Wie leben wir in 10 Jahren?
Danisch fragt sich – und weiß es selbst nicht.
Es gibt Leute, die behaupten, und machen sogar ziemlich viel Geld damit, indem sie das auch gegen Bezahlung gegenüber denen, die zahlen, einzeln behaupten, dass man alles wegwerfen müsste, was man zwei Jahre nicht mehr benutzt hat. Solche Aufräum-Profis, wie man sie nennt, oder ähnliche Bezeichnungen. So eine Art McKinsey für Privatpersonen.
Ich halte diese Leute für Idioten. Solche, die noch nie etwas anderes gearbeitet haben als anderen Geld dafür abzuknöpfen, dass sie ihnen dumme Dinge sagen.
Freilich, man kann ohne alle Dinge leben, die man seit zwei Jahren nicht mehr verwendet hat. Wenn man nichts in der Birne hat und keinen geistigen Beruf ausübt.
Sobald man aber einen Beruf ausübt, einer geistigen Beschäftigung nachgeht, oder auch irgendeiner anderen, deren Wissensschatz, deren Ausbildung eine Art kumulativen Charakter hat, eines auf dem anderen aufbaut, funktioniert das nicht. Man kann auch bein einem Hochhaus die untersten drei Etagen nicht wegwerfen, weil man sie nicht mehr braucht.
Natürlich muss man ab und zu mal ausmisten und Altes rauswerfen, sonst wird man Messie. Sonst ist man Messie. Ich weiß, wovon ich rede. Ich kannte mal einen. In dessen Wohnung ging keine einzige Tür mehr richtig auf, weil er irgendwie zu der Überzeugung gekommen war, dass Dinge einfach so verschwinden und nicht mehr im Weg stehen, wenn man sie hinter die Tür stellt. Aber hinter Türen ist, das muss man konstatieren, vor allem dann, wenn sie an einer Wand sind, eigentlich sehr wenig Platz. Das wohnt dann nicht gut. Er hatte irgendwann mal damit angefangen, etwas hinter eine Tür zu stellen, und das lief gut, weil es irgendeine Kleinigkeit war, die hinter eine Tür passte, ohne zu stören. Er konnte dann aber nicht einsehen, dass sich die Vorgehensweise nicht nach dem Gerechtigkeitsprinzip identisch auf alle Dinge anwenden lassen, sondern sich die Dinge hinter der Tür kumulieren. Und sobald die paar Zentimeter hinter der Tür gefüllt sind, schlägt die Realität unerbittlich zu und die Tür geht nicht mehr ganz auf. Da hilft auch kein Ignorieren, keine geisteswissenschaftliche Herangehensweise. Das ist dann so, ob einem das gefällt oder nicht.
Ich verkneife mir seither mit Bedacht, Dinge hinter Türen zu stellen. Außerdem habe ich festgestellt, dass sich da hinter den Türen besonders viel Staub sammelt, und ich mag es einfach, wenn man da gut mit dem Staubsauger hinkommt.
Was, bedauerlicherweise, selbst unter Meidung der paar Zentimeter hinter den Türen nichts an dem grundsätzlichen Problem ändert, dass das Volumen der Wohnung nicht nur endlich, sondern auch von bedrückender Konstanz ist. Die Wohnung bläht sich nicht auf, die beult sich nicht aus, wenn man Krempel reinstopft.
Was wohl oder übel und früher oder später dazu führt, dass man ausmisten muss. Dass irgendwas raus muss.
Die zentrale Frage ist: Wie geht man vor?
Ginge ich jetzt in Rente, wüsste ich, was ich rauswerfen könnte und würde. Das Problem ist, dass ich noch mindestens 10 Jahre bis zur Rente brauche, weil man ja nie weiß, welches Rentenalter sie bis dahin haben und ob man überhaupt noch eine Rente bekommt.
