Die Sache mit dem Teleobjektiv
Leser weisen auf eine Falle hin.
Leser wiesen mich auf diesen Artikel und dieses Bild hin, die zeigten, wie man durch die Wahl des Objektivs (genauer: der Brennweite), namentlich eines Teleobjektives, Personen, die eigentlich weit auseinanderstehen, verdichten kann und den Eindruck erwecken, dass sie dichter beinander stehen als sie es tatsächlich tun.
Ja.
Weiß ich.
Ratet mal, warum ich auf Reisen ein teures, großes, schweres 70-200/2.8 mit mir herumschleppe. Immer wieder mal wundern sich Leute, selbst Models, warum ich erst umständlich das Objektiv gegen das Tele wechsle, und dann weiter weggehe, damit es wieder aufs Bild passt, wenn ich es doch gleich hätte fotografieren können. Eben wegen der Bildwirkung.
Das Tele hat viel weniger perspektivische Verzerrung, weil der Blickwinkel viel kleiner ist, und die Objekte, die weiter weg liegen, deshalb (relativ zum Bildausschnitt) nicht so schrumpfen. Deshalb erscheinen Objekte, die weiter hinten liegen, nicht – oder nicht soviel, wie es das Gehirn vom normalen Blickwinkel des Auges, der vom Seheindruck etwa einem 50mm-Normalobjektiv nahekommt (was der Grund ist, warum man es Normalobjektiv nennt) soviel kleiner, wie sie es aufgrund ihres Abstandes bei normalem Blick eigentlich müssten. Wenn man dann noch die Blende (und damit die Schärfentiefe) so wählt, dass man sich wiederholende Muster oder Gegenstände in gewissem Umfang scharf und damit im Aufmerksamkeitsfokus hat, verliert das Gehirn die Ansatzpunkte, mit denen es ohne dreidimensionales (genauer: stereoskopisches) Sehen hilfsweise Entfernungen schlussfolgert.
Das sind so die Sachen, die man in den besseren Fotobüchern zur Brennweitenwahl erfährt. Die schlechteren faseln nur was von Tiefenschärfe und Freistellen. Daraus entsteht auch der natürlichere Look bei Portraits, weil durch den spitzen Winkel die Gesichtsproportionen weniger verzerrt werden. Mit einem Weitwinkel dagegen reißt man alles auseinander und stellt die Tiefe und den Abstand stärker dar, als sie sind. Deshalb heißen Tele und Weitwinkel eben nicht Normalobjektiv. Deshalb fotografieren viele Leute Portraits gerne zwischen 70 und 150mm, weil man damit einen sehr natürlichen, unverzerrten Look hinbekommt (was jetzt widersprüchlich klingt, weil ich doch gerade sagte, dass das 50mm dem Sehen entspricht, aber der Grund ist, dass das Gehirn das Foto nicht mehr stereoskopisch/dreidimensional sieht und die Tiefeninformation nicht verarbeitet, um die perspektivische Verzerrung zu entzerren, sondern man ein flaches, zweidimensionales Bild anfertigt, an dem das Gehirn beim Sehen die Korrektur nicht mehr vornehmen kann. Ihr kennt vielleicht diese optische Täuschung eines windschiefen Raumes mit zwei Personen in zwei Ecken des Raumes, in dem die eine Person viel kleiner aussieht als die andere, weil sie unterschiedlich weit weg sind, der Raum aber so schief ist, dass er wie rechtwinklig gerade aussieht. Genau das meine ich. Das Gehirn sieht auf dem Foto dasselbe wie mit dem Auge im Original, kann aber wegen der fehlenden Tiefeninformation den Blickwinkel nicht ausgleichen und nimmt an, dass die hintere Wand gerade steht.)
Mehrere ähnliche oder gleichartige Gegenstände, die hintereinander stehen, mit dem Tele gestaffelt zu fotografieren ist eigentlich eine Standardsituation aus dem Fotografieren Lernen. Mach ich öfters.
Übrigens ein schöner Anlass, um mal so praktisch-medienkompetenzierende Aspekte der Fotografie zu betrachten und zu zeigen, wie man mit Fotografie täuscht, manipuliert, schummelt.
