzelne keine Chance mehr hat und niedergetrampelt wird. Der Druck entsteht aber erst, wenn welche drücken. Solange jeder einen Höflichkeitsabstand hält und andere Menschen nicht berührt, kann es keinen Druck geben. Man muß sich auch mal klar machen, daß es nicht einzelne, schwere Schuldige gibt, sondern daß da ein paar zig- oder hunderttausend Leute jeder so ein bisschen getötet hat, indem jeder so ein bisschen gedrückt hat. Daß wir uns ein gesellschaftliches Fehlverhalten antrainiert haben – vulgo: eine Rücksichtslosigkeit – die sich eben bis zum Totschlag aufaddieren kann. Feierlaune, kollektives rituelles Abschalten des Gehirns als Event-Zweck, der im Tod einzelner kulminiert. Von Veranstaltern verlangen wir Vorsichtsmaßnahmen, von Feuerwehr und Rettungsdienst Bereitschaft in der Freizeit und Vorbereitung. Nur von den Besuchern der Party erwarten wir gar nichts, denen erlauben wir grenzenlose Dummheit und Rücksichtslosigkeit, wie die Rindviecher in einer Stampede. Wir übertragen die Verantwortung für Massenverhalten allen, nur nicht denen in der Masse. Leute, Ihr steht nicht im Stau, Ihr seid der Stau.

Würde man Leuten beibringen, wie man sich in der Masse zu verhalten hat (und überhaupt mal eine gewisse Rücksichtnahme lehren), wären beispielsweise im Tunnel alle in der rechten Hälfte geblieben, dann hätte es diesen Zusammenprall von Menschenmengen mit entgegengerichteten Zielen und diesen Druck nicht gegeben. Oder wenn man Alkohol verbieten würde.

Wir sind so in eine Party- und Public-Viewing-Spaß-Mentalität geraten, in der jeder glaubt, sich wie Sau benehmen, besaufen, vordrängeln zu können, und Schuld ist dann immer irgendwer anderes. Irgendwo wird was beschlagnahmt, irgendwer kriegt was auf Bewährung, irgendwer wird zurücktreten. Nur Eigenkritik gibt es nicht. Daß Menschen, die vielleicht einzeln ganz umgänglich und vernünftig sind, in der Masse zu einem archaischen Stammhirnbrei werden und sich benehmen wie wilde Tiere. Daß wir nicht in der Lage sind, die Spezies homo sapiens so abzurichten, daß mal eine Million von denen geordnet beisammen stehen können, ohne daß man Polizei, Feuerwehr und Berufsschuldige braucht. Es ist übrigens ein kulturelles Problem, es gibt Länder, in denen das besser geht. Und daß wir eine Kultur des Besaufens haben, in der es gesellschaftlich gebilligt wird, daß Leute sich bewußt dem Kontrollverlust hingeben und hinterher anderen an deren Handeln schuldig sind, nur nie die, die saufen. Prinzipiell hätte man dort mehrere hunderttausend Leute wegen gemeinschaftlichen Totschlags anklagen müssen. Jeder hat das so ein bischen in Kauf genommen.

Und das Problem tritt nicht selten auf. Beim Nachtskaten in Dresden und München kann man immer, wirklich immer einzelne Idioten beobachten, die mit einem extremen Affenzahn im Slalom und ohne Sicherheitsabstand die anderen überholen, schneiden, gefährden. Aber niemand sagt was, niemand will Streit, niemand will Spießer sein. Es muß erst was passieren. Die gesellschaftliche Akzeptanz solchen Gefährdens anderer, die Wertschätzung die dem Regelverstoß entgegengebracht wird, ist letzlich das Fundament solcher Unglücksfälle. No risk, no fun. Bitte, da habt Ihr Euer risk. Nur daß es eben nicht nur ein Wort, sondern echt war. Aber genau so wolltet Ihr’s ja auch haben.

