Ansichten eines Informatikers

Faden gezogen

Hadmut
11.4.2023 1:52

Leute, ich leide unter Zeitschwund.

Kennt Ihr den Film „Krieg der Eispiraten“? In dem einer an Zeitschwund erkrankt und dem die Zeit verloren geht, der vorzeitig altert?

Ich hatte mir noch in den Finger geschnitten und war im Krankenhaus, zum Nähen. Eine Naht und zwei Wundnahtstreifen.

Nachdem im Arztbrief stand, dass man den Faden nach ca. 12 Tagen ziehen soll und der Fingerschnitt am Mittwoch vorletzter Woche, am 29.3., passiert war, habe ich mir vorhin den Faden gezogen.

Wie ich so dasitze, das Pflaster entfernt und den Faden und die immer noch etwas blutverklebte Wunde erst mal mit Desinfektionsmittel eingeweicht habe, damit man sich beim Durchziehen keinen Mist in den Fadenkanal reinzieht, ging mir so durch den Kopf: Verdammt. Wie kann das sein, dass das schon 12 Tage her ist? Es kommt mir schier vor, als sei es gestern erst gewesen. Wo zur Hölle sind diese 12 Tage hin?

Nicht, dass es direkt etwas mit dem Finger zu tun hatte, nur war das eben ein Ereignis, das im Gedächtnis blieb, und dessentwegen ich genau 12 Tage abgezählt habe.

Irgendwie genau dasselbe Gefühl wie Weihnachten oder Silvester. Da denke ich auch immer „Was, schon wieder? War doch erst eben…“

Es ist der Alltag. Der Trott. Psychologen haben das schon untersucht. Die Zeit eilt nicht schneller, nur fehlt uns hinterher die Erinnerung, das Zeiterlebensgefühl, wenn immer dasselbe passiert. Das legt das Gehirn nicht mehr ab.

Ich kenne nur ein Mittel, das dagegen hilft und die Zeit wieder dehnt, als würde man Bänderdehnübungen machen: Reisen. Fremde Länder, fremde Kulturen, fremde Leute, fremde Sitten, fremdes Essen, fremde Betten, je fremder desto besser. Das Gehirn mit Neuem konfrontierten. Es dazu zwingen, sich etwas zu merken. Dann kommen einem drei Tage plötzlich wieder ewig lang vor. Dann kommen einem zwei Wochen so lang vor, dass man sich fast nicht mehr an die Hinreise erinnern kann, weil sie schon so lange her ist. Mir kamen 10-Tagesreisen schon viel, viel länger vor als jetzt die 12 Tage seit dem Schnitt in den Finger.

Gruselig.

Ganz gruselig, wo einem die Lebenszeit in der monotonen Langweiligkeit des Alltags hinversickert.