Womit man heute schon die Leute provoziert…
Eine Zeitgeisttemperaturmesssung.
Es ist noch gar nicht allzu lange her, es fing so auf halber Strecke zwischen meiner Jugend und meinem jetzigen Zustand an, als ein gesellschaftliches Problem begann: Die einen wollten noch provozieren, und die anderen waren durch nichts mehr zu provozieren.
Wir waren zwischendurch mal bei der unprovozierbaren Gesellschaft angelangt. Man konnte den Leuten den nackten Hintern vor die Nase halten, und sie tolerierten es einfach so. Wir seien heute so locker und entspannt. So das Zeitalter der Christopher Street Day-Umzüge. Alles nackt und so. Nicht wenige Fälle von Sex in der U-Bahnstation, während die Züge vorbeifahren und zugucken. Hätte man irgendeiner alten Omi auf der Straße jedwelche entblößten Körperteile dargeboten, wäre die wahrscheinlichste Reaktion gewesen, dass die mit gleicher Geste antwortet und sich zur Schwester im Geiste erklärt.
Wir hatten die unprovozierbare Gesellschaft.
Das hat sich geändert.
Ich schrieb
Ob das jetzt medizinisch richtig ist, da halte ich mich raus, das kann ich nicht beurteilen.
und prompt schreibt mir einer
Guten Abend
Bei aktuell 0,2% positiv getesteten und nach 2 Jahren hirnrissigster Pandemiemaßnahmen halte ich das für sehr provakant um es vornehm auszudrücken.
Aber jedem das seine.
Eine Reihe von Leuten haben mich in letzter Zeit – offensichtlich sehr provoziert – beschimpft. Aber nicht etwa für das, was ich zur Pandemie schrieb, sondern dafür, dass ich nichts dazu schrieb. Und ich auf dem Standpunkt bleibe, dass mir die Sachkunde fehlt, das zu beurteilen und etwas dazu zu schreiben.
Einige fühlen sich provoziert, weil ich mal geschrieben habe, dass ich mich habe impfen lassen und wie ich für mich persönlich zu der Entscheidung kam, mich aber jeglicher medizinischer Ratschläge für andere enthalten habe.
Sind wir nun bei der unnichtprovozierbaren Gesellschaft angekommen?
Eine Gesellschaft, die man schon gar nicht mehr nicht provozieren kann?
Dass ich provozieren würde, egal was ich zur Pandemie schriebe, wäre mir klar, aber dass ich auch provoziere, wenn ich nichts schreibe, lässt eigentlich keinen Raum mehr für eine Verhaltensweise, die nicht provoziert.
Was mich daran erinnert, dass der Effekt nicht völlig neu ist. Als das in den USA mit den Woken so hochkochte, und alles, egal was man machte, dazu führte, dass man geshitstormt, geboykottaufruft und niedergebrannt wird, gab es ja in den USA – ich hatte es im Blog angesprochen – einen Absturz in den Werbebuchungen etwa für den Superbowl, normalerweise das Werbeevent schlechthin. Viele Firmen schalteten keine Werbung mehr, weil sie einfach nicht mehr wussten, wie man noch Werbung machen könnte, von der sich nicht größere Bevölkerungsgruppen für provoziert erklären und den Laden plündern und niederbrennen, Werbung also in jedem Falle negative Wirkung habe.
Der Befund deutet auf so eine Art Seelenentzündung hin.
Früher gab es noch die Kausalkette, dass erst jemand provoziert hat, und sich daraufhin und deshalb jemand provoziert fühlte oder provoziert war. Heute ist das längst andersherum. Heute fühlt man sich provoziert und er erklärt sich für provoziert, und schaut sich dann um, wen man als Verursacher einspannen könnte.
Man sollte bedenken, dass sich alles abnutzt, auch das Provoziertsein. Man hat es dann nicht mehr, falls man es mal braucht.