Ansichten eines Informatikers

Von der Rhetorik

Hadmut
23.6.2024 3:07

Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet ich mal der Archäologie bei einer 2000 Jahre alten Frage mit theoretischer Informatik und modernem Medienwissen weiterhelfen könnte?

Ich war gerade bei der Langen Nacht der Wissenschaft in Berlin.

Etwas unkoordiniert, weil ich das irgendwie übersehen und nicht mitbekommen, erst zufällig nachmittags auf einem Poster gesehen hatte. Ich gehe da notorisch gerne hin, obwohl ich schon sagen muss, dass mir diese Museums- und Wissenschaftsnächte in Dresden und München besser gefallen haben. Nicht nur, weil die länger bis nachts und zwei oder drei gingen, sondern auch, weil die eigene Rundkursbuslinien hatten und alles viel näher beisammen war. Man da einfach einstieg und an der nächsten Haltestelle wieder ausstieg, um sich anzusehen, was es gibt, während in Berlin alles so weit verstreut ist und man mit öffentlichen Verkehrsmitteln über die normalen Haltestellen fahren muss, dass das eigentlich gar nicht funktioniert. Man muss sich da eine Gegend suchen, die man besucht, und dann mit der auskommen, weil man sonst viel zu viel Zeit mit Fahren verliert. Außerdem fand ich die in München und Dresden irgendwie „ernsthafter“ – mehr an Erwachsene gerichtet. In Berlin sind manche Sachen doch recht kindisch.

Obwohl mich zwei Kindersachen heute sehr beeindruckt haben: Die Archäologen in der Humboldt-Universität hatten Ton-Blumentöpfe antik bemalt und dann zerkloppt. Und damit hatten sie dann für Kinder kleine Holzkisten mit den Scherben, damit die dann versuchen konnten, die wieder zusammenzusetzen und mit Klebeband zusammenzupappen. Das fand ich eine ganz famose Idee. Ist auch gut angekommen, denn die allermeisten, die da versuchten, die Scherben zusammenzusetzen, waren nicht Kinder, sondern Frauen im Studentinnenalter. Ich sage ja oft, dass Frauen haptisch veranlagt sind.

Und in der Charite konnten Kinder Chirurgie erlernen, nämlich wie man chirurgisch Schnitte im Fleisch – Operationsschnitte – wieder zusammennäht: Mit echtem chirurgischen Besteck, mit echten chirurgischen Fäden und Nadeln – und an echtem Fleisch. Hühnerbrustfilets. Ich fand das so herrlich, wie da – nur Mädchen – Kinder saßen und sich inbrünstig abmühten, ihre eingeschlitzten Hühnerschnitzel nach Anleitung der Chirurgin wieder zusammenzuflicken und die Knoten fachgerecht mit der Zange zu knoten. Könnten auch Putenschnitzel gewesen sein.

Womit ich auch schon zwei meiner drei Stationen erwähnt hatte. Wie gesagt, hatte ich erst zu spät gemerkt, dass heute lange Nacht war. Eigentlich hatte ich auch was anderes vor und noch was zu arbeiten, dachte mir dann aber, heute nicht, heute mal raus, unter die Leute. War dann eigentlich schon verspätet dran, und bin deshalb, ohne zu schauen, was es da überhaupt gibt, erst einmal zum nächstbesten Ort, den ich zu Fuß erreichen konnte. Die Humboldt-Universität. Von dort dann zum „Einstein-Center Digital Future“ (was auch immer das sein mag oder sein soll), und weiter zur Charite. Weil jeweils in ein paar Minuten zu Fuß erreichbar.

Angefangen habe ich damit, mir einen Vortrag vor der Humboldt-Universität anzuhören (es wurde kostenlos frisches Popcorn dazu gereicht), in dem es irgendwie aus philosophischer Sicht um die Frage ging, wie es passieren konnte, dass Donald Trump irgendwie ein Element der Pop-Kultur, eine Popart-Ikone werden konnte.

