…radikalisiert…
Ein Blickwinkel.
Auch wenn ich die Veröffentlichung für strafbar halte, habe ich mir das von „Strg_F” veröffentlichte – und von ihnen verniedlichend „zugespielt” bezeichnete – Vernehmungsvideo des „Lübcke-Mord”-Angeklagten angesehen.
Jenseits der Frage der Strafbarkeit halte ich den Zeitpunkt für eigentlich nicht vertretbar.
Es ist einfach keine faire und seriöse Vorgehensweise, während eines laufenden Verfahrens selektiv herauszupicken, was einem gerade in die Story passt, und dann draufzuhauen. Gerade weil das Verfahren läuft und ein erstes Urteil nicht mehr allzu fern liegen kann, und es gerade keinen aktuellen Anlass gibt, der eine Dringlichkeit begründen würde, halte ich das für enorm manipulativ. Gerade so, als habe man das noch schnell ausschlachten wollen, bevor das Gericht was anderes entscheidet, was einem nicht passt.
Ich bin der Meinung, dass man da noch die paar Tage hätte warten müssen, bis die Entscheidung raus ist, und das dann in der Gesamtsicht betrachten, aber vermutlich wollte man genau das gerade nicht, weil – und das kann ich jetzt gar nicht beurteilen, weil ich nicht weiß, was da im Verfahren läuft, aber so fühlt es sich zumindest an – man fürchtet, dass dann im Urteil irgendwas steht, was das Pressenarrativ nicht mehr trägt.
Oder, das wäre eine andere Interpretation, dass man dachte, das Video geht auch an andere, und man wollte es schnell als erster veröffentlichen und kommentieren, um die Meinung dazu zu bestimmen, bevor es andere tun.
Selbst wenn man den Standpunkt vertreten will, dass dieser Täter nun gar keinen Schutz und keine Fairness mehr verdient habe – was jetzt auch kein wirklich vertretbarer Standpunkt ist, denn immerhin scheinen die Abläufe so ganz klar nicht zu sein und haben wir eine Unschuldsvermutung – sollte man doch beachten, dass alles, was man hier gestattet, auch auf die Verfahren aller anderen Fälle durchschlägt. Selbst wenn man es für angemessen hält, diesem hier die Rechte zu nehmen, nimmt man sie damit allen anderen Angeklagten auch.
Was mich an der Sache aber besonders stört:
Die eingeschobenen Kommentare der „Journalisten” (oder was auch immer die darstellen sollen oder wollen) passen meines Erachtens nicht zu dem Verhör. Gleich in den ersten Sekunden „Der Nazi …” und rausgeschnitten „Ich habe abgedrückt”… einfach nur Meinungsmache.
Mehrmals quasseln die dazwischen und reden von „hat sich radikalisiert” und „Extremismus”. Es wird wiederholt, um beim Zuschauer diesen Eindruck zu verankern.
Mein Eindruck ist aber ein anderer.
Auf mich wirkt der wie einer, der irgendwie an der Situation verzweifelt ist, dass das Land überrollt wird, wir immer mehr Steuern zahlen um andere zu ernähren, man nichts mehr dazu sagen darf, und der sich dann noch von Lübcke verhöhnt fühlte. Und sorry, wenn ich das so sage, aber zumindest aus dem Ausschnitt und ohne den Kontext zu kennen, halte ich diesen Ausspruch Lübckes für Verhöhnung, für eine massive Provokation. Das war dann der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Für mich sieht das nicht nach Radikalisierung aus, sondern nach „Kein Ausweg mehr”.
Natürlich bin ich mir bewusst, dass das gespielt und vorgegaukelt sein kann, dessen Masche.
Es würde aber nichts daran ändern, dass das Verhörvideo in meinem Augen (oder besser gesagt: Ohren) die Wertungen der Journalisten nicht trägt.
Ich habe neulich irgendwo gelesen, ich finde es jetzt auf Anhieb in den Bergen von Hinweisen gerade nicht, dass die Presse mittlerweise daran zerbricht, die Zustände zu beklagen und anzuprangern, die sie selbst erst geschaffen hat, nämlich die Verhärtung der Fronten und das Unterbleiben von Diskussionen über die politische Richtung.
Und genau das scheint mir hier der Fall zu sein. Leute, die mit den Veränderungen im Land nicht einverstanden sind und die sich ausgeplündert und überrannt fühlten, hat man völlig vom „Diskurs” abgeschnitten, zum Schweigen gebracht, als Nazis in die Ecke der Meinungsirrelevanz gestellt. Ich glaube nicht, dass das passiert wäre, denn man den Leuten eine Möglichkeit gelassen hätte, ihren Standpunkt zu äußern und zu vertreten.
Ich glaube nicht, dass der sich radikalisiert hat.
Ich glaube, dass der radikalisiert wurde, und zwar durch die Medien, die einfach alles weggedrückt, ignoriert, zum Schweigen gebracht haben, was noch unterhalb der Gewaltschwelle war.
Was an den Kommentaren dieser „Journalisten” nämlich völlig fehlt: Was wäre eigentlich das erwartete Wohlverhalten gewesen?
Vereinfacht gesagt: Man muss keine Leute umbringen, weil man stattdessen und völlig legal … Ja, was eigentlich?
Was ist das Verhalten, was Journalisten von Leuten in dessen Situation eigentlich erwarten? Arbeiten gehen, Steuern zahlen, Maul halten, Dulden und Abgeben?
Zumindest für mich und mein Wertungssystem ist es bei einem Schuldvorwurf oder einer Beurteilung einer Schuldhaftigkeit immer wichtig, mir zu überlegen, was wäre denn das mögliche oder der Tat nächstliegende Wohlverhalten gewesen, das man als nicht strafbar oder schuldhaft angesehen hätte. Im Sinne von: Was hätte der Täter in der Situation nach Ansicht der Anklage denn tun sollen?
Für mich ist das immer wichtig, die Differenz zwischen vorgeworfenem Verhalten und nächstmöglichem Wohlverhalten zu betrachten. Mir die Frage zu stellen: An welcher Stelle ist der Angeklagte falsch abgebogen?
Und das ist das, was mir in diesem Fall hier als Voraussetzung zur Wertung und Be-/Verurteilung fehlt: Was ist das nächstmögliche Wohlverhalten, dessen Einhaltung man erwartet?
Erwartet man tatsächlich, dass die Leute einfach stillschweigend zuhause sitzen? Nie ein Wort der Kritik erheben oder sagen dürfen, was sie stört? Stille arbeiten, Steuern zahlen, und ihren Ärger stillschweigend runterschlucken, um dann möglichst pünktlich zum Renteneintritt zu versterben und die Wohnung freizumachen?
Das wäre kein demokratischer und verfassungskonformer Zustand.
Wo aber zwischen Schweigen-Arbeiten-Steuernzahlen-Ableben und Mord ist das verfassungskonforme und akzeptierte Wohlverhalten angesiedelt? Was wäre dazwischen, was man als angemessen betrachtet?
Ich will hier nicht die Tat verteidigen oder gutheißen. Ich will den Umgang damit und die Umstände, die dazu geführt haben, kritisieren.
Und ich will aufzeigen, wie verlogen öffentlich-rechtliches Fernsehen ist.