Ansichten eines Informatikers

Bin ich mit dem Kopf durch die Wand?

Hadmut
10.2.2018 19:30

Oder ist mir doch eine Wand durch den Kopf gegangen? Ich bin mir nicht ganz sicher.

Mein Samstagnachmittagseinkauf. Seit längerem mal wieder zu IKEA. Ich brauchte für niederträchtige Zwecke noch ein Lack TV-Tischchen, und das ist nicht nur passend niedrig in der Höhe, sondern auch niedrig im Preis (und wie ich zu bereits im Haushalt befindlichen Exemplaren sagen kann: Auch preisangemessen niedrig in der Qualität, auf der Oberfläche hinterlassen meine Blicke schon Kratzer).

Wie ich also so durch die Verkaufsmäander tappe, mir steckt meine Erkältung noch etwas in den Knochen, sehe ich da eine Kombination aus zwei Dingen, die mich zusammen unwiderstehlich anziehen: Ein bequemer breiter Sessel (mal hinhocken…) und eine Oculus VR-Brille, die da fest angekabelt ist.

Nun war diese Brille rein hygienisch gesehen mit Sicherheit inakzeptabel, weil mit Sicherheit schon 10.000 Leute vor mir das Ding aufhatten, aber bei Informatikern sind Neugier und Spieltrieb eben enorm ausgeprägt und ich wollte mich ja sowieso gerade mal setzen.

Im ersten Augenblick dachte ich, die Brille wäre kaputt oder die Software abgestürzt. Auf dem rechten Auge sehe ich ein Wohnzimmer wie aus dem IKEA-Katalog, auf dem linken Auge nur seltsame Linien. Erst eine Kopfbewegung brachte die Lösung: Links neben mir – oder besser gesagt in mir – stand ein Schrank, und die Brille hatte mich genau so im Raum positioniert, dass die Schranktür genau durch meinen Kopf ging. Deshalb sah mein rechtes Auge ein Wohnzimmer, während sich mein linkes Auge innerhalb eines Stapels Bücher befand. (Um es vorweg zu nehmen: Ich musste mich beim weiteren Gang durch die Möbelausstellung zusammenreißen, um nicht zu versuchen, nochmal meinen Kopf durch irgendwelche Schrankwände durchzustecken um den Schrank von innen zu sehen – hätte blöd ausgesehen und wäre schwer zu erklären gewesen. Aber wenn man sich erst mal dran gewöhnt hat, ist es verführerisch.)

Dass der IKEA Katalog schon lange nicht mehr echt, sondern in weiten Teilen gerendet ist, hatte ich vor ein paar Jahren schon mal gebloggt. Sollte heute eigentlich jeder wissen. Und auch in den Online-Shops sind heute viele Produktfotos in Wirklichkeit gerechnet, mir fällt das vor allem bei Kameras und Autos häufig auf. In einer Fotozeitschrift haben sie das mal für Armbanduhren beschrieben. Eine Armbanduhr richtig und durchgehend scharf zu fotografieren ist nämlich richtig schwierig bis technisch nicht möglich, das aber zu rendern überhaupt kein Problem. Und Probleme mit Staub, Fusseln, Kratzern und Fingerabdrücken hat man da auch nicht.

Das also so fortzusetzen, ist zwar konsequent, aber doch verblüffend.