Ich fand es furchtbar. Nicht nur, weil es auf mich wie zusammenhangloses, völlig wissenschafts- und weitgehend inhaltsloses Gerede wirkte, und schon die Sätze auf mich den Eindruck machten, als wüsste der Satzanfang nicht, wie und warum sich Mitte und Ende des Satzes nicht vertragen, wirkte auch das, was ich dem überhaupt entnehmen konnte, auf mich unsinnig. Was ich da – auch aus den Fragen des Publikums – heraushörte, war, dass man der Überzeugung ist, dass die linke Meinung – hier der Demokratenpartei – selbstverständlich und fraglos die einzig richtige Meinung sei, und es ausschließlich pathologische Gründe gebe, anders zu wählen: Lügen, Desinformation, Social Media, Einfache Antworten. Ich hatte mal die Frage gestellt, warum man eigentlich immer nur die Frage stelle, wie schräg Trump und wie verblendet seine Wähler sind, aber nie, was die anderen eigentlich falsch machen oder Schlechtes anbieten, damit so viele Leute sogar Trump noch lieber wählten. Es gab eine lange, aber für mich völlig inhaltslose, und vor allem empirie- und wissenschaftlose Antwort. Was bei mir den ohnehin bestehenden Eindruck verstärkte, dass die heutige Philosophie nur noch inhaltloses, zusammenhangloses, willkürliches Gerede ist. Ich fand die Darbietung einfach unmöglich. Die sagte, sie forsche, warum die Leute Trump wählen, und hinterließ bei mir den Eindruck, darüber einfach gar nichts zu wissen, und genau damit an diesem Ort auch durchzukommen.

Überhaupt ist mir das da immer wieder aufgefallen: Wieviele Leute in dieser Universität nur schlechtes oder gar kein Deutsch sprechen, aber auch kein wirklich fließendes. gutes Englisch. Die sich eigentlich nicht fließend ausdrücken können und damit zu der zur Wissenschaftlichkeit erforderlichen Kommunikationsdichte nicht in der Lage sind. Und wie unstrukturiert die Leute reden. Da wird – obwohl das vorbereitet war und die Veranstaltungen immer nur ein paar Minuten dauerten – irgendwie durcheinander geredet, kein durchgehender Gedankengang, vieles irgendwie so geistig hilflos. Nicht in der Lage, sich gedanklich zu sortieren und ein Thema zu präsentieren.

Ich kam bei schwarzen Löchern vorbei. Zweien sogar. Über einen großen runden Kasten hatte man eine elastische Gummitischdecke gespannt, und auf der schwere Stahlkugeln rollen lassen, die umeinander, oder die kleine um die große kreisten, und mit dem Einsinken in die Gummifolie das Gravitationspotential zeigten. Dann zeigten sie mit einem Akkuschrauber, wie zwei schwarze Löcher umeinander kreisen. Vor dem Schrauber quer eine (dann rotierende) Holzleiste, und in deren beiden Enden jeweils eine Schraube mit Rundkopfmutter, und wenn man die in das Gummituch drückte und drehte, hatte man zwei runde kugelige Mutternköpfe, die mit hoher Geschwindkeit umeinander kreisten und das in das Gummituch drückten. Ein zweiter hat mit dem Stroboskop draufgeleuchtet, und man konnte dann die Gravitationswellen sehen, die das alles aussendet und an denen man es messen und nachweisen kann. Ich hatte so laienhaft gefragt, wie schnell denn schwarze Löcher in der Realität umeinander kreisen, welche Umlaufzeit die hätten. Ja, hieß es, das hänge freilich von den Löchern ab. Schön, aber welche Größenordnung? Komme darauf an, wie groß die Löcher sind. Herrje, die Größenordnung? Jahre oder Sekunden? Wussten sie nicht. Sie fragten dann die, die das alles da geleitet und erklärt hat (der man das auch erst übersetzen musste, weil die auch nicht gut Deutsch sprach) und die meinte dann, es wären mehrere hundert Umdrehungen pro Sekunde. Das finde ich erstaunlich. Denn schwarze Löcher sind ja bekanntlich ziemlich schwer.

Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass die Leute da 80 Prozent ihrer Arbeitsleistung als Diversitätssteuer vergeuden, weil die nur noch damit beschäftigt sind, in verschiedenen Sprachen miteinander zu kommunizieren. Dass die Diversität da zum Selbstzweck geworden ist, und vieles nur noch Unterhaltungsprogramm und Beschäftigungstherapie ist.

Ich war bei den Ägyptologen, die einen thematisch eigentlich recht interessanten Vortrag gehabt hätten. Nämlich die Frage, was uns die alten Hieroglyphentexte darüber verraten, wie die Menschen damals gedacht und – gilt als eine der frühesten menschlichen geistigen Tätigkeiten – Dinge kategorisiert haben. Aber auch den fand ich gedanklich zerfleddert und schwer zu verstehen, weil die Umgebung so laut war.

Die Archäologin

Und dann kam ich – eigentlich so absichtslos und zufällig – an der offenen Tür eines Hörsaales vorbei, wusste nicht einmal, worum es geht, und dachte, da setze ich mir jetzt einfach mal rein, egal worum es geht.

Eine Offenbarung. Ein richtig guter, strukturierter, logischer, zusammenhängender Vortrag einer Archälogie-Professorin. Alte Schule. Man merkte plötzlich, dass da doch noch jemand ist, der einen ordentlichen, guten, spannenden, konsistenten, verständlichen Vortrag halten kann, und dass die ihr Thema auch beherrscht, es lebt. Ein Anachronismus in der heutigen Geschwätzuniversität. So, wie früher die Vorlesungen waren. Wie Indiana Jones. Da steht jemand, der sein Thema druchdringt und vernünftig und im Zusammenhang erklären kann, was das Thema ist, worum es geht, was die offenen Fragen sind.

Es geht um das Forum Romanum. Jenes Ruinenfeld in Rom, das früher einmal der Platz war, an dem man die politischen und juristischen Reden hielt. Ein antiker Fernseher, oder ein antikes Radio, sozusagen. Leider sind da nur noch rudimentäre Spuren übrig, und man muss sich das mit der Kenntnis über das damalige Leben und die damalige Architektur zusammenreimen, wie das ausgesehen hat.

Dabei sind sie auf ein Problem gestoßen: Wenn da einer auf einer Bühne stand und redete, wie gut und wie weit war der eigentlich zu hören? Wieviele Menschen konnten ihm überhaupt zuhören? Und was heißt das für die Konstruktion dieses Forums? Die Schülerzeitung des altsprachlichen Gymnasiums, auf dem ich war, hieß „Rostra“ – Lateinisch für die Rednerbühne. Speziell auf dem Forum Romanum.

Sie fanden sich nun als Archäologen in einer völlig ungewohnten Situation: Nämlich sich mit der Akustik von Räumen und offenen Plätzen auseinandersetzen zu müssen, um zu untersuchen, ob die Vorstellung vom Aussehen eines Raumes oder Platzes überhaupt plausibel ist, ob und wie das funktioniert und sich angehört hat.

Sie haben nun die Gegebenheiten digitalisiert und damit die Akkustik simuliert, mit kuriosen Mitteln. Als Redner hatte man einen Schauspieler beauftragt, der eine – deutsche – Rede in ein Mikrofon hielt, besser gesagt, rief, und für das Publikum hatte man die Geräuschkulisse des Publikums bei Ansprachen des Papstes aufgenommen, wie die sich in Sprechpausen anhören, welcher Hintergrundlärm da herrscht.

Und dann hat sie akustische Beispiele abgespielt, wie es sich laut Simulation angehört haben muss, wenn der da redete. Wenn man nicht nah genug dran steht, ist das schon sehr schwer, da noch etwas zu verstehen. Vielleicht ab und zu ein Wort. Daraus und aus dem Umstand, dass man den Redner nur dann richtig wahrnimmt, wenn man ihn auch sieht, lässt sich abschätzen, wieviele Menschen damals den Rednern, selbst den großen wie Cicero, zugehört haben können.