Übrigens: Als ich noch Aktfotografie betrieben habe (der Blogartikel über den Aktworkshop in Prag 2015 hat mir mancherorten ein Ranking als Pornowebseite eingebracht oder zumindest den Vorwand zu Sperren geliefert, weshalb ich die hier im Blog erst mal entfernt habe; irgendwann mache ich dafür mal eine separate Webseite auf, wenn ich wieder damit anfange, falls ich wieder damit anfange) habe ich zum Aufwärmen und am Anfang immer mit Portraits mit dem dicken Tele angefangen. Aus verschiedenen Gründen. Eben weil man damit schöne Portraits hinbekommt. Aber eben auch, weil man damit den Leuten nicht gleich im ersten Augenblick auf die Pelle rückt und Abstand hält. Weil sich ausnahmslos jede Frau geschmeichelt fühlt, wenn man mit dem Gesicht anfängt (Boah, da steht jemand nackt da und der Typ guckt einem zuerst ins Gesicht! Ist ja der Hammer.) Und weil man die Leute mit dem großen dicken Angeberobjektiv beindrucken kann, das sieht nach „Der ist Profi” aus. Aus dem gleichen Grund kommt man mit dem dicken Tele, selbst wenn man es gar nicht benutzt, sondern vor sich herträgt, viel leichter irgendwo rein als mit einem normalen Objektiv rumläuft. In Neuseeland bin ich so mal bei einer Polizeifeier reingekommen und habe fotografiert und das Büffet abgefressen, und in Australien bin ich mal an einer Uni in die Diplomfeier gekommen, weil die alle dachten, ich sei der bestellte Profifotograf, bis der Dekanin auffiel, dass sie einen bestellt hat, aber zwei rumlaufen, und der zweite verdächtig viel frisst. Als sie fragte, wer ich sei, und ich „german tourist” antwortete, war sie so baff, dass sie völlig vergessen hat, mich rauszuwerfen. Im Laufe der Jahre amortisiert sich so ein Objektiv schon über die Büffets, an die man damit kommt. Außerdem kann man damit auch in kurzen Hosen und Gammellook rumlaufen, wo andere mit Krawatte unterwegs sind, weil jeder denkt, dass das bei Profifotografen so sein müsse. Auch deshalb gehört es zum Fotografenwissen, dass ein Teleobjektiv die Abstände verringert.
Übrigens für die Wirkung ganz wichtig, dass das Objektiv nicht neu aussieht, sondern schon mal Feindkontakt hatte und etwas abgeranzt aussieht. Dazu noch eine speckige ausgeleierte schwere Fototasche. Wenn das noch nicht reicht als Sahnehäubchen eine ärmellose Weste mit vielen, selbstverständlich vollgestopften Taschen. Und schlecht rasiert. Damit kommt man dann an ziemlich vielen Orten rein. Außer in Berlin, da wird man verprügelt.
Überkompensation
Man muss sich aber auch vor dem Gegenteil hüten, dem Überkompensieren. Vulgo: Dem Besserwisser.
Es gibt auch solche Leute, die gibt es eigentlich immer, die jetzt meinen, sie wissen was, sie hätten was verstanden, und dann gar keinem Bild mehr glauben, weil sie dann immer sagen, ach, das ist doch mit dem Tele fotografiert.
Nur, weil einer unter Paranoia leidet, heißt das nicht, dass sie nicht hinter ihm her wären.
Nur, weil einer ein Tele benutzt, heißt das nicht, dass die Objekte nicht nah beisammen sind. Der Punkt ist nämlich: Ja, man kann auch Dinge, die nah beieinander sind, mit dem Tele fotografieren. Nur weil man diesen Bildeffekt verstanden hat, heißt das nicht, dass das immer so ist. Es können auch Dinge nah aussehen, weil sie nah sind. Das gibt’s auch.
Und bei solchen Demo-Bildern sollte man sich immer auch fragen und genau aufpassen, ob die wirklich dasselbe Szenario zeigen, oder ob die nicht doch geschummelt haben und die Leute tatsächlich unterschiedlich dicht aneinander stehen. Blind auf den Effekt zu vertrauen, weil man ihn verstanden hat, ist nämlich genauso doof.
Eigentlich ging es um meinen „Corona-Schnauze-Voll”-Artikel.
Aber: Ich habe nur diese zwei Fotos herausgesucht, ich habe noch mehr gesehen, auch aus anderen Blickwinkeln. Und die Berichte der Polizei und teils der Medien gesehen.