Es gibt noch ein anderes Problem, was damit eng verwandt ist. Wir haben uns als Gesellschaft und in Folge dieser Vollkasko-Mentalität jeden Eigenschutz, jeden Fluchtreflex abtrainiert. Die Leute sind auch nicht mehr in der Lage, auf sich selbst aufzupassen. Ich habe auf SPIEGEL ONLINE Videoaufnahmen aus dem Vorfeld der Katastrophe gesehen, die wohl für eine geplante Reportage gedreht wurden. Wenn ich schon allein sehe, was da für Gestalten am Bahnhof rumgelaufen sind, in welchem Zustand die waren, merke ich doch schon, daß da Gefahr droht, daß ich da nicht sein will. Daß Leute, die sich so unkontrolliert bewegen, mit der Flasche in der Hand, nur auf ihren persönlichen Spaß bedacht, da rumlaufen, und daß man mit denen zusammen durch eine enge Röhre gequetscht werden soll. Da muß doch irgendwann mal der Verstand sagen, hier bist Du falsch, hier willst Du nicht hin, hier droht Gefahr. Weg hier.

Aber nein. Immer volle Pulle rein ins Getümmel. Jegliche Selbstschutzmechanismen abgeschaltet. Drogen, Alkohol, Gedränge, Mauern – das Hirn vom Beat betäubt, die Selbstschutzmechanismen von Kindheit an verkümmert. Als ich Kind war, sind wir noch alleine und unbeaufsichtigt am Altrhein herumgetollt. Wir mußten da selbst aufpassen. Und wenn wir nicht aufgepaßt haben, waren die Knie aufgeschlagen oder sowas. Heute gibt es nur noch das beaufsichtigte Spielen mit Mutti, oder an der Spielekonsole, wo einem nichts passieren kann. Wie in Disney-Land: Man kann überall reinsteigen ohne nachzudenken, irgendwer anderes auf dieser Welt wird schon auf mich aufpassen.

Hat mal irgendwer gefragt, ob jemand, der sich sehenden Auges zusammen mit Leuten im Ausnahmezustand, auch mit Betrunkenen, mit Rücksichtslosen, auch mit – ich sag’s mal so – Dummen in ein solches Gedränge quetschen läßt, nicht irgendwo selbst schuld ist? Ob der nicht bewußt (oder zumindest eigenschuldhaft) ein Risiko auf sich genommen und eben verloren hat? Jedem halbwegs vernünftigen Menschen muß doch klar sein, daß eine solche Massenveranstaltung hochgefährlich sein muß, daß man bei einer Panik niedergetrampelt wird. Muß man da nicht irgendwann mal fragen, ob sie das in Kauf genommen haben? Oder ob die Eltern oder die Gesellschaft nicht einfach darin versagt haben Leuten beizubringen, daß man nicht auf die heiße Herdplatte faßt? Haben wir völlig verlernt mit Gefahr umzugehen?

26 Kommentare (RSS-Feed)

Stefan W.
27.7.2010 1:13
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Ich fühle mich in Menschenmassen schnell beengt, und gehe ihnen lieber aus dem Weg, komme gerne als Letzter ins Stadion und haue kurz vor Schluß ab, um vor der ersten Welle draußen zu sein.

Die einzelnen Raver, das kann ich mir schon vorstellen, daß die nicht die Sicherheitspläne vorab überprüfen, dazu fehlt ja auch fast allen die Kompetenz. Man kommt also in Duisburg an, und hat das Wochenende freigeräumt, sich in Kosten gestürzt, und wenn man erstmal da ist, ist die Neigung abzureisen natürlich gering.

Wenn man sich dann auch noch Stimmung antrinkt nimmt die Kritikfähigkeit klarerweise weiter ab.

Auf der anderen Seite kostet es keinen Eintritt, und so weiß eigentlich niemand, wieviele überhaupt kommen werden. Man kann aber auch nicht 750 000 Menschen zurückschicken.

Und wenn der einzelne erstmal im Pulk sich bewegt – ja, am Anfang hat man eine Armlänge Abstand und schiebt nicht, aber man sieht auch nur 4 Köpfe weit, oder 5 Meter, und wenn es eng wird merkt man das daran, dass man auf den Vordermann aufläuft, und jmd. von hinten drückt – dann ist man aber drinnen, und dann ist es zu spät zu überlegen.

Wenn man diese schmale Treppe sieht, und diese klapprigen Bauzäune, dann muß man aber den Kopf schütteln. Hinterher ist es natürlich leicht, klug zu sein, aber Absperrgitter, die die Polizei aufstellt, sind normal deutlich dicker ausgelegt, und haben einen Fuß, auf dem man draufsteht, wenn man dagegendrückt, so daß man sie nicht umstoßen kann – diese Bauzäune dagegen halten wohl 3-4 Leute auf, aber nicht drückende Massen, oder viele, die es gleichzeitig überklettern.

