Warum juristisches und politisches Denken an Realität scheitert
Wenn man die letzten Tage die Nachrichten verfolgt hat, dann versteht man, warum ein von Juristen regierter Staat nicht funktionieren kann, solange Realität im Spiel ist.
Als wir wegen der Corona-Krise alle zuhause gehockt haben und die Läden fast alle zu waren, war das für die Leute zwar persönlich übel, aber juristisch einigermaßen glatt. Da haben die Juristen im wesentlichen still gehalten, von ein paar vereinzelten Aussetzern abgesehen.
Seit man das aber schrittweise zurücknimmt und die ersten Lockerungen angeht, drehen die Juristen durch.
Die Auswahl der Läden, die Begrenzung auf 800 Quadratmeter sei willkürlich, und Willkür sei dem Staat von Verfassungs wegen verboten. Alles muss nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit laufen, geeignet, erforderlich, innerlich angemessen. Und so hat man sogleich vor den Gerichten geklagt, und auch gewonnen, weil da auch Juristen sitzen, und die sich alle einig darin sind, dass die 800-Quadratmeter-Grenze oder die Unterscheidung zwischen Supermarkt, Baumarkt und Einzelhandel willkürlich und damit verfassungswidrig ist.
Das KaDeWe darf etwa auf ganzer Fläche öffnen, hat ein Gericht entschieden.
Wobei das Gericht der Ansicht der Kläger bezüglich der Willkür nicht mal direkt folgte, sondern
Die Beschränkung auf 800 Quadratmeter sei “willkürlich und unverhältnismäßig” argumentierte das Unternehmen – und hatte nun vorläufig Erfolg.
“Den meisten Einwänden der Antragstellerin sei allerdings nicht zu folgen”, betonten die Richter. Die 800-Quadratmeter-Beschränkung sei nicht willkürlich, weil ab dieser Größenordnung mit einem größeren Kundenstrom zu rechnen sei. Das Gericht kritisierte jedoch, dass Einkaufszentren auf der gesamten Fläche öffnen dürften, weil die Regelung dort für jedes einzelne Geschäft gelte.
Bei Einkaufszentren gelten die 800 Quadratmeter pro Laden, beim KDW (quasi ein Ein-Eigentümer-Einkaufszentrum) aber für alles zusammen. Ungerecht.
Das OVG dagegen hält die Grenze für vertretbar und entschied:
Das OVG hatte erst am Mittwoch in einem anderen Prozess die 800-Quadratmeter-Regel gebilligt. Angesichts der vom Robert Koch-Institut (RKI) nach wie vor angenommenen hohen Gefährdungslage sei die Entscheidung über die Lockerungen “rechtlich nicht zu beanstanden”, erklärten Richter am Mittwoch. “Es sei prinzipiell davon auszugehen, dass die erforderlichen Hygienemaßnahmen in kleineren Geschäften mit weniger Kunden leichter gewährleistet werden könnten.”
Beispielsweise auch der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki sieht sie nicht nur für Kubik-, sondern auch für Quadratmeter als Experte (ich mag ja eigentlich keine Namenswitze, aber den konnte ich mir jetzt gerade gar nicht verkneifen):
Beispielsweise sei nicht zu erklären, “warum in Gegenden, wo gar keine Infektionen sind, die Kirchen nicht aufgemacht werden dürfen”. Und “wenn wir Läden bis 800 Quadratmeter öffnen, steht die Frage im Raum, warum wir nicht größere Läden oder Gastronomiebetriebe öffnen können, wo die Abstandsregeln eingehalten werden”, sagte Kubicki weiter.
Ja … schön.
Alles juristisch korrekt.
Und verfassungsrechtlich.
Und auch sauber begründet.
Eigentlich präzise das, was die da schon im ersten Semester lernen. Maßnahmen müssen angemessen, geeignet, erforderlich sein und dürfen nicht willkürlich sein. Man muss für alles Gründe haben, und auch für jede Differenzierung.
Alles wunderbar ausgearbeitet.
Und trotzdem blöd. Oder gerade deshalb.
