Ansichten eines Informatikers

Ein Blogger im dreißigjährigen Krieg

Hadmut
3.1.2023 21:32

Ein historisches Detail.

Ein Leser schickt mir zum Artikel über die Feminisierungsgesichtsoperationen, bei denen die Gesichtsknochen abgeschliffen werden, einen Link auf einen Artikel im Spektrum über die Foltermethoden im dreißigjährigen Krieg und die psychischen Folgen, der grausige Folter beschreibt (und gerade sehr heikel ist, weil doch heute eine Meldung umging, dass man im Ukraine-Krieg Folterkammern der Russen gefunden habe und es auch Berichte über willkürliche Folterungen gab. Eine der Foltermethoden, die die da beschreiben ist „plaining there faces“, dem Gesicht mit Hammer und Stechbeitel eine ebenmäßigere, glattere Form zu verleihen und alles zu entfernen, was irgendwie absteht. Ja, da gibt es eine gewisse Parallele.

Was mir daran aber auffiel, ist die Quellenangabe:

Tagebücher und Chroniken berichten nicht nur von der Rohheit der Söldner, sondern schildern auch die Folgen des nicht enden wollenden Kriegs. In den belagerten Städten wie auf dem ausgeplünderten Land kam es zu Kannibalismus. Im 1638 ausgehungerten Breisach seien neben Hunden, Katzen und Mäusen auch Leichen, die man aus ihren Gräbern scharrte, gegessen worden, so der nahe Ulm lebende Schuster Hans Heberle (1597–1677) in seinem »Zeytregister«. Soldaten hätten angeblich sogar Kinder erschlagen, um sich an ihrem Fleisch gütlich zu tun.

Einige Historiker haben versucht, solche Berichte als Ausfluss düsterer Fantasie oder Propaganda gegen den Feind zu diskreditieren. Doch dafür ist die Überlieferung zu dicht; zudem wird sie von der trockenen Statistik der Sterbebücher, Steuerlisten und Volkszählungen gestützt.

Zweifelsohne war der Schuster Hans Heberle mit seinem „Zeytregister“ auch eine Art Blogger, den ein Blog (von Web-Log, Logbuch) ist ja letztlich und dem Sinn nach nichts anderes als ein Tagebuch, eine Chronik. Und der Blogger ein Chronist.

Wikipedia:

Hans Heberle (* 1597 in Neenstetten; † 1677) war ein schwäbischer Schuhmacher, Bauer und Chronist des Dreißigjährigen Krieges. Sein autobiografisches „Zeytregister“ gilt in der Geschichtswissenschaft als wichtiges „Ego-Dokument“ des 17. Jahrhunderts.

[…]

Nachdem er Ende November 1618 Augenzeuge der Großen Kometenerscheinung geworden war, begann Heberle, von dunklen Vorahnungen angetrieben, im Alter von 21 Jahren mit dem Abfassen einer Chronik, die anfangs zunächst nur aus einzelnen Notizen bestand.[1][4][6] Bestärkt wurde Heberle in seiner Absicht, seine Erlebnisse sowie die wichtigen Ereignisse seiner Zeit aufzuschreiben, durch die berühmte „Cometen-Predigte“, die der Ulmer Superintendent Konrad Dieterich am zweiten Adventssonntag des Jahres 1618 gehalten hatte.[4]

Ab 1634 begann Heberle mit der Reinschrift der Chronik und führte diese regelmäßig fort. Der letzte Eintrag stammt aus dem Jahr 1672.[4] Heberles Chronik, eine Mischung von Ereignissen und ihren Folgen, entstand aus Heberles eigener Anschauung und Zeitzeugenschaft, aus Gesprächen mit Reisenden und aus Informationen, die in Flugblättern und Flugschriften übermittelt wurden. Dabei trug er eine Vielzahl von lokalen, regionalen sowie Nachrichten aus dem Alten Reich zusammen.[6] Persönliche Erfahrungen verband er mit der Schilderung von Kriegsereignissen. Seinem eigenen Lebenshintergrund entstammt sein breites Interesse für das Wetter, Naturerscheinungen, Ernte und Preise, die in der Chronik ihren Niederschlag fanden. Auch berichtete Heberle über die Geldentwertung, die in den ersten Jahren des Dreißigjährigen Krieges einsetzte.[2] Heberles Chronik ist durchzogen von Religiosität, Gottvertrauen, aber auch von Humor. Heberle selbst war überzeugter Protestant.[7]

Intensiv dokumentierte Heberle in seinem „Zeytregister“ seine zahlreichen Fluchten, insbesondere in die schützenden Mauern der Stadt Ulm, zu denen die Landbevölkerung ab Weihnachten 1631 durch das Herannahen fremder Truppen immer wieder genötigt wurde.[4] Den Dreißigjährigen Krieg erlebte er persönlich ab 1634, als er nach der Schlacht von Nördlingen erstmals fliehen musste.[7] Seine Fluchten nummerierte Heberle durch, womit er begann, als die Zahl seiner Fluchten noch einstellig war.[3] Bis 1634 hatte die Familie bereits fünfmal fliehen müssen.[3] Im August 1634 flohen die Heberles erneut vor den schwedischen Truppen nach Ulm und kehrten im September 1634 zurück nach Weidenstetten, wo der nur vier Wochen alte Sohn Bartholme starb.[1] Im Winter 1643 musste Heberle mit seiner Familie die Stadt Ulm verlassen, nachdem der Rat der Reichsstadt Ulm die Landbevölkerung unter Androhung von Strafgeldern zur Heimkehr aufgefordert hatte, da die Stadt vollkommen überfüllt war.[5] Im Sommer 1646 notierte Heberle seine 23. Flucht.[3] Bis zum Spätherbst 1648, es war seine 29. oder 30. dokumentierte Flucht, war Heberle über 30 Mal vor plündernden, mordenden und marodierenden Banden unterschiedlicher Kriegsparteien in die Stadt Ulm sowie in benachbarte Dörfer oder in die Wälder geflohen.[4] Den Friedensschluss 1648 erlebte er in der Stadt Ulm.[3][4]

Heberles „Zeytregister“ stellt ein „seltenes Beispiel“ von privaten Aufzeichnungen aus Heberles gesellschaftlicher Schicht des Handwerker- und Bauernstands dar.[6] Es gilt als „einzigartige Hinterlassenschaft eines bäuerlichen Schriftstellers des 17. Jahrhunderts“.[8] Heberles Chronik „zählt zu den bekanntesten Ego-Dokumenten des 17. Jahrhunderts“, da es sich um eine der wenigen Darstellungen des Dreißigjährigen Krieges aus dörflicher Perspektive handelt.[9]

Zweifellos die damalige Form eines Blogs. Und er wurde von den Historikern ja auch angezweifelt und als Verschwörungstheoretiker hingestellt wie ein Blogger.

Nachtrag: Da kann man ein paar seiner Texte lesen.