Was will ich eigentlich sagen? Wenn man solche Massen steuern will, und soviel Sicherheit garantieren, wie bezahlbar, dann muss man damit rechnen, dass sich diese in der Masse nach anderen Gesetzen verhalten, und das von hinten, wo man gar nicht sieht, was vorne los ist, gedrängelt wird. Man kann nicht alle Risiken ausschließen, aber man muss Gefahrenstellen entschärfen, und ein viel zu kleines Gelände mit zu schmalem Zugang vermeiden.

Als Raver muss man natürlich wissen, dass das kein Fußballstadion ist, bei dem jede Woche die Massen kommen und gehen, nichtmals ein Oktoberfest mit jährlichen Erfahrungen.

Die Details müssen aber wohl noch ausgewertet werden.


Hadmut
27.7.2010 1:28
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Fußballstadion ist ein gutes Stichwort, die werden ja inzwischen relativ professionell gebaut.

Die Konsequenz ist aber doch, daß man solche Events nur noch entweder richtig und professionell oder gar nicht mehr macht. Und professionell wird für Einzelevents wohl zu aufwendig, unberechenbar, kostspielig. Vermutlich muß man’s einfach bleiben lassen. Ehrlich gesagt hab ich auch noch nicht so richtig verstanden, was es da so tolles gibt, was man nicht auch im kleineren Maßstab haben könnte. Wenn man doch sowieso nur 5 Köpfe weit gucken kann…


Stefan W.
27.7.2010 9:30
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Ja, bei solchen Menschenmassen muß man das m.E. professionell machen, und Beispiele wo es funktioniert sind vielleicht Oktoberfest, Kölner Karneval, Rock-am-Ring oder ähnliche Konzerte, die zwar kaum über 100 000 Besucher kommen, aber prinzipiell die gleichen Probleme aufwerfen, nur in anderem Maßstab.

Von Elias Canetti gibt es den Text “Masse und Macht”, der beschreibt, dass es Phänomene gibt, die man nur in der Masse erleben kann, und wahrscheinlich ist das mit ein Grund, wieso manche Menschen die Masse mögen. Ich verstehe die Auszüge hier http://de.wikipedia.org/wiki/Masse_und_Macht so, dass wohl jeder ambivalent ist, und bei mir überwiegt wie oben gesagt die Skepsis. Ich strebe keine religiösen Gefühle an, und auch das Sich-Auflösen-in-der-Masse attraktiert mich nicht, vielleicht würde ich es ja genießen, wenn ich es nur ausprobierte. 🙂

Das ist aber natürlich nur ein Punkt von vielen. Bei solchen Events geht es natürlich auch darum ‘da gewesen’ zu sein. Je größer das Ereignis, umso bedeutsamer, dazuzugehören.

Im kleinen Club kann auch jeder jedes Wochenende raven (wenn man so sagt). Aber ein mal im Jahr will man die große Party, mal etwas anderes. Diese Lust an der Abwechslung ist glaube ich leicht verständlich.


Jonas
27.7.2010 10:15
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Ich kann dir im Großen und Ganzen nur zustimmen: Deine Argumentation ist schlüssig, aber eben auch stark situativ ausgerichtet. Ich würde sicherlich im Allgemeinen “Da grölen zugedröhnte Leute rum” oder “Hier ist es aber verdammt eng” als Gründe ansehen, lieber einen Sicherheitsabstand einzunehmen. Einem Besuch der Loveparade _an sich_ wäre ich allerdings durchaus nicht mit dem gleichen Misstrauen begegnet.

Dazu trägt auch bei, dass die Loveparade keine neue Veranstaltung ist. Alle Loveparades der letzten Jahre hatten weit über eine Million Zuschauer. Auch dass die Loveparade mittlerweile außerhalb Berlins stattfindet, war nicht neu. Insofern hätte ich, interessierte mich die Loveparade denn, vom Sicherheitsaspekt her keine großen Bedenken gehabt, daran teilzunehmen; davon ausgehend, dass die Veranstalter _erfahren_ damit sind, Veranstaltungen dieser Größe auszurichten und ergo auch wissen, wie man eine Massenpanik so gut wie möglich verhindert. Insofern hätte die zu erwartende Erfahrung der Veranstalter mit bisherigen Loveparades durchaus dazu geführt, dass ich das Ganze als vermutlich ziemlich ungefährlich eingeschätzt hätte – auch ohne mir vorher das Hirn mit Alkohol und Drogen zu vernebeln.