Ich trage meine Anzüge seit Jahren nicht mehr. Ich habe fast zwei Kleiderschränke voller Anzüge, Sakkos, Hosen, Krawatten. Und eigentlich gar keine Lust, noch mit Anzug und Krawatte rumzulaufen. Aber soll ich sie deshalb alle wegwerfen? Einige der Krawatten, der Hemden, selbst zwei Sakkos habe ich noch nie getragen, da hängt noch das Herstellerschild dran oder sie sind noch in der Verpackung. Ich hatte mal einen gewissen „Verbrauch“ an Hemden, weil Hemden nun mal nicht allzu lange gut aussehen. Freilich könnte man sagen, dass man lieber wenige, und dafür gute Hemden kauft. Von wegen. Ich hatte mal einen Chef, der sich zur Witzfigur machte, weil er nur ganz wenige, aber sündhaft teure Hemden hatte, das ersichtlich richtig gute und teure Qualität. Wohl auch maßgefertigt. Aber die halten eben auch nicht so wahnsinnig lange, und der sah dann aus wie ein Penner, der irgendwo mal teure Klamotten abgestaubt hat und seit Jahren darin lebt. Ich habe bessere Erfahrungen damit gemacht, gewöhnliche Warenhaushemden zu nehmen und dafür immer einen gewissen Vorrat zu halten, immmer ein paar Neue parat zu haben, wenn sie mal tiptop aussehen müssen, und sie ansonsten normal zu benutzen und zu bügeln, und sie dann eben wegzuwerfen, wenn die Kragenspitzen durch sind (ich bevorzuge farbige Hemden, da sieht man das dann leider gleich, wenn die weiße Innenfüllung durch die farbigen Stoffe durchstößt) oder sich selbst mit einer richtig guten Dampfbügelstation nicht mehr glatt bekommen lassen. Irgendwann kurz nach der Hochzeit meines Hemdendurchsatzes und meiner Vorratshaltung, namentlich mit dem Umzug von München nach Berlin, habe ich aufgehört, Hemden am Arbeitsplatz zu tragen. Ungefähr gleichzeitig mit Dilbert, der ja auch irgendwann damit aufhörte. Seither hängt und liegt der Krempel rum.
Oder Bücher.
Oder Ordnungskram, Boxen zum Aufräumen und sowas.
Werkzeug.
Als das mit der Corona-Pandemie losging, habe ich meinen Esstisch im Wohnzimmer umfunktioniert und dort für die vielen Videokonferenzen einen Arbeitsplatz mit Kamera, Licht und Green-Screen eingerichtet, weil mir das so auf die Nerven ging, dass so viele Leute mit unscharfen Notebook-Kameras arbeiten und ihr unaufgeräumtes Wohnungsdurcheinander zeigen. Gibt ja so viele Videos, auf denen dann die Freundin nackt oder der Gatte in der ausgleierten Feinripp im Bild rumläuft, weil sie nicht merken, dass man gerade in der Videokonferenz steckt. Und ich den Esstisch sowieso nicht mehr brauchte, weil ich ich nur bei Besuch verwende, und kein Besuch mehr kam.
Was davon aber braucht man noch?
Es wäre einfacher, wenn man wüsste, was einen in den nächsten 10 Jahren erwartet.
Es ist nämlich ein Unfug, alles wegzuwerfen, was man seit 2 Jahren nicht mehr brauchte. Man kann höchstens das wegwerfen, was man in den nächsten 2 Jahren nicht brauchen wird. Weil man ausrechnen kann, dass ab einer bestimmten Lagerzeit die Kosten für die Lagerung über den Neubeschaffungskosten liegen (wenn es keine Inflation gibt).
Wie aber sollte man heute in der Lage sein, zwei Jahre in die Zukunft zu schauen?
Oder gar 10?
Eigentlich nämlich habe ich gar nicht mehr vor, Dinge noch einmal neu zu kaufen, die ich nur beruflich brauche, und die noch 10 Jahre zu gebrauchen sein könnten.
Wenn es dann irgendwann auf das Ende des Berufslebens zugeht, auch wenn es noch ein paar Jahre sind, will man eigentlich nicht mehr ständig alles rauswerfen, wenn es verbraucht und abgeschrieben ist, und neu kaufen, sondern sich irgendwann mal darauf einrichten, dass man es eigentlich nicht noch einmal kaufen will. Was in der IT nicht leicht ist, aber ich rede ja auch von Krawatten und solchem Zeug.
Die Politik will uns ja auf möglichst wenig Platz zusammenpferchen.
Das ist aber nicht „nachhaltig“, weil man dann nämlich ständig wegwerfen und neu kaufen muss. Weil der Platz nicht reicht. Man braucht nun mal einen gewissen „Pufferraum“, wenn man nicht ständig kaufen und wegwefen will.
Die Frage ist aber durchaus:
Wie werden wir in 5 oder 10 Jahren leben?
Es gibt Leute, deren ganzer Besitz in eine Tasche oder ein Auto passt, die fast nichts haben außer einem iPhone, einem Notebook und drei Unterhosen und ihre Daten in der Cloud speichern. Aber wer traut heute einer Cloud?
Und wie lange funktioniert diese Eigentvirtualisierung überhaupt noch?
Was, wenn wir keinen Strom mehr haben? Wenn es kein Klopapier und keine Nudel mehr zu kaufen gibt? Wenn die Versorgung nicht mehr kontinuierlich funktioniert? Hatten wir ja gerade schon oder wir standen kurz davor. Früher hatte ich wenig in der Küche, weil ich hier direkt vor der Nase drei Supermärkte habe, die bis abends um 10 geöffnet haben. Als das mit Corona losging, habe ich mir erst einmal drei Regale in die Küche gestellt – und die aufgefüllt. Was, wenn man unter Quarantäne gestellt wird und nicht einkaufen kann? Oder wenn der Supermarkt mal ein, zwei Wochen nicht öffnen kann?
