Die Tickertape-Synästhesie
Neues Wort gelernt.
Leserzuschrift zum Phänomen der Vertauschung von Silben mit phonetisch ähnlichen, aber orthographisch und etymologisch völlig anderen Silben beim schnellen Maschinenschreiben:
Hallo Herr Danisch,
ich finde recht interessant, was Sie da anmerken, und wie unterschiedlich Hirne funktionieren können.
Letztens las ich irgendwo im Web über eine begabte Sprachlernerin, dass mein Phänomen einen Namen hat: “Tickertape-Synästhesie”. Diese Frau habe das auch.
Und zwar sehe ich in Echtzeit das geschriebene Wort vor meinen Augen, wenn ich einem Sprecher zuhöre. Und wenn der Sprecher so nuschelt, oder starken Akzent hat, oder ein Wort benutzt, das ich nicht “schreiben” kann, dann verstehe ich den Sprecher nicht.
Ich buchstabiere Wörter auch nicht aus beim Lesen, sondern nehme sie wahr wie chinesische Schriftzeichen. Deswegen macht es mich ungeheuer wütend, wenn sich bei sog. “Qualitätsmedien” Rechtschreibfehler einschleichen, denn das zerstört meinen Lesefluss.
Ich habe keine Ahnung, warum und wann sich das in meinem Hirn so verdrahtet hat, denn normal ist das nicht, weil man als Mensch zuerst Hören und Sprechen lernt.
Als Kind hatte ich ähnliches beim Lesen von Schulbüchern, da hörte ich dann gleichzeitig richtig einen Nachrichtensprecher, mit einer Stimme aus dem ZDF oder ARD, der mir den Text vorlas, und die TKKG-Krimis hörten sich dann an wie ein Hörspiel.
Vielleicht hat es mit meiner Mehrsprachigkeit zu tun: Um mich herum wurde als Kind Deutsch, Türkisch und Mazedonisch geredet, was alle drei sehr unterschiedliche Sprachen sind, und ich lernte in sehr frühem Alter, dass Sprechlaute und Konzepte nicht dasselbe sind und auch austauschbar.
Ich merke das auch, wenn ich Englisch lese und spreche: Da wird eine komplette Toolchain mit Compiler im Hirn getauscht, der Source Code ist weiterhin ein abstrakter Gedanke, aber Syntax und Object File Format (also die gesprochene Sprache) ändern sich. Das dauert eine Weile, während der ich wie ein Deutscher klinge, bis die Toolchain gewechselt ist und Muttersprachler nicht mehr sofort und nur nach genauerem Hinhören merken, dass ich eben kein Muttersprachler bin. Ich denke und formuliere dann auch nicht mehr auf Deutsch; und die Echtzeit-Schriftkonversion beim Hören zeigt mir dann Englisch in korrekter Orthographie an.
Ich habe lange nicht verstanden, dass mein Hirn so funktioniert, denn es erklärt die immensen Schwierigkeiten, die ich mit dem Französischen habe: Während ich Texte inzwischen relativ passabel lesen kann, funktioniert die Echtzeit-Schriftkonversion überhaupt nicht, weil die ganz anders sprechen, als sie es hinschreiben, und deswegen kann ich gesprochenes Französisch kaum verstehen.
Deswegen halte ich die ganzen Sprachkonstruktivisten für dümmer als einen vollgeschissenen Plastikeimer, der aufgrund der Abfallprodukte meines Hirnstoffwechsels in meiner Scheiße einen höheren IQ hätte als diese Witzfiguren in ihrem Hirn.
Habe ich beim Tippen auch so ein Muskelgedächtnis? Ich vermute, ja, allerdings starre ich beim Tippen immer auf die Schrift, und dann wird es direkt komisch, wenn Schrift und Konzept nicht matchen, “Blog” und “Block” klingen zwar ähnlich, aber der Sound ist für mich nicht der Bedeutungsträger, sondern der in Echtzeit gewandelte Sprechklang in Schrift; aber natürlich passieren auch mir Fehler, wenn ich unaufmerksam bin. Oder mir passieren grobe Grammatikfehler, wenn ich einen Satz nachträglich umbaue.
So passiert es auch, dass ich jemanden nicht verstehe, weil ich seinen Sprechklang in das falsche Schriftbild umwandle und das gar keinen Sinn ergibt.
So erzählte mit ein Entwickler einmal von einer “Add()-Methode”, sprach aber das “d” so hart aus, (es klang wie ein “t”), dass ich “At()” las und überhaupt keine Ahnung hatte, was der mir erzählen wollte, und was die Semantik von “At()” denn überhaupt mit dem Ändern eines Objekts zu tun habe.
Freundliche Grüße,
Ich bemerke bei mir einen sehr ähnlichen Effekt: Obwohl ich eigentlich ganz gut und fließen Englisch spreche (oder früher mal sprach, ist in den letzten Jahren vor allem wegen Corona etwas eingerostet), tue ich mir manchmal schwer, wenn mich spontan und unvorbereitet in Deutschland nach längerem Deutschsein jemand auf Englisch anspricht. Ich merke das auf Reisen, dass das Gehirn erst auf die andere Sprache umschalten muss, und der erste Umschaltvorgang etwa 2 Stunden dauert, ein zweiter Schub am nächsten Tag kommt und ich erst nach einigen Tagen wieder richtig drin bin. Deshalb schaue ich mir bei langen Flügen nach Australien, Neuseeland, USA, gerne spätestens den letzten Film im Bord-Entertainment auf Englisch an, damit das Hirn sich schon mal auf Englisch umstellt und aufwärmt.
Einen ähnlichen Effekt hatte ich damals, als ich noch viele Vorträge, Übungen, Vorlesungen gehalten habe: Ich wusste damals genau, dass ich (inzwischen merke ich das schon lange nicht mehr so) am Anfang des Vortrags immer Probleme habe, in den Vortragsmodus zu kommen mit freier, flüssiger, rhetorisch und didaktisch guter Rede. Das hat immer die ersten drei Folien gedauert, weshalb ich auf die ersten drei Folien nie etwas Wichtiges, sondern nur so Überschriften, „Willkommen zu“ und so ein Blabla geschrieben habe, um das Hirn erst mal in den Vortragsmodus zu bringen. Danach war ich ein guter Redner, habe oft Lob für den besten Vortrag des Tages oder der Vorlesungsreihe bekommen, habe aber festgestellt, dass mir in diesem Zustand dann plötzlich das Kopfrechnen sehr schwer fiel, obwohl ich daran sehr gut war. Es scheint, als müsste man für Vorträge und Publikumsinteraktion vom rationalen in den Sozialmodus, in die Rudelbetriebsart umschalten, in der dann der rationale Teil nicht mehr gut funktioniert.