Nichtsdestotrotz kann ich dem gesellschaftskritischen Aspekt kaum widersprechen. Nur lässt sich eben Gesellschaft besser beobachten und beurteilen als leiten und ändern, was es schwer macht, daraus andere Konsequenzen zu ziehen als ein schlichtes “Ich geh zu sowas nicht mehr hin”.


Niko
27.7.2010 11:40
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In einer Massenpanik-Situation, Rationalität zu verlangen, halte ich für sehr abwägig.


Hadmut
27.7.2010 11:58
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Erstens war es nicht mal eine Massenpanik, zweitens kann man sie vor der Massenpanik verlangen. Aber Rationalität ist halt uncool.


Anatol Wengert
27.7.2010 14:35
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Im Grunde ist das zwar alles richtig, aber leider in der Praxis ganz anders. Es hat weder was mit der Intelligenz des Einzelnen, noch mit der Größe der Veranstaltung zu tun. Es gibt biologische Grundprogramme im Stammhirn, die in bestimmten Situationen greifen und die jeglichen Altruismus oder auch nur Logik abschalten.

Täglich kann man solche Stammhirnprogramme im kleinen auf deutschen Autobahnen gut beobachten…

Jedenfalls könnte eine solche Panik auch im Kaufhaus auf der Rolltreppe oder in der Schlange an der Eisdiele ausbrechen – wenn auch potenziell mit weniger Schaden und besseren Fluchtwegen. Es hat nichts allein mit der Menge zu tun sondern mit bestimmten Bewegungen der Leute und natürlich mit der Summe der Einzelverhaltensweisen.

Dass die ganze Veranstaltung fehl am Platz war und zudem auch inhaltlich höchst fragwürdig (und warum eigentlich überhaupt kostenlos?) steht auf einem anderen Blatt. Wenn das die Kultur”hauptstadt” Ruhrgebiet auszeichnet, dann würde ich lieber die Montanindustrie dort wieder aufbauen.


pepe
27.7.2010 19:54
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Du unterschaetzt da glaube ich die psychologische Komponente. Es braucht keine Massenpanik, es reicht wenn irgendeine oder einer in der gedraengten Masse ne Panikattacke bekommt. Dafuer braucht es auch niemanden der irgendwo raufklettert und in die Menge faellt.

Ich glaube kaum dass “alle ein bisschen druecken”, sondern einzelne bekommen in der stark gedraengten, vermutlich auch heissen und stickigen Situation schlicht Panik. So eine Unruhe breitet sich dann leicht aus.

In so einer Situation Rationalitaet zu verlangen ist nur begrenzt hilfreich. Du kannst ja mal einem beim Waterboarding erklaeren, dass er da im Grunde keiner Lebensbedrohlichen Gefahr ausgesetzt ist und sich einfach ruhig verhalten soll.

Wenn ueberhaupt haben wir uns gesellschaftlich von solchem Instinkiven handeln entfernt und koennen es daher vermutlich oft gar nicht mehr verstehen und einschaetzen.


Hadmut
27.7.2010 20:39
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@pepe: Du hast zwar an sich Recht, liegst aber trotzdem daneben, nämlich in der Reihenfolge. Du unterstellst, daß alle brav und vernünftig unterwegs sind und dann die Panik über sie kommt.

Schaut man sich die Realität an, dann ist es häufig andersherum. Eine ganze Menge Leute – und das fängt schon beim Rauchen im Gedränge an – sind einfach charakterlich nicht in der Lage, sich an einfache Regeln und Rücksicht zu halten. Manche glauben sie können drängeln, überholen usw. weil sie schneller, toller, wichtiger sind. Kann man beim Nachtskaten sehen, in jedem Autobahnstau. Und verblüffend viele Fälle in denen es schief geht – oder auch einfach nur der große teure Stau auf der Autobahn – entstehen nicht, weil Leute originär Panik bekommen, sondern weil wir zu viele Leute haben, die sich schon ohne Druck und ohne Streß nicht vernünftig benehmen können und das eigene (und fremde) Risiko ignorieren. Selbst wenn nur ein Promille der Menschheit solche Idioten wären hieße das immer noch, daß da um die Tausend davon unterwegs waren.


