Ansichten eines Informatikers

Von der bedauerlichen Asymmetrie zwischen Braut und Bräutigam unter besonderer Berücksichtigung des Orients und der Staatsbibliothek zu Berlin

Hadmut
26.7.2024 19:48

Ich war wieder in der Bibliothek.

Ich hatte ja erwähnt, dass ich es gestern zwar nicht geschafft hatte, in die Bibliothek zu kommen, mir zu meinem Erstaunen aber für heute ohne weiteres einen Arbeitsplatz für eine Stunde reservieren konnte. Wie das, wenn es so voll ist?

Heute war drastisch weniger los, keine Schlange mehr. Sie meinten, sie wüssten nicht genau warum, aber sie vermuteten, dass die Prüfung, auf die die sich alle vorbereitet hätten, heute stattgefunden habe. Die letzten Tage sei es immer gestopft voll gewesen und heute auf einmal viel weniger. Das könnten sie sich nicht anders erklären.

Ich war etwas zu früh da und hatte mir deshalb noch von der Empore einige Minuten den Lesesaal angesehen, bis der Platz frei war. Ich habe nicht einen einzigen Menschen gesehen, der ein Buch aus den Regalen benutzte, bis auf eine Ausnahme. Es hatten zwar manche Bücher auf dem Tisch liegen und in Gebrauch, aber das waren alles Bücher, aus denen unten die Ausleihzettel heraushingen, die also in den Lesesaal bestellt und nicht aus den Regalen genommen wurden. Die einzige Person, die Bücher hatte, die aussahen, als wären sie aus den Regalen, war eine Frau, die ihr Notebook auf einen Stapel von drei Büchern gestellt hatte, weil sie es offenbar so mochte, wenn das Notebook auf Augenhöhe steht. Die wertvollen Bände dienten somit nur aus Notebookuntersetzer.

Eigentlich ist die gesamte Bibliothek damit zweckentfremdet und dient nur als Geld- und Ortsalibi. Eigentlich ist es nur eine Art shared office, und die Bücher stehen nur da, damit es hübsch und gebildet aussieht. Man könnte genausogut solche Pappbücherattrappen hinstellen wie das früher in den Möbelhäusern üblich war. Oder Monitore aufhängen, die Bilder von Büchern zeigen.

Die Tage sagte mir jemand, dass in Berlin zwar die Wohnmieten hoch gingen, die Gewerberaummieten aber nicht, weil so viele Firmen dicht machten. Es wäre wirklich die Frage, ob man nicht leerstehende Gewerbe- und Büroräume in Shared Office-Space und Studenarbeitsplätze verwandeln sollte, indem man Tische, Stühle, Schließfächer, Klos, Strom, Internet bereitstellt, und die Bibliothekszugänge für Datenbanken auch dort zugänglich macht. Bibliothek ganz ohne Bücher. Bedarf gäbe es offenbar, wenn auch nur zeitweilig. Mir ging aber wirklich die Frage durch den Kopf. ob es nicht gerade für die Wohnungsnot der Studenten sinnvoll wäre, so eine Art Außenstandort der Universitäten zu bauen, also irgendwo draußen, wo es billiger ist und noch Platz hat, oder verlassene Ortschaften oder Gewerbegebiete, Studentenwohnheim, Sportgelegenheiten, Supermarkt, Arbeitsplätze mit digitalem Bibliothekszugang, Videoübertragung von Vorlesungen, und S-Bahn-Verbindung zur Uni. Und dafür irgendwo, wo man ans Wasser kann, Skaten, Joggen, Baden, weiß der Kuckuck.

Irgendwie ist das ganze System verfehlt. Alle schreien sie, dass sie keine Studentenbuden mehr fänden. Aber keiner kommt auf die Idee, dass vielleicht das ganze Konzept nicht mehr richtig sein könnte. Stattdessen stehen sie sich hier auf den Füßen.

Trotz der geringeren Auslastung hätte ich keinen Tisch gefunden, wenn ich nicht reserviert gehabt hätte. Es waren auf der Etage zwar noch zwei Tische frei, aber womöglich reserviert. Dummerweise nämlich kann man nicht sehen, ob ein Tisch frei oder reserviert ist, wenn da keine Sachen rumliegen. Ich war dann nicht ganz pünktlich fertig und habe damit gerechnet, dass jemand kommt und den Tisch haben will, aber auch als ich 11 Minuten überzogen hatte und dann ging, kam niemand.

Als ich rausging, eine Überraschung: Auf der großen klassischen Treppe im Eingangsbereich ein Foto-/Videoteam und eine Braut, die die da aufnahmen. Dazu noch eine Brautjungfer im roten Glitzerkleid, die fleißig mit dem Handy fotografierte. Alle dem Aussehen nach vermutlich türkisch oder vielleicht arabisch.

Die Braut natürlich brautmäßig aufgedonnert. Ein riesiges Kleid mit wirklich sehr raumgreifend wallenden Röcken, viel Volumen, viel Unterrock. Nicht ganz mein Geschmack, weil im Stil eher so, wie man das in türkischen und orientalischen Gesellschaften liebt, nämlich mit viel aufgenähten Plastikperlen und Glitzerkram und so Zeugs, eigentlich zuviel Zuckerguss, aber für Fotos schon gut, und das wirkt natürlich schon toll, wenn die Braut auf einer Treppe steht und man an den vielen Stufen, die das Kleid abdeckt, sieht, wie voluminös der ganze Rock-Teil ist, wie groß das war, und noch ein bisschen nach Schleppe aussah. Genau so soll die Braut ja aussehen, und für Fotos ist das mit dem Glitzerkram schon gut. Die machte da echt was her, und das merkte man auch, weil die dadruch Präsenz bekam, alles ringsum guckte: Boah, die Braut! Genau das ist ja auch der Witz am Brautkleid (und warum normalerweise auch keine außer der Braut weiß tragen darf), dass die dann die Show und die Hauptsache im Raum ist. Genau so soll das ja auch sein.

