Kreatives Chaos?
Wie häufig liest man vom „kreativen Chaos”, mit dem sich manche sogar brüsten, die es mitunter als besonderes elitäre Lifestyle-Variante ansehen. Gerade erst von den und über die Piratenpartei hat man es wieder gelesen, und ich glaube sogar irgendwo gelesen zu haben, daß die Piraten Leute suchen, die mit kreativem Chaos leben können.
Die Sache hat nur einen Schönheitsfehler: Chaos ist nicht kreativ.
„Kreatives Chaos” ist zunächst mal nur ein wohlklingender Euphemismus, eine faule Ausrede, eine Beschönigung, das diplomatisch Verkneifen von Kritik, das Verpacken eines Tadels als Lob. Der Versuch, einem Saustall eine als sozial positiv empfundene Beschreibung abzuringen.
Und es ist ein Denkfehler. Man könnte ihn als „Blindes-Huhn-Paradoxon” bezeichnen.
Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn, steht aber gleichzeitig als Sinnbild des Mangels, der unzureichenden Befähigung. Problematisch an blinden Hühnern ist, daß sie halbwegs skalieren. Wo ein blindes Huhn ein Korn findet, finden viele blinde Hühner viele Körner. Das verleitet zu dem Trugschluß, daß die Vervielfachung des Defektes sich zu einem Vorteil entwickeln würde, weil dabei nur der Vergleich und Vorteil zu einem einzelnen blinden Huhn, jedoch nicht der Vergleich zu einer Herde sehender Hühner gezogen wird. Blinde Hühner sind nicht lebensfähig, und sie werden nicht lebensfähiger, wenn man deren viele zusammenpackt.
Auch Unordnung und Unorganisiertheit ist von der Systematik her zunächst ein Mangel. Multipliziert man ihn, wird es schlechter und nicht besser. Durch die einseitige Wahrnehmung von kleinen, aus Zufälligkeiten hervorgehender Vorteile, die natürlich zunehmen, je mehr zufällig-chaotische Prozesse man veranstaltet, entsteht der Eindruck, daß ein schöpferischer Zuwachs entsteht. Tatsächlich ist das aber nicht der Fall, sondern es bleibt zunehemend hinter dem zurück, was sein könnte, was man aber nicht sieht, weil es nicht ist.
Freilich haben Zufallsprozesse und Variationen, die durch die Abwesenheit eines Ordnungssystems begünstigt werden, ihre eigene Weise, Neues hervorzubringen, denn zufällig-chaotische Prozesse und Variationen sind die Voraussetzung für evolutionäre Entwicklung. Das kann durchaus Dinge hervorbringen, an die man auf andere Weise nicht gekommen wäre. Aber das ist eben nicht kreativ, das ist evolutionär wie die Ursuppe. Und das ist eben etwas ganz anderes als kreativ, weil Kreativität eine Zweierbeziehung des Schöpfers, des Kreativen, seiner Absichten zu seinem Werk darstellt. Evolutionäres, was aus Chaos entspricht, entsteht dagegen aus der Zufälligkeit und nicht aus einem kreativen Akt. (Vergleichbar dem Unterschied zwischen der Evolutionstheorie und dem Kreationismus.) Keiner kann sich dessen Ergebnisse als Verdienst an den Hut stecken, und keiner hat es unter Kontrolle. Es könnte genauso auch gar nichts oder Mist herauskommen.
Meiner Lebenserfahrung nach kommt aus dem, wo die Sorte Chaos herrscht, die man so gerne als „kreatives Chaos” umschreibt, sehr selten etwas gutes heraus. Meistens sackt Chaos nur zu Messitum ab, zu einem die Tätigkeit und Kreativität lähmenden Mißverhältnis zwischen Aufwand der Unterhaltung des Haufens und dem Nutzen, den man noch daraus ziehen kann. Dort, wo aus dem Chaos vermeintlich etwas erwächst, entsteht es meistens trotz und nicht wegen des Chaos. Denn bei genauer Analyse ist nicht das Chaos selbst kreativitätsförderlich, sondern nur die beim Aufräumen und Ordnen gesparte und stattdessen anderweitig eingesetzte Zeit und Energie.
Auf der anderen Seiten kann natürlich eine zu große Ordnung zu sehr einengen und zuviel Arbeitszeit/-energie verbrauchen, um noch genug für Kreativität übrigzulassen. Das Optimum ist irgendwo zwischendrin.
Chaos ist nicht kreativ. Höchstens evolutionär. Erfahrungsgemäß aber meistens nutzlos.
16 Kommentare (RSS-Feed)
@Kai: Nein. Chaos hat keinen Sinn. Denn sonst wäre es ja kein Chaos.