Stefan
28.7.2010 5:05
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Generell ist das sehr richtig: mehr Eigenverantwortlichkeit wäre schön. Zu schön, um Realität werden zu können. man dürfte nämlich dann nicht mal in den Zug steigen, der nach DU fährt.

Steigt man dort aus dem Zug aus, dann ist man schon drin in der Herde von Schafen, oder Rindern, je nachdem. Und dann greift die Massenpsychologie. Ich will zum Gelände, aber da vorne staut was. Ich sehe nix, also drängle ich erstmal.

Und im Tunnel, anfangs der Rampe: oh, da gehts erstmal nicht weiter, aber ich hör doch schon die Beats! Da oben muß es sein, da muß ich rauf. Gehts nicht über die Rampe (Polizeo hat abgeriegelt) dann gehts ja vielleicht über die Treppe. Und das wollten dann plötzlich viele, und haben dahin gedrängt. und Gaffer gabs natürlich auch, nachdem man erstmal gemerkt hatte, da vorne tut sich was Böses.

Ringsrum war allemal genug Platz, und zudem hätte die Police ja bitteschön wenigstens paar Megafone dabeihaben können und die Leute anbrüllen, den üblichen Weg die Rampe rauf zu nehmen (nachdem sie dort Platz gemacht hat).

Daß die Polente so dermaßen ratlos war (den Aufgang macht man dicht, aber am Eingang des Tunnels strömen die Leuzte weiter rein), das kann ich bis dato absolut nicht begreifen.

Warum hat man nicht wenigstens 10 mann mit Funke im Tunnel postiert, die ein paar Infos nach draußen und umgekehrt weiterleiten können??

Vollkommen absurd, und ehrlich gesagt, Deutschlands unwürdig. oder ich habe eine falsche Vorstellung von Deutschland, könnte auch sein.


[…] There is an interesting article (in german) which is rather a criticism of society than an analysis of this particular disaster. Synopsis: The […]


GeorgeD
28.7.2010 17:54
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Als ich fünf Jahre alt war — und das ist schon ein paar Dekaden her — wäre ich fast in einer hochkatholischen Menschenmenge erdrückt worden, die in unerwartet großer Anzahl eine Freiluft-Festtagsmesse besucht hatte. Die Todesangst gehört zu meinen frühesten Erinnerungen. Deshalb bin ich seither jeder größeren Menschenansammlung aus dem Weg gegangen … und deshalb könnte ich auch nie einen Menschen verurteilen, der in einer vergleichbaren — oder, wie hier, noch weit schlimmeren — Lage völlig irrational handelt.

Deshalb, Hadmut, bin ich über Deinen “diese Trottel sind selbst schuld”-, “da geht man doch nicht hin”-, “die waren doch alle zugedröhnt”-Artikel total entsetzt.

“Da muß doch irgendwann mal der Verstand sagen, hier bist Du falsch, hier willst Du nicht hin, hier droht Gefahr. Weg hier./ Aber nein. Immer volle Pulle rein ins Getümmel. Jegliche Selbstschutzmechanismen abgeschaltet”: das kann man ja wohl auch von jedem Verkehrsopfer sagen. Wenn wir bei jedem Gefühl von Gefahr gleich den Rückzug antreten würden, müssten wir alle zitternd unter unseren Wohnzimmertischen kauern und beten, dass uns da kein Meteor auf den Kopf fällt. Obendrein ist die Love Parade seit 1989 so oft ohne ernsthaften Zwischenfall abgehalten worden, dass nun wirklich keiner der Duisburger Teilnehmer mit einer Gefahr für Leib und Leben rechnen mußte; und angesichts der Bilder halte ich es für ein Wunder, dass die Opferzahl nicht weit, weit höher gewesen ist. So völlig zugedröhnt kann diese angebliche Masse von Chaoten nicht gewesen sein.

Ich hätte es ja nicht für möglich gehalten, dass ich einmal einen Beitrag auf bild.de für besser halte als einen Beitrag von Dir, Hadmut, aber genau das ist heute der Fall.

http://www.bild.de/BILD/video/clip/news/loveparade-drama/2010/07/26/loveparade-opfer,seite=0.html

(Und wahrhaftig, ich sehe in diesen Gesichtern nichts, was bei mir Fluchtinstinkte ausgelöst hätte.)

Nichts für ungut. Ich war bisher mit fast allem, was ich hier gelesen habe, voll und ganz einverstanden — ja, oftmals restlos begeistert. Deshalb schmerzt mich dieser Artikel so sehr.