Erinnerte mich an meinen Griechisch-Unterricht. Rhetor, der Redner. Wie wichtig die „Rhetorik“ damals in Griechenland war, und dass es eben nicht nur um Formulierungen und Wortwahl, richtige Präsentation ging, sondern schlicht darum, richtig laut brüllen zu können. Ein Rhetor war eben nicht nur ein gewiefter Wortakrobat, sondern vor allem auch ein professioneller Marktschreier. Ich musste sofort an Demosthenes denken, der ja mit Steinen im Mund geübt hatte, gegen das Meer und die Brandung anzureden – oder besser zu schreien. Wenn man mal die simulierte Akustik auf dem Forum Romanum gehört hat, wird einem plötzlich klar, warum der geübt hat, gegen die Meeresbrandung anzuschreien (vgl. hier). Die hört sich so ähnlich an wie eine Menschenmenge. Rhetor war damals ein ernsthafter, schwieriger Beruf, weil man in der Lage sein musste, von der Bühne herab möglichst viele Leute zu erreichen. Und deshalb waren auch die damaligen Politiker und Juristen Rhetoriker, weil sowohl die Demokratie, als auch das Rechtswesen darauf beruhten, möglichst viele Leute zu überzeugen, die dann für einen abstimmten. Auch bei Gerichtsverhandlungen ging das so.

Diese Ursprünge der Rhetorik sind es, die unsere Demokratie geprägt haben. Es ging darum, möglichst viele Leute für sich zu gewinnen.

Ich habe dann mehrere Hinweise gegeben, weil das nicht nur ein Dauerthema meines Blogs betrifft, sondern auch die Informatik: Es geht da um nichts anderes als die analoge Kanalkapazität und den Signal-Rausch-Abstand. Als wären wir bei Claude Shannon. Kanal- und Informationstheorie, der analoge Teil.

Und der berühmte Demosthenes, der so trefflich das Brüllen übte, nachdem er sich blamiert hatte:

Die erste Rede des berühmtesten Rhetorikers in der griechischen Antike, des Atheners Demosthenes, endet in einem Fiasko. Als 20-Jähriger erhebt er Anklage vor Gericht und wird ausgelacht, denn er lispelt, spricht leise, undeutlich und kurzatmig. Demosthenes, Sohn eines Sesselfabrikanten, lässt sich coachen. Er zieht einen Schauspieler, den Tragöden Satyros, zu Rate. In einem Keller richtet er sich ein Studio ein, in dem er täglich trainiert, auch mit den berühmten Kieselsteinen im Mund. Um sich zu kräftigen, deklamiert er Texte beim Bergsteigen. In der Bucht von Phaleron übertönt er die tosende Brandung.

Der römische Rede-Titan Cicero leidet anfangs gleichfalls unter Stimmproblemen. Eine Ausbildung in Kleinasien hilft ihm, eine „allzu starke Anspannung“ zu verlieren. Nun weiß er sich dem Lärm auf dem Forum in Rom gewachsen. „Du kennst ja meine Donnertöne“, schreibt er an einen Freund.

Bevor es Mikrofone und Lautsprecher gab, war solche Wortgewalt wohl unerlässlich. Bernhard von Clairvaux, Wanderprediger und Werber für den Zweiten Kreuzzug 1147 bis 1149, agitiert oft auf freiem Feld – „weil keine Kirche das Volk aufnehmen konnte“. Ein zeitgenössischer Bericht rühmt seine Stimme als „himmlisches Organ“, das die Hörenden aufgesogen hätten „wie der Blumenkelch den Tau“. Der Franziskaner Berthold von Regensburg soll vor 60000 Gläubigen gesprochen haben. Mit Hilfe eines Fadens erkundet er die Windrichtung und dirigiert seine Zuhörer in die optimale Position.

Einige Kulturgeschichtler glauben, dass mit der Erfindung des Buchdrucks der Wert des gesprochenen Wortes sinkt, dass fortan das Visuelle über das Orale triumphiert.

