Ansichten eines Informatikers

Vom Ende des Bloggens

Hadmut
17.10.2023 17:13

Das Blog als dem Tode geweihtes Aussterbemodell.

Pietätlose Leserzuschrift:

> Niveauverlust auf allen Ebenen

tja.

Dann ist dir sicher auch aufgefallen, dass die Bloggerei überaltert. Weil niemand mehr schreiben kann. Weil auch bei deiner Kundschaft nur 30+ dabei sein wird…

Weil alle nur noch Videos machen mit Product Placement, sponsor, sponsor stories, click, like & subscribe, ring the bell… bei 15 min Video ist 5 min Vorspann und Boilerplate dabei.

Alles Müll. Enshittyfication.

Sieht man auch daran, dass die Youtuber der ersten Stunde die Schnauze voll haben, im Algorithmus gegen Schminkvideos und türkische Soaps anrudern zu müssen.

Du bist mal ~5 Jahre älter als ich – wie hat man Dir das flüssige Schreiben und formulieren längerer Texte denn so angetragen?

Bei mir wars:

  • Hugendubel Gutscheine (und die Gesichter waren lang, wenn es 100% Fachbücher waren)
  • Ich hatte kein TV auf dem Zimmer
  • ich war in den Bibliotheken Moosburg, Freising und der Schulbibliothek, wo ich nahezu der einzige Leser von Bild der Wissenschaft, Spektrum der Wissenschaft und der original Scientific American war. Eigentlich war der andere Kunde nur ein Physiklehrer, den ich nie hatte, aber den ich immer dort an dem Regal traf. Ich habe heute noch einen Ausweis für die Staatsbibliothek Bayerns (was ich als Bayer halt nutzen darf), weil man da so
  • über private Lesezirkel kamen (in transparenten Prospekthüllen und Heftumschlägen mit abgehakter Leseliste) GEO, PM, Hobbby Magazin der Technik, irgendeine anarchischlinksgrüne Gartenzeitung die später in Kraut&Rüben aufgegangen ist (Titel vergessen, ist auch >30 Jahre her, nach heutigem Wissen auch nur Wiederkäuer von tradiertem Okkultismus) und (Mutti hast es noch heute) Perry Rhodan (“…so ein Schund!!!” 😀 )

Schreiben:

  • Tagebuch hat nie hingehauen. Scheissidee, hat meine Mutti auch komplett falsch eingesteuert. Irgendwas mit Adrian Mole… OMG! Wahrscheinlich wollte sie mitlesen. Ich führe mehrere Journale zu mehreren Tätigkeiten, so.z.B. ein Fornikationsjournal (falls mal wer an der Türe steht und nach “Papa” fragt), und all meinen Versuchen im Garten.
  • Brieffreunde: die “E-Mail von gestern” aus der Schwarzweiß-Zeit. Porto dafür war immer da, ab der Grundschule, als mein bester Kumpel von damals plötzlich nach Kiel raufzog (wir haben uns geschrieben, bis er zum Bund eingezogen wurde), eine Roxane aus Aix-en-Provence, dauerte so anderthalb Jahre, ein deutsch-holländischer Typ den ich am Campingplatz in der Bretagne kennengelernt habe und mit dem ich fast 3 Wochen die Bucht von Concarnau durchschnorchelt habe (Rückweg immer am FKK Strand in Kerler vorbei )

Und dass meine EMails immer länger als andere sind, wird dir schon
aufgefallen sein

Ach, ganz so schlimm ist es nicht, ich habe durchaus auch einige sehr jugendliche Leser. Mir erzählen nämlich oft Leser, die Kinder so ab Teen-Alter haben, dass die auch mein Blog lesen, weil sie das bei den Eltern gesehen oder gehört haben, wie sich die Eltern über Blogartikel unterhielten.

Andererseits beschweren sich nach langen Artikeln (wie dem neulich über die Kontoausforschung) gerne mal so zwei oder drei Leute, dass ihnen die Artikel zu lang sind, ob ich da nicht eine Zusammenfassung davorsetzen oder noch mal eine kurze Version schreiben kann. Und es ist nicht immer so, dass die dann sagen, dass sie keine Zeit haben. Zeit ist natürlich ein Faktor, weil viele Leser mein Blog auf dem Handy auf dem Weg zur oder von der Arbeit lesen. Mir hatte vor Jahren mal einer geschrieben, dass er durch einen Zug gegangen ist und etliche Male meinen Blog-header auf Handy-Bildschirmen gesehen hatte.

Aber grundsätzlich ist das schon wahr, da ist was dran. Ich habe das ja auch schon beschrieben, dass immer mehr durch Videos ersetzt wird, ob nun Anleitungen, Erklärungen und so weiter, oder eben auch Fotografie. Ich finde das ja immer so schrecklich, wenn man irgendein Detail sucht, wie stellt man an Gerät X das Verhalten Y um, und dann statt „Im Menü A, Untermenü B den Wert C auf D stellen“, sondern Youtube-Videos mit Begrüßung und Screencast erklären, wie man irgendwas umstellt.

Außerdem wird ja immer mehr auf Emojis und Zeitgeisthyroglyphen umgestellt, und sprachliche Tiefe durch Videoanimationen und Sound ersetzt. Das Problem an sich besteht.

wie hat man Dir das flüssige Schreiben und formulieren längerer Texte denn so angetragen?

Eigentlich gar nicht.