Hadmut
28.7.2010 19:25
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@GeorgeD: Naja, also die kommerzielle Pathos-Betroffenheits-Umwälzpumpe der BILD würde ich nun nicht unbedingt als Maßstab akzeptieren.

Und „diese Trottel sind selbst schuld” hab ich auch nicht gesagt.

Was mir aber auf den Wecker geht, ist diese Geisteshaltung, die von vornherein jede Eigenverantwortung ablehnt und ein Nachdenken darüber, ob die Leute sich nicht auch irgendwo selbst in Gefahr gebracht haben, verbietet. Solche Denkverbote und vorgegebene Schuldkategorien halte ich für sehr gefährlich. Da kommt man leicht in die Fahrwasser der Lynchjustiz bzw. der amerikanischen Jury-Justiz, wo nicht der Nachweis, sondern die Laienmehrheit zählt.

Natürlich muß man die Schuld zuerst beim Veranstalter suchen, aber eben nicht nur.

Ich beobachte immer öfter, daß Leute heute überhaupt keinen Umgang mit Gefahr mehr lernen, weil sie zu wohlbehütet sind und Gefahr nicht mehr kennen. Alles nur noch wie Zoobesuch. Und das meine ich eben im doppelten Sinne, nämlich bei denen, die sich nicht benehmen können und gefährlich agieren, wie ich sie immer öfter beobachte, und die, die überhaupt kein Gefühl mehr dafür entwickeln, wenn sie sich in Gefahr begeben. So dieser Wandel von der Eigenverantwortung zum Consumer mit Gewährleistungsanspruch.

Ich merke das an verschiedenen Stellen. Im einfachsten Fall beim Nachtskaten, wo manche fahren wie die Henker. Oder beispielsweise bei Wanderungen in Australien, wo ich auf Wanderwegen, die stundenlang durch heiße Felswüste führen, Frauen gesehen habe, die ohne Sonnenschutz, ohne Hut, im Spaghettiträgerhemdchen und ohne Wasservorrat rumlaufen und alle Schilder ignorieren. Wie, hier kann man verdursten? Kann doch nicht sein, ist doch ein Touristenweg.

So ähnlich, wie heute viele Leute nicht mehr ohne Internet auskommen und sich nicht mehr vorstellen können, wie es ohne war, kommen viele Leute heute nicht mehr ohne einen aus, der auf sie aufpaßt und sie rettet.

Das ist ein Vorwurf an Leute, die sich vorher schon betrinken und bekiffen um sich dann da gezielt danebenzubenehmen, zu drängeln usw.

Man muß aber auch irgendwann mal in der Lage sein zu sagen, da herrscht Chaos, da ist es eng, da ist es überfüllt, da gehe ich gar nicht erst rein.

Es gab Videoaufnahmen, auf denen man hört, wie die Polizei verzweifelt versucht die Leute dazu zu bringen, die Rettungswege freizugeben. Wenn selbst solche elementaren Dinge nicht mehr funktionieren – und das sind nicht die, die in der Panik stecken, sondern die, unvernünftig davorstehen und unbedingt reinwollen – dann kann man die Schuld nicht immer nur bei irgendeinem externen Sündenbock suchen.

Aber es ist halt immer so einfach, ein paar Sündenböcke vorzuführen und die Masse freizusprechen.

Warum lernt man beispielsweise im Sozialkundeunterricht nicht, wie man sich in Massenveranstaltungen zu verhalten hat?

Und wegen der Kritik: Würde ich als Blogger Kritik nicht hinnehmen könnte und nicht in Kauf nehmen wollte, daß ich auch mal mit einem Artikel nicht gefalle, oder mal ganz bewußt gegen die öffentliche Meinung und Political Correctness verstoße, bräuchte ich nicht zu bloggen, dann sollte ich es besser bleiben lassen. Zu schreiben, was allen gefällt, ist meist überflüssig und wertlos. Und eine BILD will ich ganz sicher nicht sein.


Franz
28.7.2010 19:39
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Ist nicht dieser Selbsterhaltungsreflex teilbeschränkt durch rechtliche Vorschriften (Eltern haften für Ihre Kinder, Fürsorgepflicht).

So dass es bequemer ist die Kinder vor die Playstation zu schicken?

