Ansichten eines Informatikers

Di Fabio und das Sieden der Gesellschaft

Hadmut
6.11.2021 22:38

Erkenntnisse eines ehemaligen Verfassungsrichters.

Auf WELT+ ist ein Interview mit dem ehemaligen Verfassungsrichter Udo Di Fabio erschienen, der sich kritisch über den Zustand der Gesellschaft äußert:

Der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht, Udo Di Fabio, äußert sich besorgt über die Polarisierung der Gesellschaft in der Pandemie. Er sieht „Anzeichen einer Identitätskrise“ – und verurteilt die maßlose Kritik an der Künstleraktion #allesdichtmachen.

[…]

WELT AM SONNTAG: Die Corona-Politik hat zu einer heftigen Polarisierung in der Gesellschaft geführt. Wie konnte eine solche Frage eine derartige gesellschaftliche Schlagkraft erhalten?

Di Fabio: Demokratien sind nie homogene Ordnungen. Der Streit gehört dazu. Doch es tauchen in neuem Gewand alte Muster wieder auf: eifernde Züge eines Glaubenskampfes, der Andersdenkende nicht als nur mehr Gegner, sondern als Feind betrachtet und mit Hass verfolgt. Die westlichen Demokratien wirken volatil, mit Stimmungsschwankungen. Es gibt auch Anzeichen einer Identitätskrise, weil das alte nationale Identifikationsmodell nicht mehr ungeteilt gilt. Globale Themen und nationale Interessen stoßen aneinander. Neue Strategien der Identifikation, etwa Diversitätsmodelle, wollen für Toleranz werben, können aber, wenn sie kulturkämpferisch auftreten, zur Meinungsspaltung beitragen. Dann kommen noch die sozialen Netzwerke hinzu, die die Blasenbildung erleichtern.

Besonders in Deutschland reagieren wir darauf mit einer neuen Bereitschaft zur Konformität: Dahinter steht auch die Sorge um die Stabilität unserer Demokratie. Wir wollen keine Weimarer Verhältnisse. Das erklärt vielleicht ein Stück weit auch die phasenweise hohe Befolgungsbereitschaft bei den Corona-Maßnahmen. Wir müssen aber sehen, dass Konformität ihren Preis hat. Wenn politische Themen allzu stark formatiert oder von vornherein moralisch aufgeladen werden, ist dies für eine Demokratie von Schaden.

WELT AM SONNTAG: Die Künstleraktion #allesdichtmachen löste in der Pandemie einen Sturm der Entrüstung aus. In Ihrem neuen Buch schreiben Sie dazu, die Künste dürften anscheinend doch nicht alles. Wer hat die Debatten in unserem Land so moralisiert – und warum?

Di Fabio: Ich habe die Meinung der Künstler nicht geteilt, ihre Kampagne zeigte keine Urteilskraft und musste als zynisch empfunden werden. Doch die Kritik daran war teilweise ohne Maß, zielte in einigen Fällen auf die Personen oder sprach von „Unverschämtheit“, so als ginge es um Majestätsbeleidigung oder Unsittlichkeit. Es gab sogar Stimmen, die beteiligten Künstlerinnen und Künstlern beruflich abzustrafen. Einige Akteure „bereuten“ dann auch öffentlich ihr Tun. Das erinnert doch ein wenig an autokratische Muster. Die Demokratie muss gelassener mit anderen Meinungen umgehen.

Symptomatisch-empirisch hat er recht. Das ist so und das beobachte ich auch, dass die Gesellschaft im Krieg ist oder sich so aufführt, und der Gegner als Feind betrachtet, bekämpft, mit Hass verfolgt wird. Das sehe ich ständig und seit längerem, dass sich der Ton in den Social Media, den großen Medien, den Zuschriften, den Meinungsäußerungen verändert.

Analytisch liegt er jedoch falsch und plappert nur das gängige Sozio- und Politgeschwätz nach. Blasenbildung und so. Obwohl doch inzwischen erkannt wurde, dass das mit den Filterblasen und Echokammern schlicht nicht stimmt und kaum oder keine Rolle spielt, nur eine Legende der Diskurstheoretiker war.

