Ansichten eines Informatikers

Vor 50 Jahren: Soziologie als Gesellschaftsmülltonne

Hadmut
29.6.2015 20:40

Ha!

Ein Leser wies mich auf eine SPIEGEL-Artikel von 1969 hin. Darin:

Der Diplomvolkswirt und Fraktionsvorsitzende der SPD, Helmut Schmidt, erklärte am 6. Oktober 1968: “Wir haben viel zuviel Soziologen und Politologen. Wir brauchen viel mehr Studenten, die sich für anständige Berufe entscheiden, die der Gesellschaft auch nützen.” Und sein Koalitions-Genosse, der Wissenschaftsminister und beurlaubte Kieler Privatdozent für Neuere Geschichte Gerhard Stoltenberg (CDU), verkündete mit großer Geste, das Heil von Staat und Wirtschaft hänge zwar von mehr Naturwissenschaftlern und Computer-Experten ab, für ein weiteres Anwachsen der Zahl von Sozialwissenschaftlern bestehe dagegen kein Bedarf.

Sogar Soziologie-Professoren wie der Kölner Erwin Kurt Scheuch fragen nur noch rhetorisch: “Produziert die Soziologie Revolutionäre? Kaum mag noch jemand bestreiten, daß Sozialwissenschaftler den “harten Kern” der studentischen Protestbewegung bilden oder doch wenigstens beleben. Die “Soziologie ist zuerst zum Modewort, jetzt aber zum Schimpfwort geworden”, konstatiert der Konstanzer Professor Ralf Dahrendorf: “Wo der Soziologe vorgestern bestaunt wurde, hebt man heute die Hände in Abwehr und sucht ihn zu verdrängen.”

und

Inzwischen verstopft aber die explosionsartig angestiegene Zahl von Studenten in den Sozialwissenschaften Seminare und Bibliotheken und spottet jeglicher Statistik. Ralf Dahrendorf erinnert sich: “Mancher deutsche Kollege, der vor acht Jahren seinen Lehrstuhl übernahm, war stolz auf die ersten fünf oder zuweilen zehn Studenten, die Soziologie als Hauptfach belegten. Heute gibt es an seiner Universität zwar einen zweiten, auch dritten Lehrstuhl; aber aus den zehn Studenten sind an einer Reihe von Orten fünfhundert, achthundert, tausend und mehr geworden. In der Bundesrepublik gibt es heute mit Sicherheit mehr als 5000, wahrscheinlich etwa 8000 Studenten der Soziologie.”

Das Anwachsen der Zahl sozialwissenschaftlicher Absolventen in den letzten acht Jahren von 828 auf 4000, also eine Steigerung von 400 Prozent, bei den Politologen allein sogar um 1500 Prozent, konstatierte vor wenigen Monaten die Verwaltungsoberrätin Dr. Höhborn von der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung in Frankfurt. Zum Vergleich: Die Zahl der Betriebs- und Volkswirte stieg im gleichen Zeitraum nur um etwa 60 und 90 Prozent. Münchens Soziologe Karl Martin Bolte: “Wir sehen mit offenen Augen eine Katastrophe auf uns zukommen.”

Gründe für die Hausse in Soziologie lassen sich viele finden. Die Kollision mit undurchsichtigen Traditionen und überkommenen Hierarchien mündet für viele Studenten in Unzufriedenheit mit der Väter-Gesellschaft, die sich nur schwer durchschauen läßt und gleichwohl Zustimmung verlangt. Aufklärung wird zur ersten Station beim Wunsch nach Emanzipation, Veränderung; schließlich erzeugt die vordergründige Folgenlosigkeit aller bloßen Theorie Überdruß: ebenso an der Philosophie und Theologie wie an der Geschichte. Soziologie aber verheißt Abhilfe.

Besonders schön auch der:

Hat die Gesellschaft Angst vor den Gesellschaftswissenschaftlern? Vieles spricht dafür: das ungebrochene Juristen-Monopol in den Ministerien und Verwaltungen ebenso wie die schleppende Verabschiedung von Ausbildungs- und Prüfungsordnungen für die Verwaltungslaufbahn von Soziologen und Politologen, der Mangel an Planstellen für angestellte Sozialwissenschaftler ebenso wie Anstellungsbedenken in der Wirtschaft.

Bereits voriges Jahr berichtete ein hoher Kommunalbeamter, mehrere grolle Firmen suchten mit Hilfe von Fragebogen zu erfahren, ob akademische Nachwuchskräfte Soziologie studiert hätten; bekannte sich jemand dazu, wurde er aus der Liste der Bewerber gestrichen.

Und was hat man dagegen getan?

