Digitale Degeneration
Ein Leser beschreibt seine Beobachtungen an sich selbst, und ich ergänze um die meinen:
Digitalisierung und Handschrift
Hallo Herr Danisch,
ich habe an mir neben dem Verlust von Schreibmotorik noch einen ganz anderen Aspekt dieser Art von Digitalisierung entdeckt. Die Motorik trainiere ich gerade wieder, die geht erneut flüssig von der Hand, aber die Formulierung von komplexeren Satzkonstruktionen bereitet handschriftlich unerwartete Mühe. Es sind sicher auch „Denkroutinen“ durch die Möglichkeit beschädigt worden, mitten im Schreiben Sätze umbauen, löschen oder inhaltlich mühelos verändern zu können. Ich habe mir offensichtlich angewöhnt, sozusagen drauflos zu schreiben und hinterher oder mittendrin zu ändern. Das schließt ein, dass ich mein begonnenes Geschreibsel einfach nicht zu Ende denken muss, nicht mal bis zum Punkt des ersten Satzes. Die permanente „Rechtschreibkorrektur“ mit ihren „Vorschlägen“ zähle ich auch mit zur Unterstützung der Denkfaulheit. Diese Faulheit könnte aus meiner Sicht in der Folge auch auf alle anderen Lebensbereiche bzw. die Gesellschaft bremsend einwirken, wenn dadurch sporadisches oder unüberlegtes Handeln zur unwidersprochenen Regel würde.
Ich bemerke das an mir wenigstens noch, aber wie soll ein junger Mensch, der in einer derart veränderten Formulierungsumgebung groß wird und sie für normal hält, sich dann einem anspruchsvollen Streitgespräch um naturwissenschaftliche oder technische Themen stellen oder sich darin sogar behaupten können? Dem bleibt nur übrig, entweder abzuschalten oder frech zu werden. Das ist ja im Augenblick auch der Eindruck, den ich von etlichen jüngeren Politikern habe.
Mit freundlichen Grüßen
Ja, der Effekt ist mir auch bekannt.
Mir ist dies auch schon oft aufgefallen, wenn man Bücher mit normalem Prosatext liest, die vor etwa 1970 verfasst wurden, dass die manchmal Sinnsprünge enthalten und nochmal auf ein längst abgehandeltes Thema zurückkommen, weil dem Autor noch was eingefallen ist und so weiter. Deshalb war „Schriftsteller“ früher auch ein sehr angesehener und anspruchsvoller Beruf, weil das erstellen eines ordentlich und linear zu lesenden Textes früher eine sehr anspruchsvolle Tätigkeit war. Deshalb hat man Bücher früher auch erst in riesigen Zettelsamlungen handschriftlich zusammengesammelt, und erst dann an der mechanischen Schreibmaschine niedergeschrieben. Kennt noch jemand die Formulierung „ins Reine schreiben“ oder die „Reinschrift“, also eine saubere Version ohne manuelle Notizen, Streichungen, Ergänzungen, Korrekturen?
Das war übrigens damals auch ein zentraler Bestandteil einer Diplomarbeit oder Dissertation, dass man nicht nur das Gelernte anwendet oder neue wissenschaftliche Erkenntnisse erzielt, sondern sie auch in vernünftiger und lesbarer Form schriftlich fixieren kann, um dann eben Dozent, „Doktor“ zu werden, also Vorlesungen halten zu können. Das war im Prinzip sowas wie eine Gesellen- oder Meisterprüfung mit Probestück.
Das braucht man natürlich alles nicht mehr, seit man mit dem Computer schreibt und jederzeit abspeichern und drin rumändern kann. Heute ist es nur noch beliebiges Geschwätz mit der Anforderung, eine gewisse Seitenanzahl und, je nach Fach, eine gewisse Anzahl von Quellenangaben zu erreichen, und vielleicht noch seinen eigenen Namen fehlerfrei vorne drauf schreiben zu können. Und das hatte ich ja schon in Adele und die Fledermaus beschrieben, dass ich die meisten der heutigen Professoren für funktionale Analphabeten halte, weil die sich nicht mehr vernünftig ausdrücken und schriftlich mitteilen können.
