Ansichten eines Informatikers

Die G.A.S.-Krankheit

Hadmut
20.11.2016 19:29

Wusstet Ihr, dass es für Fotografen eine eigene Krankheit gibt?

Und dass die Krankheit sich sogar von einer Spezies zur anderen übertragen hat?

Ursprünglich war es nämlich eine Musiker-Krankheit. Das Guitar Acquisition Syndrome. Leute haben sich zwanghaft neue, überflüssige Gitarren gekauft, weil sie meinten, damit könnten sie besser spielen und mit ihrer alten Klampfe seien sie nichts mehr wert.

Hat sich generell auf technikaffine Bereiche übertragen, aber besonders (Amateur-)Fotografen scheinen dafür anfällig zu sein: Das Gear Acquisition Syndrome. Bin ich zufällig auf einer Webseite drüber gestolpert. Nie davon gehört, aber erstaunlich, wieviele Webseiten und Videos es dazu gibt. Googelt mal.

Beschreibt den Effekt, dass Leute Unmengen von Geld dafür ausgeben, sich überflüssiges Zeug zu kaufen, und dann bestenfalls ihr Bücherrregal für Probeaufnahmen damit zu fotografieren. Weil es halt so schön ist, sich neues Zeug zu kaufen und es auszupacken. Es geht gar nicht darum, das Zeug zu benutzen, sondern es zu besitzen.

Ich kenne Leute, die definitiv darunter leiden. Wobei – jeder Fotograf und irgendwo auch jeder Informatiker ja ein bisschen davon hat. Die Frage ist nicht ob, die Frage ist, wie sehr.

Gut, ich habe auch schon Dinge gekauft, die ich hinterher nicht benutzt habe, aber eher, weil mir einfach die Zeit gefehlt hat, nicht weil ich damit nichts anfangen konnte oder wollte. Ich habe ein ganz wunderbares mobiles starkes Blitzgerät, nicht ganz billig, das ich noch nie außerhalb von Tests eingesetzt habe. (Was jetzt allerdings auch nicht ganz stimmt, weil ich es schon dreimal dabei hatte, und eben erst vor Ort sehen konnte, ob ich es brauche oder nicht. Ist halt manchmal so. Eigentlich blitze ich nämlich gar nicht gern.) Und wenn andere saufen und rauchen, ist ein Objektiv-Kauf im Vergleich auch nicht ganz schlecht.

Der Punkt ist aber: Man sollte zumindest thematisch eine Vorstellung davon haben, was man eigentlich machen will, daraus ableiten, was man haben will und dann auch irgendwann mal einsehen, dass man jetzt erst mal fertig ist mit kaufen, weil man hat, was man brauchte.

(Es gibt allerdings, besonders auf weiblicher Seite, auch den gegenteiligen Effekt: „Was, Du kaufst noch ein Objektiv? Wieso denn das? Du hast doch schon eins!” Deshalb geht ja der Trend auch wieder weg vom Zweitbuch.)

Interessant ist aber, dass von dieser „Krankheit” fast nur Männer betroffen sind.

Angeblich.

Ich glaub das nicht. Bei Frauen dürfte sich das eher in Schuhen oder Handtaschen äußern. Stehen vorm vollen Kleiderschrank „Wäh, ich hab’ nichts anzuziehen”. (Passende Antwort: Schatz, dann gehen wir heute in den Swinger Club, da kannst Du nackt hin. Sollt mal sehen, wie schnell die angezogen ist.)

Interessanter und glaubwürdiger ist aber, dass das mit der Digitalisierung entstanden und von den Herstellern systematisch ausgenutzt wird.

Denn früher, so in der guten alten analogen Zeit, gab’s nur wenig Auswahl an Kamerazubehör, und eine Kamera hat dann so 10 oder 20 Jahre gehalten. Und nicht nur gehalten, auch die Produktzyklen waren so. Die großen Hersteller haben nur alle 5 bis 10 Jahre mal einen Produktwechsel gemacht.

Und heute?

Kaum haste eine Kamera gekauft, kommt das nächste Modell mit x mehr Pixel und n mehr Firlefanzen auf den Markt. (Obwohl: der schnellere Autofocus ist schon geil…)

Und dann natürlich das Auspacken als Orgie. Schon mal erlebt? Verpackung wie eine Schatztruhe, ausgepackt steht das Ding dann schnöde und unscheinbar auf dem Tisch herum. Wird ja sogar mit „Unpacking-Videos” zelebriert. Hab ich nie verstanden. Leute machen keinen Bericht über ihre Kamera oder ihren Computer, sondern darüber, wie sie sie auspacken. Das In-Empfang-Nehmen als Event. Aus dem Leben eines G.A.S.-Kranken. Gibt’s ab und zu auch vor dem Apple-Store.