(Eigentlich sind diese beiden Dingen wohl eher nütze, um die Schuld in jedem Fall auf die Eltern abzuwälzen, falls die Kinder etwas beschädigen oder gar mal in nem Pool ertrinken)


Hadmut
28.7.2010 19:51
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Irgendwo hab ich mal einen Spruch gelesen: Wenn früher ein Junge in der Schule ein Taschenmesser dabei hatte, hat der Lehrer seins auch rausgeholt und erst mal verglichen, wer mehr dran hat.

Heute kommt das Kind gleich zum Schulpsychologen. In den USA ist doch irgendwo mal ein Kind von der Schule verwiesen worden, weil der Junge voller Stolz sein Pfadfinder-Klapp-Besteck in die Schule mitgenommen hat.

Die Leute aus der Generation meiner Eltern sind als Kinder im und nach dem Krieg noch zwischen Bombenblindgänger rumgelaufen und haben Granaten entschärft. Die hatten ein sehr ausgeprägtes Gefühl dafür, was Gefahr ist und daß man sie meidet. In meiner Generation war es zumindest noch so, daß man den Nachmittag an der frischen Luft und unbeaufsichtigt verbracht hat, sich mal auf Baustellen herumgetrieben oder irgendwelche Waldgebiete unsicher gemacht hat. Nix Handy, nix Mutti, nix Spielekonsole, nix Twitter. Kein Aufpasser dabei. Auf sich selbst gestellt.

Den Eindruck habe ich heute nicht mehr. Da kriegen viele Leute schon die Krise wenn der Akku vom Handy leer ist. Die völlig ohne Gefahr- und Bedrohungszustand aufgewachsen sind. Wohlbehütet und von Eltern mit allem versorgt. Heile Welt und so. Gefahr gibt’s nur im Fernsehen, alles nicht echt.

Ich habe den Eindruck, daß viele Leute da heute gefahrblind sind.


Franz
28.7.2010 20:56
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@Hadmut: Was hältst du für die Hauptursache des verminderten gesunden Menschenverstands bzw. was trug dazu bei?


Hadmut
28.7.2010 20:59
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@Franz: Ich glaub nicht, daß es da eine einzelne Hauptursache gibt.

Erziehung, technischer Fortschritt, immer höherer Lebensstandard, Medien, Zeitgeist, Verlust der evolutionären Selektion, Alkohol, Drogen, Beat-Rhythmen, Stammhirn schlägt Großhirnrinde, nie besser gelernt, Gruppendruck, usw. usw.


Franz
28.7.2010 21:19
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@Hadmut: Knifflig.

Das wirft ein paar allgemeine Fragen auf:
Gibt es eine Möglichkeit, dem Thema nachzugehen ohne gleich Soziologie zu studieren? D.h. Gibt es Literatur zu dem Thema, welche auch für fachfremde Menschen verständlich ist? (Verkehrsforschung von Menschenmassen, Panikforschung) Ist der Mensch in einer solchen Situation überhaupt noch voll Handlungsfähig?


Hadmut
28.7.2010 21:37
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@Franz: Ich glaube nicht (bzw. inzwischen nicht mehr), daß ein Soziologiestudium jemanden zu irgendetwas befähigen könnte.

Ein paar grundlegende Rechenmodelle sind schon nicht schlecht, wie etwa daß auf einen Quadratmeter bis zu vier Menschen passen oder wie Menschen fließen. Aber das reicht halt nicht. Ich glaube, daß man da einfach bärig viel Wissen über Massenveranstaltungen und Unglücke haben muß, daß man sich einfach mal anschauen muß, wie Leute in Mekka, in brennenden Diskotheken, bei Bombenanschlägen usw. gerannt und zu Tode gekommen sind. Erfahrung und Praxiswissen eben.

Insofern würde ich da an erster Stelle tatsächlich Feuerwehr, Rettungsdienste und Polizei überregional befragen und keine Soziologen. Das ist einfach was für Leute, die wissen was sie tun. Leute, die sowas seit 20 Jahren und nicht zum ersten Mal machen.


Stefan W.
29.7.2010 0:48
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Ein singuläres Ereignis wie diesen Unfall auf der Loveparade zum Zeugnis einer soziologischen These wie “Verlust des gesunden Menschenverstandes” zu machen ist aber ein wenig riskant.

