Der kleine Lord
Ich weiß nicht, wie oft ich den Film schon gesehen habe.
Ein Dutzend Mal?
Zwanzig Mal?
Keine Ahnung, wie lange, aber anscheinend seit es den gibt und der im Fernsehen kommt. Gedreht 1980. Anscheinend ein Remake, denn es gab schon einen von 1936. Und anscheinend noch eine von 1962. Und später noch eine von 1995.
Und dann gab es ja auch mal diese unsägliche feministische Version, in der man die Geschlechter vertauscht hat, Little Lady / Die kleine Lady, in der Christiane Hörbiger weit unter ihren Möglichkeiten blieb, Veronica Ferres lächerlich wie meistens, (ausnehmen will ich da nur die Schauspielerin des Mädchens, Philippa Schoene, die ihre Sache gut gemacht hatte, aber eben für feministischen Quatsch verheizt wurde.Den Film hat man einmal anstelle der 1980-Version gesendet und dann glücklicherweise für immer im Lager verschwinden lassen.
Keine Ahnung, warum ich den Film gerade eben im Ersten schon wieder habe laufen lassen, denn eigentlich mag ich den Film gar nicht. Ich hatte schon 2018 geschrieben, dass mir der Film auf die Nerven geht, weil so plump und dick aufgetragen. Immerhin Obi-Wan Kenobi und Jean-Luc Picard in einem Film.
Das Problem ist halt, es kam nichts besseres, und ich wollte beim Auf- und Einräumen eben irgendwas laufen haben. Das Fernsehprogramm wird immer dröger.
Und obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass man den Film nicht verändert hat, dass er genau so gesendet wurde, sie sonst auch immer, kam er mir diesmal plötzlich ganz anders vor.
Muss wohl an mir liegen, dass ich den Film beim zwanzigsten oder dreißigsten Mal mit anderen Augen gesehen habe und vorher nicht.
Ich habe den bisher immer nur unter dem Aspekt des schrecklichen Vom-Fiesling-zum-guten-Menschen-Kitsch gesehen. Und natürlich auf Grundlage der Unabhängigkeit der USA von der britischen Herrschaft.
Diesmal erschien mir der Film plötzlich wie ein sozialistischtes Propaganda-Video gegen den schrecklichen Kapitalismus, dargestellt von John Arthur Molyneux Errol, Earl of Dorincourt.
Aufgefallen ist mir das dieses Mal gleich am Anfang. Da gibt es eine Szene, in der Cedric zu seinem Freund, dem Gemischtwarenhändler, sagt, dass so wohl nie ein Demokrat werde. Ich habe das bisher immer so einfach eben als „Demokratie“ gesehen, und wäre bisher nicht auf die Idee gekommen, dass damit die Partei „Demokraten“ gemeint sein könnte, und dass der Gemischtwarenhändler und der Schuhputzer der politisch zugehörig wären. Ich habe aber nachgeschaut: Die Story im Film spielt so in den 1870er oder 1880er Jahren (je nachdem, wo man nachliest), die Partei Demokraten wurde aber schon 1828 gegründet, woran ich bisher nie gedacht habe, wenn der Film lief.
Und dann kommt der ganze Schmonzes mit dem armen Farmer Higgins, der krank ist und seine Farm nicht mehr bestellen kann, und verhungern müsste, wenn Cedric ihm nicht geholfen hätte. Und der Junge, der nicht laufen kann, den Cedric auf seinem Pony ins Dorf reitet und ihm Krücken kauft. Und die Instandsetzung dieses Drecklochs, in dem die Menschen da hausen, das ist ja schon irgendwo zwischen Oliver Twist und Karl Marx.
Ich dachte bisher immer, das wäre die Story für diesen Film, aber es gibt viele Versionen davon und ich wusste bisher nicht, dass es da auch schon ältere Versionen gab. Und als ich gerade so googelte, kam ich drauf, dass das schon 1888 am Broadway als Theaterstück aufgeführt wurde und auf einer Novelle von Frances Hodgson Burnett beruht, die als Fortsetzungsstück von 1885 bis 1886 veröffentlicht wurde – also spielte die Story damals in der Gegenwart. Das war kein auf historisch getrimmter Schinken, das war ein hochpolitisches Ding, weil ja damals noch der Konflikt zwischen USA und dem Commonwealth bestand. Die Autorin (1849-1929) stammte aus England, war aber im Alter von 3 in die USA migriert, ist später aber viel nach Paris und England gereist, und war quasi selbst das Vorbild für Cedric.
Und nun wirkt der Film auf mich, als sei er so eine Art getarnte Version des Kampfes der Sozialisten gegen die Kapitalisten, also ob man sie zum Guten bekehren könnte, indem man ihnen sagt, seid doch mal nett.
Komisch.
Zehn, zwanzig, dreißig Mal gesehen, keine Ahnung wie oft, und plötzlich wirkt der Film ganz anders auf mich, nicht mehr als die simple gestrickte Schmonzette für Kinder, sondern als sozialistische Propaganda mit Aromen von Marxismus. Und das würde sehr genau dazu passen, wann und wie das Stück geschrieben und ursprünglich aufgeführt worden war. Und wo. Denn Cedric wächst ja zunächst arm, aber moralisch hochwertig und perfekt auf political correctness getrimmt in den Straßen von New York auf, also genau dort, wo das Stück dann auch als Theaterstück aufgeführt wurde. Also ist die Aussage, wir New Yorker erklären den Briten, wie man sich zu benehmen hat.
Man sollte es nicht überbewerten, denn Erich Kästner hat den Kinderroman Emil und die Detektive, der in Berlin spielt, 1929 geschrieben, und das war nicht so weit weg, da lagen also nur etwa 45 Jahre dazwischen, und es ist erstaunlich, wie sehr sich das Berlin in Kästners Buch schon von dem New York und England im Kleinen Lord unterscheiden. Beides aber Bücher, in denen das Kind der Held ist und die Story bestimmt.
Trotzdem erscheint mir der Kleine Lord nun gerade mit Kenntnis des Hintergrunds als unterschwellige sozialistische Propaganda, und das könnte auch ein Grund dafür sein, warum das jedes Jahr wieder kommt und nicht mehr wie früher Klassiker wie „Wir sind keine Engel“ und sowas.