Im Gegenteil, ich habe an der Schule das Aufsatzschreiben abgrundtief gehasst, obwohl ich in Deutsch, Grammatik, Orthographie damals sehr gut war. Das war so ein Gedanke mit dem Abitur: Endlich, nie wieder Aufsatz schreiben! Hätte mir damals jemand gesagt, dass ich mal über 20.000 Blogartikel …

Ich weiß nicht, wie das gekommen ist.

Ein frappierendes Erlebnis war damals der Grundwehrdienst. Bis dahin kam ich aus einem Altsprachliches-Gymnasium-Umfeld, in dem man als blöd galt, wenn man in zu vielen Fächern nur auf 3 oder schlechter stand. Und dann hatte ich plötzlich mit Leuten zu tun, die kaum lesen und schreiben konnten, und für die die Frage nach ihrem Geburtsdatum eine unüberwindliche Hürde darstellte.

Eine wichtige Rolle hat aber, denke ich, gespielt, dass ich im Studium einige Semester mein Geld als Tutor verdient habe und dann auch Übungen und Vorlesungen gehalten habe, und mir überlegen musste (was ja Wissenschaft eigentlich ausmacht), wie ich komplexe Gedankengänge in begrenzter Zeit und im wesentlichen ohne Dialog, in einer Richtung, so darstelle, dass der andere den Gedankengang auch versteht.

Dazu kam sicherlich der Ärger darüber, wieviele Leute sich an der Universität nicht verständlich ausdrücken können, verschärft um die Erkenntnis, dass bei vielen Leuten das Ausdrucksvermögen nicht das Problem ist, weil man dann, wenn man schon seine eigenen Gedanken nicht strukturieren, sortieren, aufräumen kann, etwas selbst nicht verstanden hat, auch nicht in der Lage sein kann, es verständlich darzustellen.

Und dann eben Adele und die Fledermaus.

Ich stand damals vor dem Problem, sehr komplexe, komplizierte Zusammenhänge, die nicht intuitiv und nicht leicht zu verstehen sind, trotzdem so darstellen zu müssen, dass ich überhaupt eine Chance auf Publikum habe, weil man als Doktorand, der durchgefallen ist, natürlich immer bergauf kämpft und gleich eine ganze Latte an – wie die Juristen sagen – „Präjudizen“ gegen sich hat, als der gilt, der nicht einsehen will, dass er zu doof ist.

Das war so der Punkt, an dem eben klar wurde, dass wenn man dagegen anschreiben will, man es verständlich und nachvollziehbar darstellen muss, auch für Laien, dazu auch in der Lage sein muss, die verbale Keule zu schwingen und draufzuschlagen, und einen trockenen, eigentlich stinklangweiligen und die Öffentlichkeit gar nicht interessierenden Stoff durch Sprache, Witz und Drama so aufzupeppen, dass das auch gelesen wird.

Ich war als Student auch eher so einer, der endlose schlechte, derbe Witze erzählte. Als O-Phasen-Tutor habe ich meiner Gruppe mal eine ganze Woche lang grottenschlechte Witze erzählt, ohne Wiederholungen. Kein einziger davon fällt mir heute noch ein.

Und als Mitarbeiter und in meiner Zeit mit Vorträgen ging es natürlich auch immer darum, die Leute aufmerksam zu halten, auch wenn es eine ganztägige Veranstaltungen ist und ein Vortrag nach dem anderen kommt. Ich mag das aber nicht, wenn ich vorne stehe und sehe, wie die Leute einschlafen oder sich mit irgendwas anderem, ihrem Handy beschäftigen. Es gibt Leute, denen das egal ist, aber mich wurmt es. Also muss man sich überlegen, wie man den Vortrag so aufbaut und präsentiert, dass möglichst wenige schlafen.

Und mit dem Weggang von der Uni hatte ich da dann auch gewisse Entzungserscheinungen. Schreiben war dann für mich so eine Art Ersatzdroge für das Vortragen. Und ich leide jetzt auch nicht unbedingt unter Schreibhemmungen.

Und dann kam eben noch dazu, dass der Arbeitsalltag in deutschen IT-Unternehmen so entsetzlich dröge und hirnflach sein kann, dass man dem Hirn abends einfach Auslauf geben muss.

Aber Blogs werden aussterben. Bald wird wirklich alles nur noch per Video funktionieren, und damit Aufmerksamkeitsspannen im Sekunden- bis 2-Minutenbereich ansprechen.

Ein zentraler Knackpunkt dabei ist, was ja sogar verfassungsrechtlich die Ungleichbehandlung von Presse und Rundfunk verursacht, dass man bei Fotos und Texten selbst denken muss und selbst die Wahrnehmungsgeschwindigkeit bestimmt, während beim Video und Podcast das Medium den Takt vorgibt und man nicht selbst denken muss, weil das Video auch läuft, wenn im Hirn gerade gar nichts läuft. Wir haben keine Kochbücher mehr, sondern wir haben Videos und Küchenmaschinen mit Bildschirmen, die einem zeigen, was man tun soll.

Dazu kommt, dass die Leute nicht mehr selbst emotional oder moralisch reagieren können. Man braucht heute Tonbegleitung und Videoeffekte, damit die Leute wissen, was sie gut oder böse, richtig oder lächerlich finden sollen. Das geht mit Text nicht, aber über Ton- und Videoeffekte sehr gut. Und genau so funktioniert ja auch Jan Böhmermann.