Update zur Schweizer Rechnung
Ich hatte doch über die Schweizer Rechnung geschrieben, die deren Sozialhilfe mit dem durch Arbeit erzielbaren Einkommen vergleicht.
Ein Schweizer hat mir dazu geschrieben, im verlinkten Zeitungsartikel hätte auch nur die halbe Wahrheit gestanden. Ein Update sei erforderlich.
Er schreibt mir, dass Sozialhilfe dort quasi nur ein Darlehen ist:
Hallo Herr Danisch
da es die NZZ mal wieder unterlassen hat ein wichtiges Faktum aufzugreifen, möchte ich, als Schweizer, darauf hinweisen (ist ein Update des Blogartikels wert!):
JEDE Leistung, die von der Sozialhilfe übernommen wird (jeder einzelne Franken), ist hier in der Schweiz Rückzahlungspflichtig!
D.h. wenn jemand aus der Sozialhilfe heraus eine Arbeit finden (was selten genug ist, hier gilt noch immer “niemand wird ohne Grund Arbeitslos” (Fire/stay fired, statt Fire&Hire)), wird der neue Lohn dem Sozialamt ausbezahlt, welches jenen auf Sozialhilfe-Niveau runterpfändet, und die Differenz ausbezahlt.
So hat man dann zwar einen Job mit höherem Lohn als die Sozialhilfe, aber nur genau das Einkommen ebenjener – aber Mehrkosten, weil den Arbeitsweg etc hat man nicht vom Amt vergütet…
So gesehen hat die NZZ mit “die Leute können rechnen” recht – viele rechnen vor Stellenantritt genau nach, wie lange sie UNTER Sozialhilfe-Niveau bleiben müssen, ehe sie wieder normal leben können. Als Beispiel: ein Einkommen auf Existenzminimum ist in der Schweiz im Durchschnitt 2300 Franken im Monat. Ein Verdienst nach langer Arbeitslosigkeit geht bei 3800 Franken (Brutto) los (WorkingPoor-Level 3500). …nun kann man einen Graphen erstellen; mit “Anzahl Monat Sozialhilfe < -> Anzahl Monate mit gepfändetem Lohn”, um zu sehen, wie lange es einem mit Arbeit echt dreckig gehen wird.
Die Sozialhilfe ist kantonal Geregelt, jeder Kanton hat sein eigenes Gesetz. Zwei Kantone, meines Wissens Basel-Stadt und Zürich, verzichten trotz der Pflicht auf die Rückzahlung. Andere Kantone pfänden den Lohn erst ab einer gewissen Höhe, andere bestehen nur auf einen Teil der ausbezahlten Sozialhilfe (bsp. nur 30’000 Franken zurückzahlen obwohl mehr bezogen etc); ist bei 26 Kantonen etwas unübersichtlich, obwohl KESB die 26 unterschiedlichen kantonalen Sozialhilfegesetze hätte standartisieren sollen.
Hier als Beispiel die rechtlichen Grundlagen meines Heimatkantons (und ja – die verlinken auf ein .doc… Behörde hald): https://sozialamt.tg.ch/hauptsektor-3/rueckerstattung.html/5412
Da ist das deutsche Hartz IV humaner: findet man einen Job, kommt man wenigstens aus dem “Sozial-Sumpf” raus. Auch kann man zu einem geringen Lohn als H4 arbeiten und “Aufstocken” – denn jeder Job ist besser als rumzugammeln.
…hier in der Schweiz ist man “der Gear…schte” wenn man einen Job findet. Denn lehnt man so einen ab (wg. der Rückzahlung), und war dieser vor dem Gesetz “zumutbar”, kann das Sozialamt zusätzlich Sanktionen ergreifen… Trotz Lohndruck (gerade in den Grenzregionen zur EU extrem – Deutsche und Franzosen haben geringere Lebenserhaltungskosten und müssen nicht soviel Zahlen wie jmd der in der Schweiz lebt) gibt es keine Möglichkeit “aufzustocken”, sodas der letzte Anreiz fehlt um einen Job anzunehmen; ob nun 100% mit Lohndruck (wo’s auch ohne Lohnpfändung schon eng wird), oder Teilzeit – jeder zumutbare Job bewirkt das Ende der Sozialhilfe. Obwohl jeder weis: mit einem 20%-Job lässt sich das Leben nicht finanzieren…
Tja, wie die NZZ sagte: “die Leute können rechnen”; aber gleichzeitig unterlässt die NZZ die wahren Gründe, warum Langzeitarbeitslose hier eben SEHR lange Arbeitslos bleiben: wenn’s einem dreckig geht, will man die Situation eben nicht noch verschlechtern. Würde die Rückzahlungspflicht abgeschafft und ein Teilzeitjob nicht zum Ende der
Sozialhilfe führen, sähe die Situation sehr viel anders aus…Freundliche Grüsse aus der Schweiz
Hu. Das ist hart.
Aber ich finde es überaus interessant und mich würde da mal ganz enorm eine spiel- und entscheidungstheoretische Betrachtung interessieren:
- Was ist für den Staat strategisch günstiger, Sozialhilfe als reine Gabe oder als rückzahlungspflichtes Darlehen?
- Wann und für welche Zeiträume ist es für den einzelnen günstiger, sich Arbeit zu suchen oder Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen?
Denn das hört sich ja so an, dass man da kaum noch wieder rauskommt, wenn man da einmal drinsteckt. Wenn man da mal drin ist, könnte das ein schlimmer Fehler sein, da überhaupt wieder raus zu wollen, also nie wieder zu arbeiten, wenn man da erst mal in dieser Schuldenfalle steckt. Das kann leicht darauf hinauslaufen, dass man Leute dann lebenslang finanzieren muss, weil sie da nicht wieder raus wollen. Die interessante Frage ist, ob die Rückzahlungen die Kosten für solche Ewigkeitsfälle aufwiegen können.
Andererseits aber könnte eine so bedrohliche Situation dazu führen, dass das weniger Leute überhaupt erst in die Sozialhilfe gehen und nicht wie bei uns manche Hartz IV als Beruf erlernen.
Überaus interessante taktische Problemstellungen. Und wohl gar nicht einfach zu beantworten.