Willst Du was essen?
Wie ich von einer Dreijährigen an die Wand gespielt wurde.
Ich hatte ja neulich beschrieben, wie schwer es ist, in Berlin einen Termin beim Augenarzt zu bekommen. Gestern abend war’s endlich so weit.
Ich war etwas früher da, musste etwas warten, und wegen des Apparate-Parcours (Gucken sie hier, drücken sie da, schauen sie nach links, Vorsicht, gleich bläst’s…) auch immer wieder zurück ins Wartezimmer. Ich habe – in mehreren Etappen – über eine Stunde im Wartezimmer verbracht und da auf einem Sessel in der Ecke gesessen.
Nun war da eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter. Eigentlich süß, sehr lieb und sehr kontaktfreudig (also die Tochter). Aber halt auch so ne Nervensäge, Energiebündel, eine, die keine drei Sekunden still halten kann. Und für so ein Kind ist das Warten im Wartezimmer unerträglich langweilig. Und sie war das einzige Kind. Also hat sie da rumgetobt.
Jetzt gab’s da – direkt neben meinem Sessel – so einen Spielbereich. So ne Kinderküche mit Spielzeug, Küchengeräten und Lebensmittelattrappen aus Plastik und lackiertem Holz. Kuchen aus Holz, Salamiwürste aus Plastik und sowas. Im Prinzip wie Bauklötze für Mädchen. Oh, die Kleine war voll in ihrem Element und deckte zum Leidwesen der Mutter den Kindertisch mit allerlei Geschirr und Pseudolebensmitteln, bis er komplett voll war. Mutti war genervt.
Da ich der nächstsitzende war und ansonsten nur alte Damen anwesend waren, die nicht so aussahen, als ob man mit ihnen spielen könnte, erkor sie mich als ihren Spielkameraden aus. Mir war eh langweilig, die Kleine eh von der Sorte, die man trotz allem irgendwie ins Herz schließt, und Mutti war nur noch froh, dass sie mal jemand anderen als sie nervt.
Eigentlich hatte ich das Mädchen so auf mindestens vier, eher fünf geschätzt, weil sie schon in Grundschülergröße und sehr schlank, dem Babyspeck entwachsen war, außerdem sprachlich sehr gewandt, gewählt, schlagfertig, eloquent, wortschatzmächtig war, auch in der Bewegung schon fortgeschritten, und sie die Buchstaben schon alle runterrattern konnte. Sie sagte mir dann aber, als ich sie später mal fragte, dass sie 3 Jahre alt wäre und gerade in den Kindergarten komme. Sie würde, darauf legte sie großen Wert, „bald 4”, das dauere aber noch „ganz, ganz, ganz lange!”. Ich war sehr verblüfft, wie da diese Dreijährige auftrat.
Sie kam also einfach auf mich zu, um mich für ihr Spiel einzuspannen.
„Willst Du was essen?”
Die Aussicht, den dem Kinderspielzeug zu lutschen, fand ich jetzt nicht so prickelnd, aber man kann so einem Kind ja nun auch nicht frontal sagen, dass man nicht will. (Vielleicht schon, aber ich verkneife mir fremden Kindern gegenüber den Erziehungsgedanken, das soll Mutti schön selbst machen. Hat sie ja auch immer wieder.) Wie also sagt man nun kinderdiplomatisch, dass man nicht am Spielzeug kauen will, ohne die Kleine zu enttäuschen?
Mir kam der Räuber Hotzenplotz in den Sinn. Ich habe meinen Bauch so weit rausgestreckt, wie ich konnte, habe mir mit beiden Händen die Wampe gerieben und mit tiefer Stimme gebrummt, ich wär schon so dick und fett und satt, ich würde noch platzen.
Die Kleine stellt sich völlig ungerührt vor mich hin, betrachtete skeptisch und stirnrunzelnd meinen Bauch und verkündet dann in Wissenschaftler-Tonfall ihre Diagnose:
„Da musst Du aufpassen. So kriegst Du noch ein Kind!”
Die beiden alten Schachteln zu meiner linken kringelten sich vor Lachen. Ich zog den Bauch wieder ein. Das hat nicht funktioniert.
„Du musst jetzt was essen!”
Und schwups hielt sie mir zwei Plastik-Toast-Scheiben vor den Mund, zog sie aber gleich wieder zurück. „Was willst Du denn drauf haben?” Äh, ja, äh, was nimmt man in so einem Fall? Was ist möglichst harmlos? „Ananas! Du bekommst Ananas!” Sprach’s und packte mir 5 gelbe Holzscheiben in Ananas-Design zwischen den Plastiktoast zum Hammer-Sandwich.
„Guten Appetit!”
Die zwei Schachteln feixten.
Was macht man nun, um das Kind nicht zu enttäuschen?
Ich habe so getan, als ob ich das esse. Den Stapel gehalten wie einen Toast, extra breit gekaut wie ein Nilpferd. Und immer, wenn sie mal nicht guckte, ein Teil unauffällig zur Seite gelegt, so dass das immer weniger wurde, als ob ich es gegessen hätte. Als ich fast fertig war, guckte sie mich direkt an, sehr skeptisch und zweifelnd. Sagte ausnahmsweise aber mal nichts und ging dann erst mal weg.
Inzwischen hatte ich Durst, nahm eine Mineralwasserflasche aus meiner Tasche und trank einen Schluck.
„Warum hast Du das getrunken?”
Na, weil ich Durst habe.
„Warum hast Du Durst?”
(Wie erklärt man das? Ich wollte im Spiel bleiben.) Na, weil ich doch gerade eben gegessen habe. Wenn man Toast isst, wird man durstig.
„Bist Du dumm! Das ist doch nicht echt! Hast Du das etwa gegessen!?”
So.
Jetzt stehste ganz blöd da.
Besiegt von einer Dreijährigen.
Die alten Schachteln platzten fast. Wer den Schaden hat…
Erst zog die Kleine ab, ging zu Mutti. Kurz drauf überlegte sie es sich anders, kam zurück, stimmte ein Triumphgeheul an, hüpfte und tanzte wie eine Rothaut beim Kriegstanz um meinen Stuhl herum und sang „Ich hab Dich veräppelt! Ich hab Dich veräppelt! Ich hab Dich…”
Es gibt so Tage, an denen hat man einfach keine Chance.
Was meint Ihr, wenn die mal 5 ist.