Es kann durchaus Nutzen haben, das ist richtig. Aber der Name dieses Nutzens ist nicht Kreativität.
Da hier jetzt auch seit einiger Zeit ein zweiter Kai Kommentare schreibt, werde ich mich von nun an Kaiser nennen. 🙂
Hadmut kann uns ja sicher anhand der eingegebenen Mailadresse auseinanderhalten, andere Leser aber nicht. Ich möchte nur verhindern, dass es zu Verwechslungen oder gar zu Chaos kommt. 🙂
Naja, der eine Kai ist ja auch viel kaiser als der andere…
Sofern es um den Begriff Kreatives Chaos geht denke ich das dieser verscheiden benutzt wird und dann auch mit unterschiedlichen betonungen.
Ein mal wird er, wie du in deinem Artikel schreibst, als euphemismus für die lebensumstände von Messies benutzt.
Ich kenne ihn diesen Begriff allerdings auch um die Umgebung von kreativen Menschen zu beschreiben die wirklich Kreativ sind, ihre Umgebung aber so eingerichtet haben das sie für aussenstehende wie ein undurchschaubares Chaos erscheint. Für die Person selber hat ihre Umgebung aber eine vollkommen durchschaubare Ordnung.
Nicht jedes Chaos ist auch wirklich ein Chaos. Amazon z.B. hat chaotische Lagerhaltung (kam grad in Quarks & Co.), d.h alles wird grade dort reingepackt wo gerade Platz ist. Für außenstehende unmöglich da betimmte Sachen drin zu finden. Da die alles aber mit barcodes versehen haben und peinlich genau alles in einer Datenbank beim einlagern erfassen, ist es für die auch kein Problem schnell mal die richtigen Sachen wieder herauszuholen.
Von daher ist manches Chaos nicht immer ein wirkliches Chaos.
Allerdings stimme ich dem Grundtenor dieses Artikels zu, daß echtes Chaos keine gute Grundlage für Kreativität ist.
Übrigens habe ich vergessen zu erwähnen, daß die “chaotische Ordnung” in Kinderzimmern immer ein Anlaß für Diskussionen zwischen Eltern und Kindern ist, was davon jetzt Chaos und was Ordnung ist. 🙂
Ich glaube bei dem Begriff “kreatives Chaos” legst du den Maßstab des Mathematikers an, der dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht entspricht.
Kreatives Chaos entspricht wohl eher der Idee die Existenz der Ordnung oder Sortierung als zweitrangig anzusehen und sie von ihrem gesellschaftlich-normativen Selbstzweck zu entbinden. Vergleiche hier den zwanghaften Druck, dass die Wohnung immer aufgeräumt aussieht wenn jemand zu Besuch kommt, ohne dass es irgend eine funktionalen Vorteil hat. Das ist eher der Gegenentwurf zu strengen, schlecht erweiter- oder anpassbaren Ordnungen wie man sie bspw. bei der Bundeswehr in allen Bereichen findet. Nicht dass das dort nicht zweckmäßig oder schlecht wäre, aber eine so strikte Ordnung und Sortierung verlangt nun mal sehr schnell nach aufwändiger Anpassung, wenn neue Elemente oder Verfahren hinzugefügt werden sollen.
Ein halbwegs taugliches Analogon wären vielleicht die Normalenformen bei relationalen Datenbanken. “Echtes” Chaos wäre keine davon, kreatives Chaos so in etwa die dritte oder Boyce-Codd Normalenform und richtige Ordnung fängt irgendwo später an.
Keine Normalenform ist schlicht scheiße, ein sinnvolles Maß i.A. recht gut und noch strengere Normalenformen meist mehr Aufwand als Nutzen. Alles nach der BCNF bevorzugt ja auch eher schreibende als lesende Operationen, was praktisch oft ein Schuss ins Knie ist.
Man könnte es auch mit Ordnungsrelationen vergleichen. Im Vergleich zu einer totalen Ordnung, die den Vergleich beliebiger Elemente direkt ermöglicht scheitert das bei einer partiellen Ordnung. Man könnte die also durchaus “chaotischer” nennen, müsste aber nicht für jedes neue Element einen Arsch voll Tupel hinzufügen.
In der Praxis könnten kreatives Chaos zum Beispiel ein paar Räume in einer Firma sein, die nicht für die üblichen, wiederkehrenden Aufgaben gedacht sind und auch nicht gebucht oder im Vorraus belegt werden können, sondern nach der “ich war zuerst hier” Methode vergeben werden. Das senkt die Hemmschwelle wenn irgend ein Team ganz spontan eine Idee hat und irgendwo ein bisschen Platz braucht, mal einfach was aufzubauen und auszuprobieren. Wenn da vorher Raumbuchung und Verwaltungsaufwand ansteht hemmt das oftmals schon die Umsetzung von irgendwelchen Ideen, weil darauf keiner Bock hat.
