Deutsche Prioritäten
Polizei und Staatsanwaltschaft dienen zunehmend nicht mehr der Verbrechensverfolgung und -bekämpfung, sondern der Oppositionsbekämpfung und dem Machterhalt der Regierung.
Was die Justiz betrifft, heißt der Kronzeuge zur Beantwortung dieser Frage seit einiger Zeit Ralph Knispel. Er ist Oberstaatsanwalt und arbeitet seit 1996 in der Abteilung „Kapitalverbrechen“ in Berlin-Moabit, auch in leitenden Positionen. Sein Alarmruf war das 2021 erschienene Buch „Rechtsstaat am Ende“. Hier ist wohl eine sogenannte Triggerwarnung angebracht: Achtung, dieses Buch ist nichts für schwache Nerven und geeignet, das Vertrauen in den Rechtsstaat zu erschüttern.
Polizei und Justiz haben viel zu wenig Personal und treten mit altertümlicher Ausrüstung gegen einen meist mit modernster Technik ausgestatteten Gegner an. In Moabit stehen nicht mal Farbkopierer für die Tatortfotos zur Verfügung und Staatsanwälte schieben noch mit Bollerwagen Aktenberge über die Gerichtsflure, zur Erheiterung der auf ihren iPhones daddelnden Angeklagten. Jedes Telefonat ins Ausland muss bei der Justiz bewilligt werden.
Von den zu wenigen 425 Planstellen der Staatsanwaltschaft sind in Berlin aktuell noch weniger einsatzbereit, nämlich 345, erzählte Knispel kürzlich in einem Interview des „Stern“. 35.000 offene Verfahren schieben sie vor sich her, oft werde deshalb gar keine Anklage mehr erhoben. Selbst schwere Verbrechen werden in Deutschland manchmal aus Überforderung der Behörden nicht mehr verfolgt und bestraft. Ermittler der Mordkommission müssen nicht selten beim Objektschutz aushelfen, also sich vor Botschaften stellen oder beim Staatsbesuch für die Sicherheit von Präsident Erdogan sorgen.
Aber man bildet eigene Einheiten, die Bloggern das Konto wegschießen, wenn sie eine dicke Politikerin für dick halten, oder Leuten die Wohnung durchsuchen, wenn sie eine Staatsanwältin beleidigen.
Gleichzeitig gibt es einen ganzen Haufen von Politikerinnen, die sich rühmen, Dutzende Strafanzeigen an nur einem Tag zu verschicken, so als ginge es nicht nur um die Bekämpfung jeder abweichenden Meinung, sondern geradezu darum, die Polizei von der Verfolgung von Kriminalität abzuhalten.
Mehr als die Hälfte aller Straftäter in Deutschland werden ohnehin nie ermittelt, Tausende Haftbefehle werden nicht vollstreckt, aus Personalmangel und weil es im Knast keinen Platz mehr gibt.
Knispel erzählte dem „Stern“ von einem mutmaßlichen Täter, gegen den ein Haftbefehl wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung vorlag. Er blieb auf freiem Fuß und beging in der gewonnenen Zeit eine weitere Vergewaltigung, diesmal aber „besonders schwer“ und in einer Gruppe. Allein im Berliner Nahverkehr gab es 2023 rund 300 angezeigte Sexualstraftaten, also etwa eine am Tag. Das macht Frauen den Umstieg vom Auto auf die U-Bahn nicht leichter, trotz 49-Euro-Ticket.
Das beunruhigendste Detail: Bis 2030 geht fast die Hälfte der zu wenigen deutschen Richter und Staatsanwälte in den Ruhestand. Ansätze, die Lücke zu schließen, kann Knispel nicht erkennen. Wohl aber werden der Justiz neue Aufgaben zugeteilt, etwa die Bekämpfung von „Hasskriminalität“ im Netz.
Klar. Die Prioritäten liegen auf der „Hasskriminalität“ – genauer gesagt, dem als „Hasskriminalität“ bezeichneten oppositionellen Denken, denn das ist ja nur das Tarnwort, um noch jede Opposition zu zerstören.
Man hat den Eindruck, dass Recht, Staatsanwaltschaften, Polizei nur noch dem Zweck dienen, die Abwahl der Regierung zu verhindern, nicht mehr dem Rechtsstaat und der Verfolgung von Verbrechen.
Und ausgerechnet diese Leute gegen sich als die Verteidiger des Rechsstaates aus, und bezeichnen ihre Kritiker als „Feinde des Rechtsstaates“.