Von Tütensuppen, Mindesthaltbarkeitsdaten und Faktenvercheckungen
Ein Leser zweifelt meine Erinnerung an.
Ein Leser meint, dass meine Erinnerungen zur Tütensuppe nicht stimmen könnten, weil ja eine Suppe in den 60ern hergestellt worden sein müsste, um etwa gleich alt wie ich zu sein, das Mindesthaltbarkeitsdatum aber erst 1981 eingeführt worden sei, das also nicht stimme.
Nun kann ich heute nicht mehr sagen, wann genau das Tütensuppengespräch stattfand, zumal es in Wirklichkeit mehrere Streitgespräche waren und das Thema alle paar Jahre wieder aufkam. Einige dieser Gespräche fanden auch während meiner Studienzeit noch statt. Und meine Frage, warum die Tütensuppe so alt sein muss wie ich selbst, war sicherlich auch eher rhetorisch-sarkatisch, als kalenderpräzise.
Der wesentliche Punkt ist aber: Typischer Google-Fehler.
Man googelt sich irgendetwas, hat irgendein Datum gefunden, meint dann so im Stil der Faktenchecker, irgendwen widerlegt zu haben. Und hat sich damit nur Halbwissen, aber kein richtiges Wissen angeeignet. So typisch falsches Lexikonwissen.
Es ist nämlich keineswegs so, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum 1981 eingeführt wurde. Da wurden nur die Pflicht dazu und die Bezeichnung „Mindesthaltbarkeitsdatum“ eingeführt. Tatsächlich hatten manche Lebensmittel, nämlich die der seriöseren Hersteller, auch in den 70er Jahren schon aufgedruckte Angaben zur Haltbarkeit. Aber eben nur freiwillig, nur manche Hersteller, und jeder machte das nach Gutdünken und irgendwie anders. Vor allem war es verwirrend, weil die meisten Hersteller nur das Herstellungsdatum angaben, und entweder nur vage oder gar keine Angaben zur Haltbarkeit machten. Das führte zu Verdruss bei der Auslegung der Angabe, weil man ja nicht wissen konnte, was das bedeutet, wie lange das haltbar ist. Deshalb war die Neuerung damals, dass man nicht mehr das Herstellungsdatum angibt und – vielleicht – auf die Packung schreibt, dass das zwei Wochen haltbar ist, oder auch gar nichts, weshalb man eben das Gesetz machte, dass Mindesthaltbarkeitsdatum draufstehen muss. Man hat aus der üblichen Angabe des Herstellungsdatums eine verpflichtende Angabe des Mindesthaltbarkeitsdatums gemacht.
Ich kann mich noch an die Diskussion erinnern, dass die einen es gut fanden, weil es das Verständnis erleichterte. Andere fragten, woher man das wissen will, wie lange etwas hält. Und wieder andere waren dagegen, Lebensmittel auf Verdacht wegzuwerfen, obwohl sie noch gut sein könnten.
Letztlich aber obsiegte die Auffassung, dass es nicht das Risiko des Kunden sein könnte, das Zeug zu kaufen und dann festzustellen, dass es zu alt ist. Da war aber einiges los damals.
Man muss sich allerdings auch klar machen, dass abgepackte Lebensmittel und große Supermärkte erst in den 70er Jahren aufkamen. Und deshalb auch erst der Bedarf für so eine Datumgsangabe. Bis Anfang der Siebziger war das nämlich noch so, dass man die Lebensmittel frisch beim Bäcker, Metzger und so weiter gekauft hat, abgewogen, eingepackt. und es da diese Angabe nicht gab. Manchmal hat der Metzger mit Bleistift etwas auf das Papier geschrieben, in das das Fleisch eingewickelt wurde.
Erst in den Siebzigern kam das in Mode, dass man fertig abgepackte Lebensmittel aus der Fabrik in einem Supermarkt kaufte, in dem es alles gab, statt lauter Einzelhändler, analog zum Warenhaus. Das hat auch mit der Entwicklung von Kühlketten, Kühl-LKW, Kühltruhen und vor allem dem Aufkommen der Selbstbedienungsläden zu tun. Da gab es dann diese riesigen Einkaufszentren und Supermärkte vor den Städten. Ich kann mich noch erinnern, damals zur Eröffnung im Rhein-Neckar-Zentrum gewesen zu sein, das war damals so die neue, moderne Form des Einkaufens. Prinzip Shopping Mall. Man fuhr raus, und hatte dann viele Läden auf einem Haufen, als Alternative zum bisherigen Kaufhaus wie Horten, in denen alles auf engem Raum zusammengepfercht war. Riesige Verkaufsflächen, riesige Supermärkte, riesige Spielzeugläden und Außenaktionen. Ich habe dort mal auf dem Parkplatz bei einer Vorführung zum ersten Mal gesehen, wie die Feuerwehr mit – damals ganz neuen – hydraulischen Spreizern ein Auto aufgeschnitten, die Türen geöffnet und so weiter hat.
Und da kam das auch auf, dass man eben nicht mehr zum Bäcker und zum Metzger seines Vertrauens ging, und für den Kaffee zu Tchibo oder Eduscho, wie das in den 60ern noch üblich war, sondern man ist eben samstags raus vor die Stadt gefahren und hat dann dort alles eingekauft. Damals war das noch so, dass Dinge wie Waschpulver und so weiter nicht möglichst klein als Konzentrat, sondern umgekehrt möglichst groß waren. Man kaufte riesige Flaschen Weichspüler und enorm große Trommeln mit Waschpulver, von dem man dann auch satte Mengen brauchte. Das Auto war dann gestopft voll. Und dazu gehörte eben, dass man die Sachen nicht mehr offen kaufte und sich in die Papiertüte abwiegen ließ, sondern fertig abgepackt in Einheitsgrößen, Konserven und so weiter. Mikrowellenzeugs. „processed food“, wie das in den USA heißt. Vorverarbeitete Lebensmittel. Und weil man eben nicht mehr direkt mit dem Bäcker oder Metzger sprach, das Zeug vorher nicht sah, und es nicht frisch für einen gewogen und von Hand eingepackt wurde, bestand das Problem, dass die Leute misstrauisch wurden, weil sie nicht wussten, wie lange das Zeug da schon rumliegt. Und deshalb hat man damals angefangen, das Herstellungsdatum auf die Waren zu drucken. Und ich kann mich auch erinnern, dass das auf den Milchtüten schon um 1970 stand, das war oben auf den Falzrand gedruckt. Oder eingebrannt.
Weil es aber nicht alle machten, und die, die es machten, nach Lust und Laune unterschiedlich machten, und man auch nie wusste, was das Herstellungsdatum ohne Angabe der Haltbarkeit zu bedeuten hatte, hat man das dann eben durch ein Gesetz vereinheitlicht. Aber nicht erst dann erfunden. Und dass das damals große Diskussionen gab, dass man die Haltbarkeit ja gar nicht vorher wissen könne. Dass man es aber eben nicht mehr wie beim Metzger vorher in der Auslage sieht und keinen direkten Kontakt zum Metzger des Vertrauens mehr hat.
Das ist so ein typischer Fall von Google-Falschwissen nach Art der Faktenchecker, die irgendwas finden, was missverständlich formuliert ist, daraus falsche Schlüsse ziehen, und sich dann wie die großen Faktenchecker vorkommen, weil sie was gegoogelt haben.