Der Mensch ist der evolutionären Selektion verlustig gegangen? Wann denn? Noch vor 150 Jahren sind große Teile der Bevölkerung in den Gebieten, die heute die, mit der höchsten Lebenserwartung sind, reihenweise vor Erreichen der Geschlechtsreife gestorben. Da war die Selektion wohl noch aktiv.

Seit dem sind 5 Generationen vergangen – für genetische Veränderungsprozesse, die andere Phänotypen begünstigen, ist das gar nichts, keine Zeitspanne, in der messbare Proportionen einer Population irgendwas erwerben oder verlieren könnten.

Wenn Beatrhythmen den gesunden Menschenverstand ausschalten, dann frage ich mich auch, wie der 30jährige Krieg ohne möglich war.

Wie will man überhaupt ohne Kenntnis der näheren Umstände auf eine verbindende Ursache schließen? Das ‘nur’ im nächsten Satz wird vielleicht etwas zynisch klingen, aber wenn die Mehrheit der Teilnehmer an einem kollektiven Mangel an gesundem MV gelitten hat, wieso starben dann nur 20, und nicht die anderen 2000, die zugleich am gleichen Ort waren?


Hadmut
29.7.2010 0:57
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@Stefan W.: Ich nehm’s ja gar nicht als Zeugnis, sondern als Anlaß zu äußern und artikulieren, was mir schon seit Jahren auffällt.


Franz
29.7.2010 1:10
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@Stefan W.: Ist gesunder Menschenverstand überhaupt genetisch verankert oder mehr Umgebungsbedingt? Weiß man dazu näheres?


Rhydel
30.7.2010 0:25
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Interessanter Artikel. Aber wenn man jetzt anfängt sich auf so pauschalen Dinge wie „Beat Rhythmen“ zu berufen, dann glaube ich, dass man nichts gewonnen hat. Ich höre gerne Musik mit einer kräftigen Basslinie, aber vor einem Zebrastreifen fahre ich langsamer und habe Füße auf Bremse und Kupplung – man weiß ja nie.

Generell habe ich aber auch das Gefühl, dass Probleme möglichst nach außen abgegeben werden. Hat man ein Problem, sucht man nicht selbst danach, sondern fragt im erstbesten Forum danach.

Einen Punkt kann ich aber bestätigen: Im Sozialkundeunterricht haben wir nichts sinnvolles gelernt. Zwar versuchte uns die Lehrerin zu erklären, wie man verschiedene Messdaten (Eierpreis und -nachfrage) in einem Diagramm darstellt und dann den Gleichgewichtspreis daraus bestimmt (da, wo sich die beiden Linien kreuzen), aber sonst war da nicht so viel.

Und nur noch so nebenbei: Warum braucht man hier unbedingt JavaScript, um den Kommentar abzusenden? Da gibt man sich Mühe, die Gefahren, die im Internet lauern zu erkennen und schaltet JavaScript ab und wird damit belohnt, dass man keinen Kommentar schreiben kann. Dabei ist das Formular doch eine reine Sache von HTML auf der Clientseite …


Hadmut
30.7.2010 0:29
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Das mit JavaScript ist ein Plugin, das Spammen erschweren soll und das auch ein dreiviertel Jahr lang sehr gut getan hat. Inzwischen kommen die ersten Spammer, die das Ding überlisten.

Hätte ich es aber nicht, würden mir so unglaublich viele Spam-Kommentare reinkommen, daß ich das Ding nicht mehr vernünftig moderieren könnte. Und Captchas finde ich aus diversen Gründen dämlich, die mag ich nicht.


Stefan W.
30.7.2010 3:47
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@Franz: Gesunden Menschenverstand gibt es gar nicht. Er taucht immer nur auf, wenn jmd. dessen Mangel beklagt. 🙂


Hallo,
da schreibt mir jemand aus der Seele. Wäre schönwenn dieses Denken mal in der “Normalen Presse” erscheinen würde. Ich sehe das genauso und vor allem mit den aberzogenen Schutzmechanissmen. Das Gefällt mir gut. Ich denke wir entmündigen unsere Kinder immer mehr und erzeugen damit unmündige Jugendliche die dann auf die Eigenen Eltern und andere Menschen losgehen weil sie das unbändige Bedürfniss verspüren sich als Meister zu beweisen. Cool sein heißt das dann.
Ich wünsche mir für Die Zukunft für uns alle ein Erwachen aus dem Spasswahn und die respektvolle Erfahrung von Freude und Gemeischaft.
Liebe Grüße
uta Appoltshauser