(Dieses Beispiel kann natürlich auch gnadenlos nach hinten losgehen…)
Was deine Kritik an der Verwendung des Begriffs angeht will ich dir aber nicht widersprechen. Euphemismus als Lebens- und Kommunikationsprinzip ist seit einigen Jahren so hip und in wie nichts anderes. Ergo nutzt jeder die Gelegenheit seine eigene Unfähigkeit oder Schwäche im Zweifel noch als Pluspunkt zu verkaufen.
Mit dem eigentlichen Ursprung (!= wörtliche Bedeutung) des Begriffs hat das aber nichts zu tun. Man nimmt ihn heute nur gerne als kosmetische Bezeichnung, wie edel oder Premium, was ja auch nicht selten auf den billigsten Produkten ihrer Art klebt.
Ich glaube es geht nicht darum dass Chaos kreativ sein soll, sondern dass darin Kreativität betrieben wird, subjektiv besser als in der Ordnung.
Vor allem das scheinbare Chaos ist eine Ordnung, die nur auf den außenstehenden, der sie nicht versteht, unordentlich, also chaotisch, wirkt. So kann ein Zustand, in dem der eine oder andere besonders gut kreativ sein kann, aus seiner Sicht eine Ordnung sein (ich weiß genau wo meine Sachen sind), nur aus Sicht anderer ein Chaos (mit Kreativität als Folge, also kreatives Chaos, tatasächlich Ordnung unabhängig von einem objektiven Einfluss auf Kreativität).
Gibt es überhaupt ein Chaos oder ist das nur der Begriff dafür, dass wir die dahinter stehende Ordnung und die ihr zugrunde liegenden Prozesse nicht verstehen?
Nicht jede unaufgeräumte Wohnung ist gleich kreatives Chaos. Aber nicht alles, was nach Chaos aussieht, ist ungeordnet.
Ich bin darauf angewiesen, ständig Ideen (manchmal sogar neue) zu haben. Dabei ist es hilfreich, eben nicht nur ein einzigs Ordnungssystem zu haben, sondern möglichst viele verschiedene nutzen zu können. Beispiel: normale Menschen ordnen Wörter semantisch, auf Zuruf auch noch alfabetisch. Ich kann sie dazu noch nach ähnlicher Aussprache und nach Endreim sortieren, und das in 2 Sprachen gemischt.
Dann gibts da das bekannte Phänomen der Serendipidity: zielgerichtetes Arbeiten bringt Resultate, aber nur die geplanten. Hingegen kann mäanderndes Abschweifen und neugieriges Aufnehmen von nicht zum Ziel Gehörendem neue Ideen zeugen. Dies nutzen zu können erfordert allerdings Training, und natürlich sind nur die wenigsten Ablenkungen in diesem Sinne produktiv. In dem, was der eine Chaos nennt, erkennt der andere brauchbare Bilder und Strukturen – auch das aber eine Trainingssache. (Im Kleinen haben das schon viele Maler früherer Jahrhunderte beobahctet, die alle das Betrachten von Rissen ind er MAuer und Flecken an der WAnd empfahlen, da man darin Gesichter oder ganze Schlachtgemälde sehen könne (Eidolatrie, ja, aber erweitert zu einem künstlerischen Werkzeug.))
Außerdem gibts auch in der angewandten Kreativität verschiedene Arbeitsphasen: das Sammeln udn die Inspiration profitiern von einem gewissen Maß an Chaos. Hingegen sind das Ausarbeiten, das Verkaufen und Rechnungen schreiben nur mit einem Mindestmaß an Ordnung und Planung erfolgreich … (Arno Schmidt hat mal das Erfinden und Material sammeln als “heiß”, das Verarbeiten zu einem Werk als “unbedingt mit kühlem Kopf” unterschieden.)
Ich möchte mal die These “Chaos gibt es nicht!” in den Raum werfen. Chaos als Gegenteil von Ordnung setzt ja voraus, dass es einen Zustand ohne jegliche Ordnung gäbe. Wie soll dieser Zustand aber aussehen? Wenn ich mir mein Bücherregal anschaue, so sind die Bücher darin nach Sachthemen geordnet, innerhalb der Sachthemen nach Autor, bei mehreren Werken eines Autors nach Titel. Perfekte Ordnung? Wohl kaum, wenn ich als Ordnungskriterium den ersten Buchstaben des ersten Kapitels … oder die Gesamtseitenzahl … oder die subjektive Qualität des enthaltenen Textes … oder oder oder .. zugrunde legen würde.
