Nachtschicht
Ein Leser fragt an.
Lieber Herr Danisch, Sie leben doch permanent auf Nachtschicht. Stimmt?
Können oder wollen Sie nicht anders?
Geht zwar nichts an, interessiert mich aber.
Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Und manchmal täuscht es auch einfach, wenn ich aus einer anderen Zeitzone schreibe.
Ja, ich bin vom Tag-Nacht-Rhythmus, besser gesagt Chronotyp, eindeutig vom Typ Eule, nicht Lerche. Ich komme morgens nicht aus- und abends nicht in das Bett. Und fand das immer hundsgemein, dass knappe Güter morgens nach dem Schema first come, first serve verteilt werden. Der frühe Vogel fängt den Wurm. Für jede Gruppe gibt es längst Gerechtigkeitskrieger, nur nicht für Eulen. Ob Parkplätze, gute Plätze im Hörsaal oder Sonderangebote bei Aldi: Wenn sie knapp sind, sind sie weg, wenn ich komme.
Und es ist ja noch viel schlimmer: Ich schlafe nicht nur lange, sonder mich ereilen dann im Badezimmer die kreativen Phasen, ich brauche oft länger im Bad als jede Frau. Kann nämlich passieren, dass ich splitternackt eine Stunde vor dem Waschbecken hin und hergehe, anstatt endlich die Zähne zu putzen, weil mir irgendwas einfällt, worüber ich sofort nachdenken muss, oder irgendwas gesehen habe, weil ich meine Mail- und Medienschau morgens im Bad anfange. Manchmal treibt’s mich da um. Und wenn ich die Sache durchdacht und die Zähne geputzt habe, dann brauche ich die heiße Dusche, um daraus aus was zu machen. Sagt’s nicht den Grünen, aber das kann dann auch dauern. Wenn ich aus dem Bad komme, ist es spät, aber die Ideen für den Tag sind überwiegend schon gemacht. Und mancher Blogartikel im Kopf schon geschrieben.
Dafür werde ich dann erst so richtig aktiv, wenn andere längst im Tiefschlaf sind. Ich mag es nicht nur, wenn es Nacht, finster, stille ist, es könnte auch damit zusammenhängen, dass mir das Fernsehprogramm, soweit es mir überhaupt noch zusagt, eher um oder ab Mitternacht zusagt. Das hängt auch damit zusammen, dass sie gerade so erbärmlich sparen, dass sie die Nächte mit Wiederholungen und alten Filmen füllen, und früher waren sie eben einfach besser.
Im Studium habe ich mal ein ganzes Semester, in dem ich keine Vorlesungen hören musste (ich habe ja erzählt, warum ich mir meine Hauptdiplomsprüfungen aus der Literatur selbst erarbeiten musste, weil es die Vorlesungen da gar nicht mehr gab), wirklich jeden Tag die Mensa verschlafen. Dafür musste ich den Server-Raum mit den Sun-Workstations (ich hatte einen eigenen Schlüssel) nie abschließen, wenn ich ging, weil da immer schon die Putzkolonne am frühen Morgen da war. Da war ich aber kein Einzelfall. Es gab damals so einen Witz, der rumging: Warum müssen Informatiker einmal in der Woche schon um sechs Uhr aufstehen? Weil um halb sieben die Läden zu machen. (Für die jüngeren unter den Lesern: Damals gab es einen gesetzlichen Ladenschluss um 18:30).
Und wenn ich mal na etwas dran bin, dann wird es gerne auch mal drei oder vier Uhr morgens.
Warum ist das so?
Ich weiß es nicht. Aber ich habe eine Vermutung.
Nach meinem Eindruck, und ich merke das beim Reisen durch andere Zeitzonen, hat der Körper nicht nur eine innere Uhr, sondern mindestens drei, die bei mir auch unterschiedlich lange brauchen, bis sie sich an eine geänderte Zeitzone adaptiert haben: Das Zeitgefühl (wie spät ist es gerade), die Verdauung (wann habe ich Hunger, wann muss ich auf den Topf), und das Schlaf- und Müdigkeitsgefühl. Manchmal stört das gewaltig, aber manchmal führt das auch zu seltsamen Effekten: Normalerweise funktioniert bei mir kein Wecker auf Dauer, weil ich mich daran gewöhne und davon dann nicht mehr aufwache. Umgekehrt ist es mir aber schon sehr, sehr oft, fast mit Verlässlichkeit passiert, dass ich einen ganz wichtigen Einzeltermin außer der Reihe hatte, noch den Wecker gestellt habe, und dann punktgenau ein, zwei Minuten oder auch nur 10 Sekunden bevor der Wecker angeht, aufwache und dann auch sofort voll wach bin. Das geht aber immer nur ein- oder höchstens zweimal hintereinander. Es zeigt mir aber, dass diese inneren Uhren sehr präzise sein können. Es ist mir auch schon passiert, dass mich jemand nach der Zeit fragte, keine Uhr da war, ich geschätzt habe, und ziemlich nahe dran war.
Und ich glaube, eine meiner Uhren geht falsch. Die für den Schlaf.
Ich glaube nämlich, dass mein natürlicher Tagesrhythmus nicht 24 Stunden, sondern 24 Stunden und so ungefähr 10 Minuten lang ist. Das ist nämlich die Zeit, die ich dann, wenn ich gar keine zeitlichen Zwänge habe, jeden Tag später ins Bett gehe als den Tag zuvor.
Das war nicht immer so. Als ich von der Grundschule aufs Gymnasium kam und nicht mehr zu Fuß hingehen konnte, sondern mit dem Bus in eine andere Stadt fahren und deshalb musste, hatte mein Vater einen damals topmodernen elektromechanischen Radiowecker mit motorgetriebener Fallblattanzeige (wer nicht weiß, was das ist: Wie in Täglich grüßt das Murmeltier). Ich dagegen bekam einen alten gebrauchten Blechwecker vom Flohmarkt, mit Beulen zwar, aber so, dass der Herzkranke töten und Tote wieder aufwecken konnte. Und ich fand das einige Zeit lustig, ohne Not und Grund morgens um 4 aufzustehen und dann irgendwas zu machen, bis es eigentlich Zeit zum Aufstehen war. Das war aber schlagartig vorbei, als die Pubertät nahte, und vielleicht hat es genau damit was zu tun.
Ich kenne aber auch Leute, die abends um 21 Uhr schlapp machen und dafür vor dem ersten Sonnenstrahl jauchzend aus dem Bett springen. Das sind die Leute, die beim Sonnenaufgang schon oben auf der Alm sein wollen. Ein schrecklicher Gedanke.
Ich weiß jetzt aber nicht, wie ich die Frage beantworte:
Können oder wollen Sie nicht anders?
Fällt das, was ich beschrieben habe, nun unter nicht können oder nicht wollen?
Da kommen wir wieder beim Hirn an und bei der Überlegung und Theorie, dass das Hirn und der Wille maßgeblich von den Organen unbemerkt gesteuert werden.
Das würde bedeuten, dass ich schon anders könnte, aber nicht anders wollen kann.
Denn solange ich nicht zur Arbeit muss und keine Sonderangebote bei Aldi & Co. verpasse, fühle ich mich dabei auch sauwohl und wüsste gar nicht, warum ich anders wollen sollte.