Und den Standardfehler, eine Korrelation oder Koinzidenz für eine Kausalität zu halten, macht er auch. Post hoc ergo propter hoc, denkt er, und meint, die Polarisation sei eine Folge der Pandemie und der Politik dazu.

Was eben auch zeigt, wie blind und taub Verfassungsrichter und Juristen bis zum Großgrundrechtsereignis Corona waren.

Denn tatsächlich ist die Gesellschaft schon lange im Krieg, befand sich nur im Zustand des Siedeverzugs. Die Flüssigkeit kocht eigentlich, man sieht es ihr nur nicht so an, weil die Temperatur zwar erreicht ist, aber der Siedevorgang noch keinen Anfangspunkt gefunden hat. Dann kam Corona als Nukleationskeim dazu, und es ging los. Corona war der Anlass, aber nicht die Ursache.

Nicht nur nach meiner Beobachtung, sondern auch, wenn ich mit meiner Amygdala-These richtig liege, hat man die Gesellschaft schon lange in einen psychischen Kriegszustand versetzt, indem man sie einer pausenlosen, auf allen Kanälen eingetrommelten Brachialkonfrontation mit allem, was ihr fremd ist, ausgesetzt hat. Die Geisteswissenschaftler nehmen an, dass man damit per Diskurstherapie die Gesellschaft „dekonstruieren“ kann (und soll), aber ich glaube das exakte Gegenteil, nämlich dass man damit die Gesellschaft neural in einen Krisenzustand versetzt, der nur sehr schwer und langwierig, oder nach dem, was ich in einigen Texten gelesen habe, gar nicht mehr reversibel ist.

Man könnte auch sagen, das „historisch einmalige Experiment“ ist gescheitert, aber es ist ungeklärt, wer das Labor wieder aufräumt und den Schaden zahlt.

Und wenn ich mit meiner These richtig liege, dann ist diese Gesellschaft nicht mehr zu reparieren und zu befrieden, weil wir aus dem Dauerverteidigungszustand neural nicht mehr rauskommen. Selbst wenn er reversibel wäre, würde das vermutlich voraussetzen, die Konfrontation zu beenden, und das dürfte inzwischen unmöglich sein.

Und wenn man sich erst mal in diesem Zustand befindet, dann reicht ein Zündfunke, ein Nukleationskeim. Und der kam halt gleich im XXXL-Format in Form einer Zweijahrespandemie und intramuskulär.

Ich glaube deshalb nicht, dass diese Aggression, die man beobachtet, eine Folge der Pandemie oder der Impfdebatte ist, sondern dass umgekehrt die Pandemie auf eine bereits vergiftete und kaputte Gesellschaft traf, und der gesellschaftliche Großschaden sie außer Lage versetzt hat, mit einem Vorgang wie der Pandemie noch umzugehen.

Ich habe heute irgendwo gelesen, dass sie sich in Spanien erfreut wundern, warum auch das Weglassen aller Schutzmaßnahmen nicht mehr zu einem Anstieg der Erkrankungen führt, während in Deutschland die Fälle ansteigen. Man meint, dass der einzig plausible Grund sein könne, dass die Impfquote in Spanien deutlich über 80% liegt, in Deutschland aber weit drunter. Eine vernünftige Debatte ist aber nicht mehr möglich, weil man nur noch gegenseitig aufeinander einprügelt.

Wir haben hier ein massives Misstrauen in alle Politik und Medien.

Und das kommt nicht von ungefähr. Dieses Misstrauen, diese Feindseligkeit hat man sich redlich erarbeitet.

Und von einem Ex-Verfassungsrichter hätte ich da erwartet, dass der sich mal überlegt, welche Rolle dabei das Versagen des Bundesverfassungsgerichts spielt, das auch nur noch als korruptes Parteientribunal und nicht mehr als Grundrechtegericht wahrgenommen wird.

