Rückfall ins Mittelalter: Burgen und Zugbrücken kommen wieder in Mode
Vom Ende der Moderne.
Auf einer der vielen Konferenzen, an denen ich zwischen 2002 und 2007 in den USA teilgenommen habe, saß mal bei den dort nicht seltenen Konferenzabendessen, bei denen man bewusst fremde Leute an runden Tischen zusammensetzt, damit die sich kennenlernen und unterhalten, saß ich mal neben einem amerikanischen High-School-Lehrer, der mir sein Leid darüber klagte, dass die amerikanische Schulbildung zwar sehr breit und umfassend, aber leider nur ganz flach wie eine Regenpfütze sei, nichts ginge in die Tiefe, alles würde immer nur angekratzt und tangiert, nichts dürfte mal vertieft betrachtet oder gar schwierig werden. Er beneide uns Europäer darum. Dazu könnte ich nun auch was schreiben, aber das wäre dann ein anderer Blogartikel weil anderes Thema.
Er beklagte (ich kann mich nur noch sehr vage an das Gespräch erinnern, ich geben das jetzt mal eher frei wieder, so dass es dem Restaroma meiner Erinnerung nahe kommt) auch, dass sie keinen prallen Geschichtsunterricht über ihr eigenes Land hinkriegen. Wir Europäer, wir hätten da aus 2000 Jahren was zu schöpfen, Mittelalter, die alten Griechen, Rom, Aufklärung, undundund, selbst üble Dinge wie das Dritte Reich gäben immerhin genug Material für reichlich Geschichtsunterricht her, während sie in den USA sehr dünn damit bestückt wären. Sie hätten gerade mal 300 Jahre Geschichte, und selbst die seien aus Sicht eines Lehrers relativ flach verlaufen und schnell auserzählt. Ritter, Burgen, den ganzen Mittelalter-Kram hätten sie alles gar nicht, bei ihnen gäb’s auch überhaupt nichts auszubuddeln, Archäologen hätten nichts zu tun. Bedauerlicherweise hätten die Indianer überhaupt keine Geschichtsschreibung (ich hatte ja mal von meinem Besuch bei den Pueblo-Indianern berichtet und über die verwunderte Antwort des Häuptlings auf meine Frage, wo sie in 200 Jahren stünden, dass Zeit für sie keine Bedeutung hätte und sie sich solche Fragen überhaupt nicht stellten). Weil sie außerdem oft nomadisch lebten und ihr Zeugs aus „Biomaterial” wie Holz und Tierhäuten fertigten, gibt es da auch nichts auszugraben. (Anmerkung: Im Karl-May-Museum in Dresden erzählten sie, dass May zwar noch nie in Amerika war, als er seine Bücher schrieb, von dem Geld, was er damit verdiente, aber die USA bereiste, um sich mal anzusehen, wie es dort wirklich aussähe, und habe dabei viele historische Indianerkleidung und -gegenstände gekauft, die nun auch im Museum zu sehen sei, was zu dem erstaunlichen Effekt führe, dass nicht selten echte Indianer ins Museum in Dresden kämen, um sich über das Leben ihrer Vorfahren ausgerechnet bei Karl May zu informieren, weil sie selbst es versäumt hätten, irgendetwas zu dokumentieren, aufzubewahren, auf Geschichte zu machen.)
Statt eigener Burgen und eigener Geschichte bliebe ihnen nichts anderes übrig, als im Geschichtsunterricht zu erzählen, was in Europa und sonstwo auf der Welt los war, was natürlich demütigend sei, weil sie sich ja eigentlich darüber definierten, sich vom „alten Kontinent” losgesagt hätten und sich für etwas besseres, moderneres hielten. Das Fehlen eigener Geschichte, vor allem das Fehlen eines Mittelalters, sei auch die Erklärung dafür, warum sie versuchen, das per typisch amerikanischer Kitschinszenierung a la Disneyland und Las Vegas mit überdrehten Burgen und Schlößern nachzuholen. Deshalb sei er schon in Europa gewesen um echte Burgen zu besteigen. (Ob sich Neuschwanstein nun so ernstlich von Disneyland unterscheidet oder der Einmarsch der Chinesen in Heidelberg anders verläuft als in Las Vegas, würde ich mal dahingestellt lassen.)
Wie auch immer, ich denke, diese Seelenpein der Amerikaner wird gerade geheilt. Sie erhalten gerade ihr ureigenes Mittelalter, das sie gerade nachholen, indem sie darin zurückverfallen, worin sie noch gar nicht waren.
So richtig mit allem, was dazugehört: Burgen, Bürger, Stadtmauer, Zugbrücken, Wachen und sowas alles.
Kleiner Bildungsausflug: Bürger hat man so genannt, weil sie eben die waren, die das Recht hatten, innerhalb der Burg zu leben, also der befestigten ummauerten Wehranlage. Normerlweise bestanden Burgen aus der eigentlichen Burg des Adligen als dessen Wohn- und Verwaltungssitz (samt Folterkeller und Kerker, weil auch Gerichtsbarkeit), darumherum dann eine Art kleiner Stadt, wo die Leute wohnten und arbeiteten, eben die Bürger, die von Palisaden oder später Mauern umgeben und dadurch geschützt waren. Sie waren geborgen, ein etymlogisch mit Burg (althochdeutsch für Schutz) verwandtes Wort. Geborgenheit bedeutet, in Sicherheit, in der Burg zu sein. Mauer drum, Tür zu, Tor runter, und nicht den Fehler begehen, alberne Holzpferde reinzuholen.