Man merkt da wieder mal sehr deutlich, dass eben auch Juristen Geisteswissenschaftler sind und in ihrer abgeschlossenen Welt leben, aber keinen Kontakt zu Realität, Naturwissenschaften und sowas haben, noch nie technische Probleme gelöst oder Natur untersucht haben.
Oder anders gesagt: Der Umgang mit Realität ist nunmal ein anderer als der mit Paragraphen.
Jeder, der schon mal in einer sehr komplexen Problemstellung – etwa Software – einen Fehler gesucht hat, oder in irgendeiner komplexen Sache – Biologie zum Beispiel – versucht, einen Zusammenhang zu verstehen, muss mitunter, oder eigentlich sogar oft, experimentieren, versuchen, testen, wenn mangels Wissen oder Werkzeug oder Einsicht keine konstruktive Eingrenzungsmethode zur Verfügung steht.
Anders gesagt, um im Duktus dieses Blogs zu bleiben: Man versucht, durch Wackeln und Testen an einzelnen oder mehreren Eigenschaften zu erforschen, ob es eine Auswirkung hat. Gibt es eine Korrelation zwischen einzelnen Parametern und dem Ergebnis? Sie belegt keine Kausalität, aber sie kann durch ihr Fehlen eine Kausalität ausschließen. Man muss es verfeinern, immer spezifischer testen, probieren, analysieren, beobachten. Um die Ursache sukzessive einzukreisen. Man schließt Schritt für Schritt Ursachen aus, bis das, was übrig bleibt, immer kleiner, immer weniger wird und dann schließlich anderen Analyseverfahren – ob man nun DNA untersucht oder den Code auseinandernimmt – zugänglich wird, die vorher durch Quantätit nicht anwendbar waren.
Motto: „Wenn Du das Unmögliche ausgeschlossen hast, dann ist das, was übrig bleibt, die Wahrheit, wie unwahrscheinlich sie auch ist.” War wohl Sherlock Holmes, aber ich glaube, Tuvok hat es auch aufgegriffen, obwohl beide nicht existieren.
Das ist das, was Biologen in den Labors machen. Das ist das, was Informatiker manchmal machen, wenn sie sehr verzwickte Fehler in komplexer Software suchen.
Juristen können das nicht.
Die realitäts- und naturbezogene Vorgehensweise, dass man nicht alles auf einmal macht, sondern in kleinen Schrittchen und dabei systematisch das Ergebnis beobachtet und auf Änderungen untersucht, und dabei die Schritte, wenn man kein anderes Kriterium hat, eben auch willkürlich oder zufällig auswählt, auswählen muss, hat in der Erlebniswelt der Juristen keinen Raum. Für die sind Willkür und Zufall per Grundgesetz ausgeschlossen. Weil in dieser Welt nichts existieren darf, was dem heiligen ersten Semester einer Juristenausbildung widerspräche. Ich weiß gar nicht, wie oft ich schon die Juristen-Begründung „Lernt man im ersten Semester” als Totschlag-Argument gehört habe. Das erste Semester kann nicht trügen.
Was machen die eigentlich, wenn sich herausstellt, dass deren erstes Semester falsch war? Berufssuizid?
Es wäre beispielsweise auch eine realitätsbezogene Methode, die Öffentlichkeit quantitativ zu drosseln, indem man sagt, am 14. des Monats dürfen nur die raus, die an einem 14. geboren sind, damit immer nur etwa 1/30 = ca. 3% der Leute rumlaufen. Oder dienstags dürfen nur die rumlaufen, die an einem Dienstag geboren sind, um es auf ein Siebtel = 14% zu begrenzen. Juristen würden dazu platzen wie die Marslinge in Mars Attacks zur Jodelmusik, weil solche Willkür und sachbezugslose Unterschiedlichkeit in deren Welt nicht möglich ist.
Deshalb scheitern Juristen an Realität.
Und deshalb ist es eines unserer zentralen Probleme, dass alles drei Staatsgewalten von Juristen kontrolliert werden.