Erst hieß es, alle, die für mehr als 3 Tage Vorräte haben, sind „Prepper“, „Reichsbürger“, „Rechte“. Spinner. Verschwörungstheoretiker. Weltuntergangsphantasten. Dann hieß es, dass wir uns alle für zwei, drei Wochen eindecken sollten und müssten. Ach ja, und dass die Welt untergeht heißt es ja jetzt auch offiziell.
Was also ist die richtige Menge an Zeugs, was man in der Wohnung hat?
Was wirft man raus und wann?
Wirft man das alte hässliche abgesessene Sofa raus, weil man sich ja ein neues kaufen könnte, oder behält man es, weil ja keiner mehr vorbei kommt, der es hässlich finden könnte?
Wir leben in einer Zeit, in der man kein Jahr mehr voraus sehen kann. Kein Mensch weiß, was unserer Ampelregierung in einem halben oder einem viertel Jahr einfallen wird. Eigentlich wissen die nicht mal selbst, was ihnen morgen einfallen wird.
Wie also plant man für die nächsten 10 Jahre?
Sollte man einfach alles rauswerfen und sich darauf verlassen, dass man alles, was man brauchen könnte, dann einfach bei Amazon anklickt und am nächsten Tag bekommt?
Ihr werdet lachen. Genau so etwas hatte ich mir angewöhnt, und gerade per Zypern mit gewisser Demut wieder abgewöhnt, weil es viele Dinge in Zypern nicht gibt (nämlich, weil die normale Bevölkerung dort meint, dass man sie nicht braucht, denn was man braucht, gibt es dort auch, aber die Vorstellungen davon sind eben andere als hier), und Bestellungen von Amazon sind mit teuren Paket- oder Frachtgebühren verbunden und können auch mal zwei, drei, vier Wochen dauern, je nachdem, wie man bestellt. Deshalb geht das Prinzip „on demand“ dort nicht, man kann sich dort nicht darauf verlassen, dass man einfach alles am nächsten Tag geliefert bekommt, was man brauchen könnte, wie es in Berlin ist. Dort muss man sich überlegen, was man brauchen könnte, und dafür sorgen, dass es da ist. Ich habe in Zypern keine Krawatte. Keine Einzige. Auch keinen Anzug. Aber vorsorglich, was man am Strand brauchen könnte. Weil ich dort gewissen Vorstellungen davon habe, wie ich die nächsten 10 Jahre verbringen werde.
Aber was ist mit Berlin?
Werden wir in 5 Jahren überhaupt noch permanent Strom haben?
Ich schreibe seit Jahren nur noch am Computer, aber werde ich in 3 Jahren wieder Papier und Stift brauchen, um schreiben zu können?
Ich habe in Berlin einen großen, aber alten Fernseher. Etwa 11 Jahre alt. Und weil der nicht mehr so modern ist, habe ich einen DVB-T2-Receiver, einen Amazon Firestick und eine Soundbar dran hängen. Weil der Fernseher so veraltet ist, dass er eigentlich gar nichts mehr kann als das anzuzeigen, was auf HDMI reinkommt. In Zypern habe ich mir einen neuen Fernseher gekauft. Etwas größer, modern. der hat das alles schon drin. Nun stellt sich mir die Frage: Verwende ich das Gestrüpp von Krempel mit meinen vier bis fünf Fernbedienungen hier weiter, weil ich es nun einmal habe, und eigentlich auch nur noch selten benutze, bis es eben kaputt ist, oder schmeiße ich alles raus und kaufe mir einen neuen Fernseher wie auf Zypern? Geld raus, aber dafür eine frische Sache, die wieder alles in einem Gerät kann? Benutzt man alte Dinge, solange sie verwendbar sind, oder ersetzt man sie durch neue, die das einfacher und vielleicht stromsparender können? Bis sie auch veraltet sind, denn mein Fernseher war auch mal neu und modern?
Will sagen: Ich müsste zu jedem Gegenstand, den ich habe, eine Entscheidung darüber treffen, ob ich ihn in Zukunft, vielleicht so in den nächsten 10 Jahren, noch brauchen werde oder nicht, und wie hoch die Wiederbeschaffungskosten sein werden.
Aber wie soll man heute wissen können, was man in den nächsten 10 Jahren noch brauchen wird? Ich habe nicht einmal eine Vorstellung davon, wie dieses Land in einem Jahr aussehen wird, ob es dies dann überhaupt noch als „Land“ geben wird. Ob wir dann noch eine Zivilisation haben.
Wie also soll man seinen privaten Kram, seine Lebensführung planen und sich einstellen können, wenn man nicht weiß, was kommt?
Wie werden wir in den nächsten Jahren leben?
Ist es vielleicht vergebens, sich überhaupt noch irgendetwas zu kaufen? Ist das einzige, was man noch braucht, ein griffbereiter Flucht-Rucksack?
Was also tun?