Und genau das war mir vorhin sofort eingefallen. Also nicht dieser Artikel über Demosthenes, den ich jetzt ergoogelt habe, sondern Demosthenes selbst und eben Griechisch. Mir ist nämlich aufgefallen, hatte ich auch schon im Blog erwähnt, dass das moderne Griechisch ziemlich schlampig ist und die fast alle Vokale irgendwo zwischen ä und i aussprechen. In Griechenland hat man das Problem, dass die Schüler immer schlechter in Orthographie werden, weil sie nicht mehr wissen, wie man Wörter richtig schreibt – weil sie sich alle gleich anhören. Diese Schreibfehler hat man im alten Griechenland aber nicht gefunden. Daraus folgert man, dass die damals die Vokale und Konsonanten viel deutlicher und präziser gesprochen haben. Um besser verständlich zu sein. Und weil man das nicht mehr brauchte, hat sich das Griechisch inzwischen abgeschliffen und wird immer schlampiger. Vom Französisch heißt es ja auch, es sei nicht mehr als ein billiges Vulgärlatein.

Man sollte, schlug ich vor, die Unterschiede zwischen Alt- und Neugriechisch erkunden und sich überlegen, ob man damals besser gesprochen hat, weil es erforderlich war, um verstanden zu werden, weil alles mündlich erfolgte. Außerdem war damals der Wortschatz geringer, somit der Signal-Rauschabstand größer als mit heutiger Sprache, und die „Hamming-Distanz“ zwischen bekannten Wörtern größer, was die Verständlichkeit gegenüber den simulierten Beispielen deutlich gehoben haben dürften.

Und dann noch das frühe 20. Jahrhundert: Ich hatte doch so oft über den britischen König und Stotterer Georg VI. (Film The King’s Speech), Mussolini, Hitler und die Werbung der 1950er Jahre geschrieben.

Mussolini hatte ja mit den Tücken der ersten elektrischen Lautsprecher zu kämpfen. Eine Leserin, die in Italien aufgewachsen war, schrieb mir ja mal, dass sie als Kind (mir ist nicht ganz klar, ob im Original und live, oder als Aufzeichnung) Reden Mussolinis gehört und – wie Kinder das so tun – „Mama, warum redet der Mann so komisch?“ gefragt hatte. Und Mutti schlau war, und ihr erklärt hatte, dass der immer kurze, einfache Sätze sprechen und dann Pausen machen musste, bis sich der Hall durch Reflektionen wieder gelegt hatte.

Zu Hitler hatte ich ja ausführlich beschrieben, dass zwar viele Leute glauben, dass der im typischen „Hitler-Schnarr“ sprach (und von Charlie Chaplin dafür im Großen Diktator verspottet wurde, kurioserweise war Chaplin eigentlich ein Stummfilmheld), weil das Nazis eben so machen und sich deshalb die Legende verfestigt hat, dass Nazis gerne überartikulieren und das R so rollen.

Das ist aber Unfug. Es gab ja diese Aufnahme irgendwo aus Skandinavien, die einzige bekannte Tonaufnahme, die nicht bei öffentlichen Reden, sondern – von ihm unbemerkt – im normalen Gespräch
angefertigt wurde. Und da redete der ganz normal, keine Spur von dem Geschnarre. Was belegt, dass Hitler nur für Reden und Mikrofone so sprach. Weil er das so gelernt hatte. Der hatte ja Unterricht bei Schauspielern genommen. Und die hatten ihm beigebracht, wie man als Schauspieler zu sprechen hat, damit man – noch ohne Lautsprecher – im Saal gehört werden kann. Der macht nichts anderes als zu sprechen wie ein Schauspieler vor Einführung von Mikrofon und Lautsprecher.