Und das Bild sah doch erstaunlich echt aus. Nein, sah es nicht, natürlich sah es nicht echt aus, aber es sah so unecht aus, dass ich den Eindruck hatte, das Unechte käme von der Brille, weil deren Auflösung doch noch begrenzt ist und ich die Pixel doch sehr deutlich gesehen habe, und die Farbabstufungen noch nicht so der Brüller sind, das sieht alles noch so einen Ticken nach Plastik aus. Ich habe aber neulich auf einer Webseite Maklerfotos von Wohnungen und Häusern im Verkauf gesehen, und die haben mit irgendeiner Technik dort VR-Aufnahmen gemacht, mit denen man sich per Webbrowser VR-mäßig und mit dreidimensionalem Drehen umschauen konnte. Da habe ich mich erst gewundert, was die für komische Flecken im Teppich hatten, so ungefähr jeden Meter war einer. Das waren aber keine Flecken, sondern die Markierungen für die Standpunkte, an die man sich begeben konnte, quasi Schritte machen. Und von da in alle Richtungen schauen. Also im Prinzip eine Verkettung von 360°-Panorama-Aufnahmen. Was eine Sau-Arbeit gewesen sein muss, denn es war nicht nur keine Person zu sehen, sondern auch kein Stativ. Und wer sowas schon mal gemacht hat, weiß, dass schon die normalen Aufnahmen viel Arbeit sind, besonders die Nadiraufnahmen, und das dann fehlerfrei hinzukriegen – Respekt. Und das dann mit gefühlt über hundert Aufnahmen auf zwei Etagen in allen Zimmern – Menge Arbeit. An diese Aufnahmen haben mich die IKEA-VR-Bilder nun erinnert. Natürlich waren sie nicht ganz gleichwertig, und natürlich hatte das Erlebnis mit dem Kopf im Schrank schon gleich klargestellt, dass das alles gerendert ist. Aber ein allzugroßer Qualitätsunterschied zu den echten Makleraufnahmen war da nicht zu sehen, von der Auflösung mal abgesehen waren die IKEA-Bilder sogar eher besser. Auch weil man sich beliebig bewegen konnte. Auch ein Blick aus dem Fenster – offenbar eine Balkonwohnung so im vierten Stock oder so – zeigte eine sehr realistische Sicht auf die Straße und die Häuser gegenüber.

Und man konnte den Raum verändern. Schaute man auf gewisse Gegenstände, etwa den Fußboden oder Schränke, dann erschien – so in der Luft schwebend – ein Auswahlmenü, in welchen Farben man das bekommen konnte. Anklicken durch Anglotzen. *Plopp* änderten Schränke oder Fußböden die Farbe. Und dann wirkte der Raum ganz anders, wenn die Schränke nun schwarz mit gelben Griffen statt holzfarben waren. Lampen, die an der Decke hingen oder rumstanden, konnte man durch anglotzen ein und ausschalten, natürlich mit Lichtschein. Und in jedem Raum hing ein Pfeil in der Luft, mittels dessen man sich durch anglotzen in den nächsten Raum teleportieren konnte. Küche, Schlafzimmer und so.

Im Prinzip kennt man sowas aus Küchenstudios, da kann man die Küche auch längst virtuell entwerfen, bevor man sie baut. (Kennt Ihr den Film über McDonalds? Die haben ihre Küchen erst mal in einer Lagerhalle mit Kreide auf den Boden gemalt und dann solange Arbeitsabläufe gespielt und getestet, bis alles gepasst hat, bevor sie sie tatsächlich gebaut haben.)

Viel konnte man da jetzt noch nicht machen, aber das hat schon mal Spaß gemacht.

Und da ging mir dann – außer einem Bücherregal – durch den Kopf, dass das eine Anwendung sein könnte, für die man schnelles Internet braucht, schneller als die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, weil man interaktiv beispielsweise in andere Räume geht, die der Rechner noch nicht kennt, und die dann bitteschön im Moment des Türöffnens nachgeladen werden. Kommt halt drauf an, ob man das dann überhaupt noch lokal rendert oder doch in einer Farm, und dann nur das fertige Bild nach Hause pumpt.

Auf dem Rückweg musste ich dann auch an eine Art Simulation denken, das wir damals an der Schule auf einem Pet 2001 und CBM 3032 laufen hatten. Man könnte per Cursortaste durch ein Labyrinth gehen und sah immer – was halt mit den Graphikzeichen so ging – die jeweiligen Linien eines quaderförmigen Gangstückes. Einfach nur vier einfarbige Linien pro Gangsegment und jeweils ein Gangsegment voraus, an dem man dann gerade so sehen konnte, ob man rechts oder links gehen konnte oder da eine Wand war. Und heute läuft man durch realistisch gerenderte, voll eingerichtete Wohnzimmer. Durch.