Die Universitäten in der Bundesrepublik und in West-Berlin taten ihrerseits freilich bislang so gut wie nichts, um diesem Mißtrauen gegen die Sozialwissenschaften abzuhelfen. Weder Soziologen noch Politologen mochten sich für ihr Fach auf einheitliche Studiengänge, Fächerkombinationen und Prüfungsordnungen festlegen ebensowenig wie sie das Studium einer späteren Berufspraxis angleichen oder Modelle solcher Berufe entwerfen wollten. […]

Die Verwirrung wird noch dadurch erhöht, daß die lokalen Prüfungsordnungen und Studiengänge häufig revidiert werden und daß es bislang keine öffentliche Registratur gibt, der es auch nur annähernd gelungen wäre, die zahlreichen und phantasievollen Kombinationen von Themen und Titeln festzuhalten. Ein Fachausschuß für Hochschul- und Studienfragen der “Deutschen Gesellschaft für Soziologie” bat zum Beispiel in nunmehr fünfjähriger Arbeit noch nicht erreicht. präzise Informationen über Berufssituation, Studienplanung und Ausbildungsordnungen zu publizieren.

Oder der

Noch heute lehnen Bundesbahn und Bundesbank die Einstellung von Sozialwissenschaftlern gleich welcher Richtung ab; ein Handelskammerpräsident gab zu. entsprechende Empfehlungen zu überlegen, und der Inhaber einer der größten deutschen Privatbanken ließ die Personallisten der letzten Jahre auf Soziologie-Verdächtige durchkämmen.

Und heute hat das Gesindel die Kontrolle über Politik, Hochschulen, öffentliche Verwaltung übernommen und schickt sich an, auch die Industrie zu übernehmen.

Wisst Ihr jetzt, warum die so auf Gleichstellung, Gleichwertigkeit und Quoten stehen?

Weil sie nie verwunden haben, dass keiner sie haben wollte und jeder sie für blöd hielt.

12 Kommentare (RSS-Feed)

Benutzername
29.6.2015 21:37
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Die damaligen Studenten der Soziologie und Politologie sind mittlerweile im Renteneintrittsalter, was haben die eigentlich mit ihren Abschlüssen gemacht? Können ja nicht alle Taxifahrer gewesen sein.


derdiebuchstabenzaehlt
29.6.2015 22:37
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Was wir brauchen, im globalem Wettbererb, sind noch mehr Soziologen und Genderwisseschaftler! Merkt das denn keiner? 🙂


A Stranger in a strange World
29.6.2015 22:42
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> Können ja nicht alle Taxifahrer gewesen sein.

Was sagt der Soziologe ohne Job zu dem Soziologen mit Job?
“Eine Currywurst mit Pommes, bitte.”.


EinInformatiker
29.6.2015 23:51
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Die damaligen Studenten der Soziologie und Politologie sind mittlerweile im Renteneintrittsalter, was haben die eigentlich mit ihren Abschlüssen gemacht? Können ja nicht alle Taxifahrer gewesen sein.

Soweit ich das mitbekommen habe sind die ersten Absolventen (das waren noch 68-er Revolutionäre) als Referenten noch auf ziemlich sicheren Posten bei Gewerkschaften usw. untergekommen. Dann aber gab es eine Krise und es gab keine Aussichten mehr. Man fragte sich damals wo die alle bleiben sollten und meinte, das würde sich verlaufen. Möglicherweise ist die Phase der Aussichtslosigkeit aber irgendwie überwunden worden und es wurden künstlich Stellen geschaffen (wahrscheinlich sinnlose Beratungstätigkeiten, esoterisches Management, Technikfolgenabschätzung statt Technikproduktion, Gleichstellungstätigkeiten, Anti-Diskriminierung usw., alles was zu einer künstlichen Gesellschaft gehört). Aber dazu weiß ich nichts Genaues. Manche haben sich irgendwie alternativ durchgeschlagen in irgendwelchen über undurchsichtige Kanäle staatlich geförderten NGO’s. Alles überflüssig. Müßte natürlich alles verschwinden wenn die Gesellschaft nicht verschwinden soll. Aber ein Problem ist, was soll mit all denen dann passieren. Das Problem ist m. E. dass die Gesellschaft in der Bilanz mittlerweile auf diese künstlichen Arbeitsplätze angewiesen ist. Man kann das vermutlich nicht durch Industriearbeitsplätze ersetzen. Gibt vermutlich weder genug Arbeitsplätze noch genügend Bewerber. Aber das weiß ich nicht. Man müßte das mal mit anderen Gesellschaften (z. B. USA vergleichen).


