„Reifezeugnis“
Als man noch Geschichten erzählte.
Ich gucke gerade auf Arte den Tatort „Reifezeugnis“, einer der Tatort-Klassiker überhaupt. Von 1977. Ich habe den schon ein paarmal gesehen, und ich weiß nicht, ob der geplant war oder spontan in das Programm genommen wurde, denn Regisseur war der gerade verstorbene Wolfgang Petersen.
Brüller an dem Film war natürlich Nastassja Kinski. Bildhübsch, perfekt das damalige Schönheitsideal, Tochter von Klaus Kinski, und als Gegenspieler Klaus Schwarzkopf als der nüchterne, beamtenmäßige, fleißig-dröge Kommissar, der sich da durcharbeitet.
Aus heutiger Sicht wirkt der Film langsam, hölzern, ganz einfache Dialogschnitte mit der schweren Kamera, bei der die Leute aus dem Bild steigen, weil die Kamera statisch oder auf einfache Schwenks beschränkt ist. Wenig Action, dialoglastige Szenen, einfache Schauspielerei, bei der die Leute immer schön abwechselnd sprechen und ihre Texte abspulen. Ansichten im „Portrait-Modus“, unterbrochen von kurzen Totalen.
Wie man 1977 eben filmte.
Und doch: Der Film erzählt nicht den „Mord“, sondern die Geschichte, wie es dazu kam, dass dann einer tot war, und wie das dann lief. Eigentlich spielt der Todesfall keine Rolle, ist nur der Aufhänger, warum die Story überhaupt als Krimi gezeigt wird, denn viel interessanter ist das alles, was außenherum läuft.
Und obwohl ich den Film in den letzten 45 Jahren schon einige Male gesehen habe, und obwohl er so langsam und unauffällig erzählt wird, und die Story auch eigentlich so platt ist, finde ich ihn immer noch spannend und besser gemacht, als viele Krimis von heute.
Es gibt da keine Political Correctness, keine Frauenquote, nichts Politisches. Das ganze Ding hat überhaupt kein Umfeld außer der Story, sondern konzentriert sich allein und ausschließlich auf die Akteure, wie die zusammenhängen, welches Verhältnis die Leute zueinander haben, was sie tun. Es wird isoliert eine Story erzählt und nichts sonst hineingetragen. Und wie der Kommissar die Sache auseinanderschält.
Vor allem spielt der Kommissar nicht seine Privatdramen vor, gibt es keine Kritik an irgendwelchen gesellschaftlichen Verhältnissen, keine Zeitgeistdiskussionen.
Es geht nur darum, wie und warum einer stirbt, und wie ein Kommissar herausfindet, was passiert ist.
Und vor allem: Nicht das übliche Schema, dass man 15 Minuten vor Ende der Sendung noch den Falschen verdächtigt, und dann am Schluss erst ein anderer ins Blickfeld rückt, der es gewesen sein muss, weil nur noch 3 Minuten Zeit bleiben, und der noch schnell ein Geständnis ablegt, damit der Zuschauer endlich weiß, was eigentlich passiert ist. Denn hier ist der Zuschauer der Einzige, der von Anfang an alles weiß und genau mitansieht, wie es zum Todesfall kommt, und dann die Handlung beobachtet, bis der Kommissar die Sache aufgeklärt hat.
Warum macht man das heute nicht mehr?
Hat sich das abgenutzt?
Haben die Leute nicht mehr die Geduld?
Muss man die 90 Minuten mit Action und Sozialprobleme vollpacken, um die Zuschauer noch zu halten?
Und trotz alledem war der Film damals ein Skandal, daran kann ich mich noch erinnern. Eine Schülerin, die was mit dem Lehrer hatte. (Obwohl es so einen Fall an meiner Schule auch gab, eine auffallend gut aussehende sehr sportliche Schülerin mit Wahnsinnsfigur war dann gleich nach dem Abi „offiziell“ mit dem ebenfalls auffallend gut aussehenden Sportlehrer zusammen.) Ich kann mich noch an die Riesen-Diskussion erinnern, die der Film damals lostrat, worüber sich alle aufregten. Lehrer geht mit Schülerin fremd. Wie kann man nur, so ein Thema, Skandal!
Und noch schlimmer: Der erwachsene Schauspieler Christian Quadflieg treibt es mit der damals noch minderjährigen Nastassja Kinski, und dann sieht man auch noch deren Brüste.
Eigentlich hatte der Film doch etwas mit political correctness zu tun, mit den gesellschaftlichen Konventionen.
Aber damals war es noch Inhalt des Tatorts, die Konventionen zu brechen, und nicht die Konventionen zu diktieren und all jene zu beschimpfen, die sich ihr nicht unterwerfen.
Damals hat man Skandale noch gemacht und Regeln gebrochen, statt alle anderen dessen zu beschimpfen.
Nachtrag: Der war damals sogar noch 109 Minuten lang, nicht 90.