Da sagt der

Di Fabio: Einzelne Maßnahmen, wie eine nächtliche Ausgangssperre, um private Treffen zu unterbinden, waren sicher grenzwertig. Andererseits muss der Staat bei einer dramatischen Zunahme des Infektionsgeschehens auch handlungsfähig sein. Insofern würde ich sagen: Die Maßnahmen waren überwiegend gerechtfertigt. Und die Vorstellung, dass Grundrechte pauschal und undifferenziert außer Kraft gesetzt worden wären, stimmt so nicht.

Doch, das sind sie, nur eben nicht erst jetzt.

Im Prinzip sind alle Grundrechte nach Artikel 3 nur noch ein Lotteriespiel, ob man gerade die persönlichen Interessen und Steckenpferde des jeweiligen Berichterstatters trifft. Und vor allem: Grundrechte haben nur noch die, die sie eigentlich nicht oder kaum haben. Wir haben eine doppelte Umkehrung der Grundrechte:

  • Grundrechte wirken nicht mehr zugunsten der Bürger, nicht mehr als Schutz gegen den Staat, sondern als Brechstange des Staates gegen den Bürger, die Richtung ist umgekehrt worden.
  • Je weißer, männlicher, deutscher man ist, desto weniger ist von den Grundrechten übrig, desto mehr ist man von den Grundrechten ausgenommen.

    Ich zum Beispiel habe weder als Grundrechtsträger, noch als Wähler je die Möglichkeit gehabt, jemals irgendwas zu Migration oder Klimapolitik zu sagen. Es war nie Gegenstand einer Wahl, und wenn man was sagt, kriegt man aufs Maul.

    Im Gegensatz dazu können tibetanische Bergbauern, die mit uns überhaupt nichts zu tun haben, hier per Bundesverfassungsgericht und damit über- und außerdemokratisch und politisch unveränderlich die Klimapolitik vorgeben, obwohl doch die Staatsgewalt laut Grundgesetz vom Volke, also uns und nicht aus Tibet ausgehen sollte.

Und geradezu naiv oder täuschend ist dann das:

Bei Reden anlässlich von Treffen der Verfassungsorgane handelt es sich um Stellungnahmen, nicht um Einflussnahmen. Das Bundesverfassungsgericht lässt sich nicht durch Abendessen beeinflussen.

Na, bei deren Gehalt sicher nicht mit einem Abendessen. Da kommen ja auch eher die Millionen, wie bei Verfassungsrichterin Hohmann-Dennhardt, in Frage, die ja bei Mercedes und VW dicke abgeräumt hat. Lecker zu essen wird sie da wohl auch nicht nur einmal bekommen haben. Und manchmal geht es ja nach Vorkasse, etwa bei Susanne Baer, die die Professur und Lebenspensionierung vorher schon bekommen hat und dann mit passender Richterschuld ins Amt ging, was gut dazu passt, dass sie nicht nur Richterin in eigener Sache ist, sondern auch gleich in allen drei Staatsgewalten gleichzeitig herumturnt.

Außerdem muss man die Verfassungsrichter ja eigentlich auch gar nicht mehr beeinflussen, denn korrupt sind sie ja schon selbst, denn es sticht schon ins Auge, dass sie am liebsten die Verfassungsbeschwerden aus ihrem direkten Freundeskreis und Umfeld annehmen (was den Gedanken aufkommen lässt, dass sie sie gleich selbst schreiben und sich so machen, dass sie per Entscheidung Politik machen können).

Und dass die Parteiverankerung und die Seilschaften bei der Auswahl weit wichtiger als die richterliche Befähigung sind, das sieht ja längst ein Fußkranker.

Und in diesem Zustand des Bundesverfassungsgerichts in seinem Nach-Artikel-3-Koma manifestiert sich der Wertverlust der Grundrechte, deren Wertverlust nicht nur weit schneller galoppiert als der des Euro, sondern im Gegensatz zu dem ins Negative läuft, weil sich die Grundrechte längst gegen deren Inhaber invertiert haben. Inzwischen sind die Grundrechte nur noch das Rhetorikarsenal zum Krieg der Politik gegen das Volk geworden.

Niemand in der Politik, vor allem nicht in CDU/CSU, SPD und Grünen, würde noch jemanden zum Richter wählen, der ernstlich gefährlich oder juristisch werden würde oder könnte.