Masochist
30.6.2015 0:31
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Die Äußerungen von Schmidt und Stoltenberg sind nicht mehr als ein Feigenblatt, waren damals schon nicht mehr.
Die Schwemme von Politologen und Soziologen ist das Fundament der Parteienrepublik. Man kann sie wegen ihrer Berufswahl kritisieren und doch insgeheim begrüßen. Es werden in einer gesättigten Gesellschaft bestimmt nicht weniger.
Die Sozio- und Politologiestudenten sind die willkommenen ideologischen und aktivistischen Arbeitspferde der Parteien an den Universitäten und neben dem Studium in der Restgesellschaft. Wenn sie fertig sind, sind sie eben Soziologen und Politologen, also hinsichtlich einer Befähigung unbeschriebene Blätter – in der Parteienrepublik zu verstehen als “vielseitig einsetzbar”. Manfred Murck, Soziologe, war bis 2014 Präsident des Hamburgischen Verfassungsschutzes. Das geht. In den Verwaltungen ist das kein Einzelfall: Wenn man zwischen den Juristen sucht (die vielleicht wenig, aber immerhin etwas von Verwaltung verstehen), findet man die *logen zunehmend häufiger in Führungspositionen, meist politisch verstrickt, auch als nicht-politischer Beamter. Ein, zwei *logische Besinnungsaufsätze mit passender Überschrift genügen, um sogar exzellente Eignung für den besetzten Fachbereich nachzuweisen. Ansonsten muss der Parteisoldat sich halt methodenkompetent reinfuchsen.


Horsti
30.6.2015 11:23
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Soziologie ist (in weiten Teilen) nur die Institutionalisierung der eigenen, persönlichen Unzufriedenheit. Im Grunde gilt Ähnliches auch für den Feminismus. Und während die Soziologen schon seit Jahrzehnten diese Institutionalisierung durch entsprechende HS-Studiengänge durchgeboxt haben, folgen die Feministinnen jetzt mit den Gender-Studiengängen. Produktiv, im Sinne einer meßbaren Wertschöpfung, sind weder Soziologen noch Genderisten.
Mit Abstrichen gilt das auch für die Pädagogik. Auffallend dabei ist, daß in der öffentlich geförderten Bildung ständig mehr Stellen für Sozialpädagogen geschaffen werden, während der Anteil der echten Wissensvermittler (Betriebswirte, Ingenieure, Handwerksmeister etc.) ständig sinkt.
Darüberhinaus dürfte es eine hohe Korrelation zwischen Berufen ohne echte Möglichkeit der Ertragsmessung und dem weiblichen Geschlecht geben. Das wäre doch mal ein Aufgabengebiet für die Soziologie. 😉


Leonard
30.6.2015 11:39
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DrMichi
30.6.2015 11:56
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Halthalt, nicht alle können absorbiert worden sein. Wir sprechen da von zehntausenden Geisteswissenschaftlern. Diese unsäglichen Gleichstellungs-, Religionsbeauftragten-, Frauen-, und Männerbüros werden nicht von 60 Jahre alten, sondern von Jüngeren oder ganz Jungen, ähm, geführt.
Nein, etwas ganz anderes ist geschehen. In zwei Phasen:
1. Besprochene Krise und “Abwanderung” und “U-Boote” in der Wirtschaft.
2. Erfolg gemäss konservativer wirtschaftlicher Ansicht und Subversion. Beides ist Erfolg im subjektiven Sinne, aber die wirtschaftlich angepassten (die heute verschnödeten “Verräter” der Revolution) sind heute still und freuen sich über ihr Ruhegehalt, Rente und Polster, das sie sich erwirtschaftet haben.
Denn gerade in den ernüchternden, materiell orientierten 80ern wurde Soziologie mit Wirtschaft oder anderem kombiniert, sodass man eben doch die herrschende Ideologie geschickt auszuspielen lernte oder mindestens eine Ahnung davon hatte, was zu tun ist. Und dann obendrein noch einen grossen Batzen verdienen konnte, als Abteilungsleiter, als Führungskraft, als (spätere, mit viel Wehklagen und Krach im Betrieb) Fachkraft oder als (neu aufkommender) Berater. Den in den 80ern studierten Soziologen kamen z.B. auch die Osterweiterung und die .com-Blase gerade recht.
Es gibt also zwei vorherige und eine heutige Generation Geisteswissenschaftler. Aber “to work the system” beinhaltet eben Arbeit, über die die ersten Generationen nicht reden. Prinzipiell lassen die ersten beiden Generationen die heutige einfach hängen und lassen sie in die Sackgasse schlittern, trotz Quote und Pöstchen. In typischer Schizo-Manier wird geredet, aber anders gehandelt. Somit und anders haben die Alt-68er sich dem Leistungsprimat unterworfen und obendrein noch dem Motto: “Geld hat man, aber man redet nicht darüber”, was weit vor dem zweiten Weltkrieg längst aus der Mode kam.