Das englische Wort für Bürger, Citizen kommt etymologisch analog dazu von City, einer, der in der Stadt lebt, und der Begriff stammt etymlogisch aus dem 12. Jahrhundert vom französischen cite ab, was wiederum eine befestigte Stadt oder eine solche mit einer Kathedrale, also eine Hauptstadt bezeichnete. Deshalb haben Städte wie Berlin, München, Karlsruhe ja auch immer noch Stellen im Ort, die nach ihrer früheren Funktion „… Tor” heißen, nämlich die Stellen, an denen die Stadtmauern früher bewachte Tore in die verschiedenen Richtungen hatten. Manchmal sind die auch noch übrig oder Teile der Stadtmauern bekannt. Rätsel für Fortgeschrittene: Wie kam wohl das Brandenburger Tor zu seinem Namen, und wohin führte es? Bonusfrage: Und das Hallesche Tor? Das Sendlinger Tor?
Nachts waren die Tore zu, da kam man nicht rein noch raus.
Lateinisch hieß der Bürger civis, und der Bürgerstand und dessen Benehmen und Umgangsformen civilitas, wovon heute „zivil” und „zivilisiert” kommen, was nichts anderes als eben „bürgerlich” meint, und damit das, was ich hier im Blog immer so als die Elementarbausteine des Zusammenlebens beschreibe, jene Fundamente unseres modernen Zusammenlebens, die das dichte Zusammenleben und die intensive Kooperation erst ermöglichten. Eben das enge Zusammenleben in einer Burg. Oder wie man sagt: Die Höflichkeit, also das Leben am Hofe.
Und schon immer war das das Ziel der Barbaren, die Burg zu stürmen, hineinzukommen, sie zu plündern. Man nennt es heute „das Zusammenleben täglich neu aushandeln”. Haben die Wikinger in England auch schon so gehalten.
Genau diesen Teil der Geschichte spielen sie nun in Chicago originalgetreu und mit viel Hingabe nach.
Sogar das mit den Räubern und den Zugbrücken.
Da werden nämlich die Plünderungen und Verwüstungen immer schlimmer.
Andererseits aber ist der Innenteil der Stadt so von Wasser und Flüssen umgeben, dass er nur über Brücken zu erreichen ist. Die Brücken sind aber alle so gebaut, dass man sie hochklappen kann. Und damit erzähle ich Euch auch nichts neues, denn das kennt Ihr alle aus der berühmten Szene aus Blues Brothers, in der sie mit dem Bluesmobil, also der von katalytischen Konvertern gemachten Bullenschleuder, über die geöffnete Brücke fahren. Das war die 95th Street Bridge in Chicago, Illinois, und das war nicht getrickst, die sind das wirklich so gefahren. Allerdings haben sie dabei 13 Blues Mobile verheizt und die Polizeiautos waren 60 ausgelutschte echte, die sie für $400 pro Stück gekauft hatten.
Nun, also Ihr kennt also (hoffentlich) alle diese Klappbrücken in Cicago. Die hat man bisher nur kurz hochgezogen, wenn große Schiffe durch mussten, wie so eine Bahnschranke.
Und die ziehen sie nun des nachts alle hoch, damit die Plünderer nicht mehr in die Innenstadt kommen.
Will man in Chicago in die Innenstadt, so muss man eine Brücke queren. Doch gerade im Zentrum kam es zuletzt nachts zu Plünderungen von Geschäften. Die Bürgermeisterin setzte daher eine drastische Maßnahme: Sie ließ in der Nacht die Brücken hinaufziehen. So konnten die vorwiegend wohlhabenden Bewohnerinnen und Bewohner der Innenstadt zwar nicht raus, Plünderer und Plünderinnen aber auch nicht rein.
Eigentlich werden die Brücken seit Jahrzehnten nur mehr untertags hin- und wieder hinaufgezogen, damit größere Schiffe den Chicago-River auf dem Weg zum Michigan-See passieren können – vom Prinzip her mit einem Bahnübergang vergleichbar. Doch Lightfoot sei es, wie sie sagte, in jüngster Zeit um die Sicherheit von Unternehmen sowie von Anrainerinnen und Anrainern gegangen. Das habe sie zu ihrem Schritt bewogen.
Die Brücken in Chicago sind eine Erinnerung an frühere Epochen der drittgrößten Stadt der USA. Vor Jahrzehnten, als auf dem Fluss noch reger Handelsverkehr herrschte, beschäftigte die Stadt Tausende Personen, die Beiboote fuhren und die Brücken hinauf- und herunterließen. Doch spätestens in den 1980ern ging der Flussverkehr zurück, und so nahm auch der Bedarf an diesen Berufen ab. Heute sind es vorwiegend Touristenboote, die den Chicago-River passieren.
Langjährige Bewohnerinnen und Bewohner sagten der Investigativplattform Pro Publica Illinois, sie könnten sich an keine Zeit erinnern, zu der die Brücken im Namen der Verbrechensbekämpfung oder der öffentlichen Sicherheit hinaufgezogen worden seien. „Im Grunde sagt man damit, dass man einen Teil der Stadt vor einem anderen Teil schützt“, so die Kritik der Chicagoer Journalistin Delmarie Cobb.
„Im Grunde sagt man damit, dass man einen Teil der Stadt vor einem anderen Teil schützt“, so die Kritik der Chicagoer Journalistin Delmarie Cobb.
Exakt.
Man schützt die Bürger vor den Räubern. Mauer drum, Burgraben drum, Zugbrücke hoch. (Wollen sie für den Bundestag ja auch.)
Und so können die USA doch noch ihr Mittelalter nachholen.