Nun kann man aber sagen: Es ist ein Bücherregal! Also sind alle Bücher dort einsortiert (was auch nicht stimmt: Kochbücher stehen in der Küche! ;)), aber wenn ich alle Gegenstände meiner Wohnung hinsichtlich Farbe betrachte, herrscht ein heilloses Durcheinander. Auch könnte ich auf einer genügend großen Fläche alle Gegenstände so verteilen, dass ihr mittlerer Abstand zueinander gleich groß ist. Hinsichtlich dieses Parameters hätte ich dann eine perfekte Ordnung. Auch könnte ich alle Gegenstände alphabetisch ordnen und der Herd stünde unter dem Hochbett. Ordnung kann also nur relativ zu einem Ordnungsalgorithmus verstanden werden und selbst für die nach außen hin offensichtlichste Unordnung existiert ein Algorithmus, der beliebige Gegenstände eineindeutig in dieser Art und Weise anordnen kann.
Früher habe ich oft zu hören bekommen, ich solle doch meinen “chaotischen Saustall” aufräumen. Meine Antwort war schon damals, es handele sich um eine “chronologische Ordnung”: Was ich zuletzt gebraucht hatte, lag obendrauf, selten benutzte Sachen lagen unten. Dazu kam noch das mir damals noch völlig unbekannte Argument des öffentlichen und privaten Schlüssels: Jeder konnte sofort Gegenstände in meinem Zimmer nach dem von mir benutzten Algorithmus ablegen (einfach obendrauf legen, wo gerade Platz war), aber nahezu niemand konnte Sachen wiederfinden, besonders nicht mit fortschreitender Zeitdauer. 😀
Zusätzlich handelte es sich um eine zeitlich variante, selbstverstärkende Verschlüsselung: Je mehr Gegenstände nach einem sehr einfachen Algorithmus abgelegt wurden, desto schwieriger konnte das System geknackt werden. Die für einen erfolgreichen Angriff auf das System benötigten Ressourcen erhöhten sich automatisch mit den im System abgelegten “Daten”, sie wurden also dynamisch an dem zu erwartenden Gewinn angepasst und derart orientiert, einen Angriff stets unprofitabel zu halten.
… oder so! 😉
Ich habe mich im Studium recht ausführlich mit Kreativitätstechniken auseinandergesetzt und für mich das kreative Chaos als Eingabefaktor von Zufallsdaten definiert.
“Nur das Genie beherrscht das Chaos” oder “Ich lebe in einem kreativen Chaos” taugen gerade noch als Aphorismen oder ironische Kommentare zum Lebensstil. Wenn man das Ganze von der Kreativitätsseite aus betrachtet, ist das offensichtlich.
Als kreativer Mensch, und damit meine ich nicht irgendwelche Werber, sondern die Art von Menschen, die Ideen scheinbar aus dem Nichts entwickeln und neue Lösungen zu alten und neuen Problemen finden, als kreativer Mensch also benötigt man gelegentlich chaotische oder besser zufällige Dinge oder Ideen, die die Assoziationsmaschine da oben im Schädel auf neue Gedanken bringt. Für explorative Ideenfindung (“was könnte man noch machen?”) ist so etwas geradezu essentiell und eine etablierte Methode.
Nur in diesem engen Rahmen würde ich von einem kreativen Chaos reden.
@Karl: Und da würde ich dem als Informatiker entgegenhalten, daß das nur zur Hälfte stimmt, obwohl der richtige Gedanke darin liegt.
Nicht das Chaos oder Durcheinander, sondern die hohe Entropie des bunt gemischten sind es, die die Assoziationsmaschine mit Brennstoff versorgen.
Informatiker bin ich auch 😉
Im Rahmen von Kreativitätstechniken (also beim Entwurf und der Kombination derselben) würde ich in der Regel NICHT vom kreativen Chaos sprechen. Die Rede ist dort eher vom Zufallsinput (bspw. Random Entry Idea Generating Tool bei Edward de Bonos Lateral Thinking).
Man könnte das auch so sehen, daß man solche Eingaben erzeugt, die alle Programmzeilen des Codes ausnutzen, oder anders gesagt, daß alle Hirnwindungen und nicht nur einige wenige gekitzelt werden.
Nutzlos ist Chaos sicher nicht. Ansonsten stimme ich diesem Artikel voll und ganz zu. Man kann besser kreativ sein, wenn man vorher Ordnung geschaffen hat.
Aber Chaos hat schon seinen Sinn. Es ist ein guter Gradmesser für: Räum mal auf! Wohnung oder Kopf … egal.