Ich beobachte aber noch etwas anderes an mir:
Als ich noch Übungen, Vorlesungen und sowas an der Uni gehalten habe, merkte ich, wie das die Eloquenz, die Rhetorik geschult hat. Sich vor einen Hörsaal oder einen Seminarraum voller Leute zu stellen und denen was zu erzählen. Ich habe dabei auch immer wieder bemerkt, dass sich das Gehirn darauf einstellen muss. Ich hatte immer wieder dasselbe Phänomen, nämlich dass die ersten zwei Folien eigentlich für den Müll sind, weil ich die ersten paar Sätze sowieso irgendwie verstammele oder Mist rede, bis das Hirn in der Vorlesungssituation angekommen ist, und da irgendwie der Turbo anspringt und ich dann auf einmal schlagartig viel besser wurde und in den Redefluss kam, auf einmal die Sätze, ruhig, flüssig, korrekt, rhetorisch viel besser wurden. Ich habe allerdings auch bemerkt, dass ich in diesem Zustand zwar gut reden und die Leute auch einfangen, wachhalten, zum Zuhören bringen und aufmerksam halten konnte, und es ist mir gerade bei Veranstaltungen mit mehreren Rednern einige Male passiert, dass mir Leute hinterher sagten, mein Vortrag sei der einzige gewesen, den sie bewusst mitbekommen haben, alle anderen hätten sie verschlafen und wüssten nicht, was da gesagt wurde, aber ich meine Fähigkeit zum Rechnen dafür einbüsste, ich schon an leichten Rechenaufgaben plötzlich scheiterte, obwohl ich da eigentlich immer sehr gut und in der Grundschule dauernd „Rechenkönig“ war. Da schaltet irgendwas im Hirn um. Einen ähnlichen Effekt bemerke ich, wenn ich im Ausland bin, und der Teil des Gehirns, der Englisch spricht, erst aufwachen und warmlaufen muss, bevor ich ordentliches Englisch hinkriege.
Es ist jetzt nicht so, dass ich seither keine Vorträge mehr halte, aber es waren halt nur noch so Schulungen und technische Vorträge im Industriebereich, bei denen man häufig das immer selbe sagt, Irgendwie hat das bei mir nicht mehr diesen Effekt hervorgerufen.
Was auch schlimme Folgen hat, ist das Bloggen.
Ich merke nämlich, dass durch den Schwerpunkt auf das Bloggen – und gerade während der Pandemie im Homeoffice und Lockdown habe ich ja fast zwei Jahre lang fast nur noch schriftlich kommuniziert und nur noch vergleichsweise wenig mündlich mit Menschen gesprochen – sich die Fähigkeit zu Formulieren an die Schreibgschwindigkeit anpasst. Manchmal fließen die Gedanken schneller, als man sie aussprechen könnte und flutschen nur so in die Tastatur. Manchmal aber auch fällt mir ein Wort nicht gleich ein, nach dem ich suche, oder entrutscht mir ein Gedanke nochmal, was nichts macht, weil es nicht zeitkritisch ist. Ich habe mich völlig daran gewöhnt, in so einer Situation kurz Pause zu machen, in die Küche zu gehen und was zu essen oder trinken zu machen, mal pinkeln zu gehen, aus dem Fenster zu gucken, die E-Mails checken, bis mir dann einfällt, wie ich weiter machen will.
Das geht aber im normalen Gespräch so nicht, dass man mitten im Satz mal in die Küche geht und den anderen stehen lässt, bis man wieder kommt.
Ich merke deutlich, wie das Bloggen bei mir zwar einerseits die Fähigkeit verbessert, etwas in folgerichtigen oder spannungssteigernden Zusammenhängen darzustellen, ich würde es mal so eine Essay-Fähigkeit nennen, gerade diese Fähigkeit auf der andere Seite aber zu Lasten der Eloquenz und Schlagfertigkeit im realen Gespräch geht, weil man sich einfach auf einen anderen Kommunikationstakt einstellt.
Insofern habe ich nicht nur keinen Zweifel an dem, was der Leser schreibt, sondern kann es sogar positiv bestätigen. Die zeitgemäße Denkprothese Digitalisierung bringt zwar viele Möglichkeiten, schwächt uns aber auch da, wo sie uns Arbeit abnimmt.
Häufig schon haben mich Leute gefragt, warum ich überhaupt noch mit der Tastatur schreibe, und nicht in ein Mikrofon diktiere, damit es die automatische Spracherkennung niederschreibt. Schrecklicher Gedanke. Zumal ich es dann ständig kontrollieren und korrigieren müsste. Ich fürchte vor allem, dass man dann gänzlich in ein umgangssprachliches Gerede zurückfällt.