Einen ähnlichen Effekt sehen (nein, hören) wir bei alten Radio- und Fernsehwerbungen der 1940er bis frühen 1960er Jahre, in denen Leute seltsam und penetrant überartikuliert sprechen und die Satzmelodie überbetonen. Das war damals ein eigener Beruf, weil die Mikrofone noch schlecht waren. Das waren Leute, die so sprechen konnten, dass das dann auch ankam.

Wenn man diese Umstände berücksichtigt, muss man zu dem Schluss kommen, dass die damals sehr viel deutlicher und verständlicher gesprochen haben, als wir das heute tun oder dieser Schauspieler in der Aufnahme tat. Und dass die Redner von damals weiter zu hören und besser zu verstehen waren als wir heute mit all der Elekronik.

Und dass deshalb die Aufnahme des Schauspielers zu falschen Ergebnissen führt, weil viel zu harmlos gesprochen.

Man sollte die Tonaufnahmen Mussolinis und Hitlers heranziehen.

Natürlich nicht wegen des Inhaltes. Sondern wegen des einzigartigen Umstandes, dass man erstmals in der Weltgeschichte elektronische Tonaufnahmen von politischen Rednern gemacht hatte, die das Reden von Leuten gelernt hatten, die selbst noch keine Erfahrung mit elektronischen Medien hatten, und deshalb auf dem Wissensstand vor der Einführung von Mikrofon und Lautsprecher waren. Man kann also hören, wie man gesprochen hat, als man es noch nicht elektronisch verstärken und aufzeichnen konnte. Und das gab es nur für einen ganz kurzen Zeitraum, weil man sich sofort an die neuen Mittel, Mikrofon und Lautsprecher, gewöhnte. Deshalb erscheinen uns diese Reden heute so sonderbar.

Im Prinzip müssten sie einen Sprecher finden, der ähnlich reden kann wie Hitler und Mussolini, um zu ergründen, wie weit eine Rede auf diesem Platz trug, wie weit sie zu verstehen war – oder es sogar mit Hitler-Aufnahmen für die Simulation verwenden. Denn alle danach hatten sich schon an bessere elektronische Medien gewöhnt.

Oder jemanden vom Hamburger Fischmarkt.

Meine Vorschläge stießen auf Interesse.

Und ich finde es überaus interessant, zu ergründen, wie Politik, wie die „Medien“, wie die Rhetorik vor 2000 Jahren funktionierte – was Rhetorik damals überhaupt war. Dass manche Redner damals schon nach wenigen Minuten, wenigen Sätzen völlig erschöpft waren. Denn darin findet sich das Verständnis von der Entstehung unserer Demokratie.

Ich hatte auf Zypern mal eine Wohnung besichtigt, die eigentlich nicht schlecht war, aber mir dann doch nicht so gefallen hat, und die vor allem Schäden an der Fassade hatte. In einer Wohnanlage. Vor dieser Wohnung war aber, als Teil der Anlage, ein klassisches Auditorium, eine Rednerbühne, eine Theatertribüne, nach griechischem Stil als Halbrund mit gestuften Sitzreihen, Durchmesser vielleicht so 15 Meter, weiß nicht mehr, drei oder vier Sitzreihen. Ich hatte mich sofort in dieses Mini-Theater verliebt. Noch ein Beamer auf einem Sockel, der ein Bild an die Hauswand wirft, und es wäre einfach herrlich gewesen. Ich habe aber gemerkt, dass man da im Freien schon ziemlich Gas geben muss beim Reden, um da überhaupt anzukommen, wenn da etwas Wind geht.

Ich hatte schon geschrieben, dass mich die Medientechnik des frühen 20. Jahrhunderts interessiert.

Die Medientechnik vor 2000 Jahren ist aber auch nicht ohne.

Beide, die des frühen 20. Jahrhunderts und die vor 2000 Jahren, haben enormen, geradezu konstituierenden Einfluss darauf gehabt, wie unsere Gesellschaft, unser Staat heute funktioniert – besser gesagt, funktionierte, als er das noch tat. Beide sind auch wichtig zum Verständnis des Rundfunkrechts und warum der Rundfunk Einschränkungen und Pflichten im Vergleich zur Presse hat.