Ich rechne in Europa mit einem neuen Kollektivismus. Der Linke Subjektindividualisierungsquotenfetisch, aber auch das witschaftliche Unding (Konsument, Unternehmer, rational Handelnder) wird weggefegt werden. Die grosse Frage ist dann, ob der Kollektivismus von oben herab oder auf Kooperation beruht.


Günther Adens
30.6.2015 13:00
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In den späteren 60er Jahren haben Dummköpfe erkannt, daß man ohne Mathematik und kognitive Fähigkeiten zu akademischen Ansehen gelangen kann. Die Quasselfächer Sozio- und Politologie waren diesbezüglich die ersten. Heute stehen den Dummköpfen 15.000 Studienfächer ( habe nicht nachgezählt) zur Verfügung, dem wohl demnächst das Fach Alienologie (….was ist zu tun, wenn Außerirdische landen..) hinzugefügt wird


bratpfannendose
2.7.2015 19:47
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Ich glaube, die immer weitere Verblödung an unseren Schulen, die immer mehr auf bloße und billig erzeugte Ausbildungsfähigkeit statt Bildung angelegte Beschulung frisst hier ein wenig ihre Kinder.

Ich interpretiere diesen enormen Zulauf in GW und vor allem Soziologie und so ganz abstrakten Fächern (Literaturwissenschaft, Philosophie) als eine Folge mangelnder Geiestesbildung in der Schule. Damit meine ich nicht, die Schüler sind zu dumm, den Nichtnutzen von zb einem Soziologiestudium zu erkennen – obwohl auch das zutrifft.
Sondern ich meine, Schüler, die sich für ein Studium entscheiden wollen, haben nach dem Flachheits-Bulemielearning-Marathon in der Schule das Begehren nach “Irgendwas mit Denken” oder überhaupt irgend einer Art geistigen Bildung (für Heranwachsende nicht ungewöhnlich) statt einer bloß formalen – auch, weil diese bloß formale Bildung keine ausreichende Orientierung mehr gibt, sondern bloß noch irgendwelche Kompetenzkompetenzen.
Würde man die Schulen wieder mehr dahin bewegen, nicht bloße Ausbildungszentren für billigsten Nachwuchs zu sein, würden in späterem Alter bestimmt nicht so viele Schüler irgend eine Art Lücke in ihrer Geistesbildung empfinden, die sie dann mit einem (leider genauso flachen) Studium zu füllen versuchen würden. Andersrum gesagt: würde man dieses Bedürfnis nach geistiger Bildung schon zu Schulzeiten erfüllen, hätten hinterher lange nicht so viele das Bedürfnis nach einem dies (vermeintlich) besorgendenen Studium.

Bis in die 80iger hinein war an Gymnasien Philosophie ein Standardfach, teilweise ähnliches auch an unteren Schulen. Ich hatte in meiner Schulzeit (12 Jahre zu Ende) nicht mal die Möglichkeit Philosophie zu wählen, hatte dafür aber einen gesonderten Wirtschaftsunterricht – in dem mir der unendliche Segen von Euro und EU gepredigt wurde, ich aber nicht mal Währungskurs-Umrechnung gelernt habe, geschweige denn irgendwas über die Relevanz dieser Sache. Auch gibt es inzwischen Schulen, an denen Kunst oder Musik nur noch sporadisch angeboten wird.

Den Run auf die GW interpretiere ich auch als eine Folge unseres geistig immer unbildsameren, kaum noch befriedigenden Schulsystems, dessen einziges Kriterium irgendwas mit “billig” ist.

Schön beschrieben auch in diesem Artikel der WELT
http://www.welt.de/vermischtes/article118147140/Auf-dem-besten-Wege-in-die-absolute-Verbloedung.html

(Der Artikel ist auch etwas flach zb wenn er kritisiert, es haben zuviele naturwissenschaftliche und betriebswissenschaftliche Inhalte Eingang in die Lehrpläne gefunden: das mag quantitativ stimmen, qualitativ wurde aber, würde ich meinen, alles abgesenkt, auch das Niveau der NaWi und WiWi-Inhalte in den Schulen).

Wir haben inzwischen ein Bildungssystem, das nur noch durch die Selbstaufopferung einiger Idealisten wirklich etwas hervorbringt und gleichzeitig das Problem, das wir immer weniger dieser Idealisten in den Bildungsstätten haben (weil die aufhören oder ihren Idealismus verlieren).


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