Was mir allerdings auch noch durch den Kopf ging: Sowas könnte leicht auf eine Entwöhnung von der Realität hinauslaufen. Ich weiß nicht, ob Euch das auch so geht, aber mir fällt es immer sehr leicht, mich an etwas neues zu gewöhnen, dann aber plötzlich schwer, mich wieder an den alten Zustand zurückzugewöhnen. Beispielsweise ein Mietwagen. Ich gewöhne mich innerhalb von Minuten an ein neues oder fremdes Auto, aber steige ich danach wieder in mein eigenes Auto, kommt mir das eher seltsam als vertraut vor. Ich spiele eigentlich nie Computerspiele, ich mache mir daraus nichts. Ich war aber vor über 10 Jahren mal bei bei einem Kumpel auf einer Fete, der sich gerade eine neue Videokonsole gekauft, aber nur ein Spiel hatte, in dem man mit einem Auto wie eine gesengte Sau durch die Stadt rasen und versuchen muss, nicht von der Polizei geschnappt zu werden. Ja…mmh…war mal ne halbe Stunde ganz lustig, hat auch Stimmung gemacht, hätte mich jetzt aber auch nicht animiert, mir sowas zu kaufen. Als ich dann aber später ins Auto gestiegen bin, um nach Hause zu fahren, habe ich gemerkt, dass ich dem Drang widerstehen musste, da jetzt wie eine Sau loszurasen, weil ich mich innerhalb weniger Minuten an diesen Fahrstil gewöhnt hatte. Dieses Einzelerlebnis ist übrigens auch der Grund, warum ich den Aussagen, dass Ballerspiele nicht aggressiv machen, nicht glaube.

Als ich vorhin die Brille abgesetzt habe und wieder durch die herkömmliche Möbelausstellung schlenderte, da kam mir – ein ähnlicher Effekt – die Realität so schnöde, langweilig und altmodisch vor, weil man Farben eben nicht durch Hingucken ändern und Lampen nicht einschalten konnte, und ganz tief drinnen in mir verspürte ich eine gewisse Lust, in Schränke zu gucken, indem ich einfach den Kopf durch die Wand stecke.

Wenn wir heute schon darüber klagen, dass Handys und Computer eine nachwachsende Generation bekloppt machen, könnte der dicke Hammer erst noch bevorstehen. Das könnte noch richtig heikel werden. Ungefähr zu meiner Abiturszeit haben wir noch leidenschaftlich gerne „Schwarzes Auge” gespielt. Noch so herkömmlich, mit Papier, Kugelschreiber, Würfeln und alle an einem Tisch. Computer gab’s noch nicht (aber mir wurde berichtet, dass einer in einem anderen Spielkreis einen Zauberer hatte und dazu einen Sharp PC-1210 in Basic programmiert hatte, auf Tastendruck einfach einen zufällig ausgewählten aus einer Liste von Zaubersprüchen anzuzeigen, und damit einen Zauberer baute, der nur unvorhersehbare, zufällige Zaubersprüche ausführen konnte, was zwar nicht immer zum Erfolg, aber fast immer zu Heiterkeit führte).

Stellt Euch mal vor, die Leute bekommen so eine Superman-App, mit der sie einfach losfliegen oder mit einer Hand Straßenbahnen anhalten können, und sie gewöhnen sich daran.

Ich bin mal gespannt, wann der erste stirbt, weil er Virtuelle Reality und Echte Reality verwechselt hat. Falls das nicht sowieso schon längst passiert ist. Mal drauf achten, ob bei IKEA Leute mit dem Kopf gegen Schränke stoßen.