Und wird natürlich von den Werbeexperten speziell angesprochen.

Könnte man auch unter dem Begriff „Medienkompetenz” ablegen.

Bemerkenswerterweise scheint es aber vorrangig solche Leute zu betreffen, die realtiv schlecht fotografieren (oder Gitarre spielen) und deshalb meinen, sie könnten ihre Bilder noch einen ticken verbessern, wenn sie sich das neueste Modell oder die X-Variante eines Objektivs holen. Ich hab schon Leute auf Workshops und auf Reisen erlebt, die eine dicke teure Kamera rumschleppen, mit der aber hoffnungslos überfordert waren und heimlich Postkarten abfotografiert haben, weil sie selbst keine Bilder hingekriegt haben. Ich war mal in der analogen Zeit auf Aktworkshops (auch als „Rudelschießen” berüchtigt, aber so lernt man halt erst mal, mit Blitzanlage, Studio, Model usw. umzugehen, bekommt vor allem die anfangs nötigen Denkpausen). Da war es zwar ratsam, seine Ausrüstung mit Namen zu beschriften, aber nicht, weil Ausrüstung von anderen gestohlen würde, höchstens versehentlich eingepackt, wenn zwei die gleiche Ausrüstung haben. Aber die belichteten Filme wurden gern gestohlen, weil die Leute selbst nichts zustandebrachten und sich ohne ordentliche Bilder nicht nach hause trauten, wo doch die Ausrüstung so teuer war.

Ich habe mal einen erlebt, der hatte von allem das Teuerste. Ausrüstung im Preis eines Luxusautos. Und war nicht in der Lage, die Ansage zur Belichtungsmessung zu verstehen. Blende 11 bei 100. Wollte der nicht einsehen. Der war der felsenfesten Meinung, die Blende, die er zu verwenden habe, hänge vom Film ab (stimmt sogar, nämlich von dessen Empfindlichkeit, hier eben 100), und stünde deshalb auf der Filmpackung. Ich habe ihn mal gefragt, wo das steht, er solle es mir mal zeigen. (Steht nämlich natürlich nicht drauf.) Darauf wollte er sich nicht einlassen. Hat aber einfach das Fotografieren nicht begriffen. Und wer nicht mal so elementare Dinge verstanden hat, aber mit der dicksten Kamera rumläuft…

Ich hatte mal mit einem zu tun, der etwa beim Mittagessen gerne die dicke Spiegelreflex zum Angeben auf den Tisch gelegt hat. Um dann tatsächlich ein Foto zu machen hat er ganz verstohlen die Taschenknipse mit Vollautomatik aus der Sackotasche gepuhlt, weil er mit der dicken Wumme nicht umgehen konnte und die nicht in Gang gekriegt hat. Bedienungsanleitung zu lesen ist sowieso aus der Mode.

Dummerweise befördert das nun wieder die überaus törichte Laienansicht, dass es auf die Kamera nicht ankäme, der Fotograf mache das Bild. Das sind meistens Leute, die einfach schwafeln und gar nicht merken, was ein Bild so gut macht, dass es die Zuschauer fängt. Es braucht beides, Fotograf und Kamera. Die Frage ist immer, was das limitierende Element ist. Das sollte man zuerst erkannt haben.

Ich bin ja vor 8 Jahren von meiner alten ausgeleierten Studenten-Billig-Ausrüstung auf eine professionelle Nikon-Ausrüstung umgestiegen, weil mich die Ausrüstung qualitativ zu sehr beschränkte.

Die Objektive halten wie in der guten alten Zeit locker 10 Jahre (ich habe die teuren seit 8 und sehe außer ein paar äußeren Abnutzungserscheinungen keine wesentlichen Ermüdungserscheinungen außer etwas Staub im Inneren), eher mehr. (Was den Kaufpreis übrigens sehr relativiert.)

Und seither weiß ich, dass nicht mehr die Kamera, sondern wieder ich selbst das qualitätsbegrenzende Element bin. Und wisst Ihr was? Seitdem geht’s mir besser. Weil ich seitdem nämlich Bilder durch Lernen und Übung verbessern kann. Macht mehr Spaß. Ich kann mir überlegen, wie ich das besser mache und denke nicht ständig „Scheiß Kamera…”.

Und deshalb halte ich auch jeden für einen unwissenden Schwätzer, der meint, es käme nicht auf die Kamera an, sondern nur auf den Fotografen. Man könnte auch sagen: Solche Leute haben noch nie so gut fotografiert, dass die Ausrüstung jemals das Limit gewesen wäre. Und es deshalb völlig egal ist, womit sie fotografieren.