Was mich irritierte, ich bin da vielleicht etwas altmodisch-konservativ, dass mir da ein Bräutigam fehlte. Ich bin da immer noch etwas binär veranlagt. Es gibt ja in Asien inzwischen die Sitten, dass sich Frauen, die keinen finden oder keinen wollen, einfach selbst heiraten und dann die Hochzeit alleine machen. Aber eher nicht in türkischen Kreisen. Mir kam ein anderer Gedanke: Vielleicht ist das nicht echt, sondern nur ein Fototermin, oder vielleicht machen die Werbeaufnahmen für einen Laden oder Hersteller von Brautmoden.

Bis mir dann doch auffiel, dass die da einen Bräutigam hatten. Nur stand der so unauffällig da rum, dass man einfach links und rechts an dem vorbeischaute, ohne ihn zu sehen. Es gibt Leute, die haben so wenig Präsenz, dass sie unter der Dusche hin- und herspringen müssen, um nass zu werden, weil das Wasser sonst an ihnen vorbei fällt. Und dann gibt es eben Leute, die sind so unauffällig, dass man beim Hingucken mit dem Kopf wackeln muss, um sie sehen zu können.

Oder ihnen auf die Füße gucken.

Der hatte einen normalen Allerweltsbusinesanzug an, farblich irgendwo zwischen dunkelgrau und hellschwarz, weißes, offenes Hemd, und das alles so unauffällig und gewöhnlich, dass schon auffiel, dass er auch einen Gürtel trug, dazu aber dann Lackschuhe. Zur Hochzeit dann doch Lackschue, auch wenn die wirklich gar nicht zum Rest passten. Wenn die Lackschuhe nicht gewesen wären, hätte er ausgesehen wie Erol Sander in Tatort Istanbul, der läuft da ja auch immer im Anzug mit offenem weißem Hemd herum, weil es leger aussehen soll.

*Seufz*, dachte ich, *Seufz*.

Sie so sorgfältig und umfangreich aufgedonnert, und er wie andere Leute im Büro.

Und dann noch so Schmalzfotos, wo er auf einer höheren Stufe steht und dann so liebevoll zu ihr herunterguckte, und sie ihn so von unten herauf anschmachtete. Deshalb muss man das drinnen machen. Macht man es draußen, regnet es Zucker vom Himmel.

Nun waren die zwar kameratechnisch gut bestückt, aber es gelang mir dann nicht, einen Blick auf das Display zu erhaschen, denn das hätte mich schon interessiert, wie das rüber kam. Denn für meine Begriffe fehlte da etwas Licht, würden die möglicherweise etwas absaufen, zumal durch das Licht von oben eine leichte Gegenlichtsituation gegeben war. So kann man zwar durchaus auch interessante Portrait-, Charakter- oder Aktfotos machen, und „available light“ ist da ja eine eigene Disziplin, aber selbst bei „available light“ benutzt man Aufheller (große Reflektoren), und Hochzeitsfotos macht man nicht mit available light, denn die Braut soll ja strahlen und einen wegfönen, sonst müsste sie sich ja nicht in Schale und Gliterkram werfen. Wenn man schon so ein Kleid anzieht, dann muss das auch leuchten, glitzern, funkeln, strahlen. Eigentlich muss die Braut auf einem Foto das hellste Ding sein, die im oberen Bereich des Dynamikumfangs liegen, fast als wäre es eine High-Key-Aufnahme (nee, nicht ganz, aber so die Richtung, der Hintergrund natürlich normal). Und das heißt eigentlich, dass man Leuchten oder Blitzanlagen mit Softbox dabei hat, bevorzugt eine richtig große, weil man ja nicht wie sonst nur das Gesicht, sondern das riesige Kleid ausleuchten will. Kitsch as Kitsch can, aber bitte mit einer Schippe Licht. Man nimmt ja auch keinen flachen Käsekuchen als Hochzeitstorte. Ein Hochzeitsfoto muss schon optisch eine Kalorienbombe sein, das muss beim Angucken rummsen. Sahneschnitte statt Nusskranz.

Wie ich da so stand und mir überlegte, wie ich die da fotografieren würde, weil Hochzeitsfotografie wirklich gar nicht einfach ist (ich weiß jetzt nicht, ob das noch so ist, aber bis vor einiger Zeit gehörte das noch zu den Tätigkeiten, für die man Fotografenmeister oder Diplomfotograf im stehenden Gewerbe sein musste, um sie anzubieten, weil man die nicht wiederholen oder vom Kauf absehen kann, wenn sie vermurkst sind, und in manchen Ländern machen die die Hochzeitsfotos getrennt an einem anderen Tag, gerne auch mit der terminalen Vernichtung des Kleides im Matsch) , ging mir so durch den Kopf, dass mir das auf den Wecker gehen würde, da einerseits die aufgetakelte Glitzerbraut zu haben, die ja optisch einiges hermachte und das Bild dominierte (was sie ja auch soll), mit ihrem ausladenden Kleid auf dieser Treppe auch eine tolle Form zeigte, und dann stand der da mit offenem, herunterhängenden Sacko und einfachem, offenem, weißem Hemd daneben.

Ich stand da so und dachte mir: Sie geht. Er geht nicht.

Was würde ich machen?

Bei der Aktfotografie hatte man ja immer so seine Hilfsmittel dabei. Gumminippel, wenn harte Nippel durchdrücken sollen (lacht nicht, Helmut Newton hatten sowas auch). Ich hatte mal die Erdbeere von Tutti Frutti vor der Linse (und in der Mittagspause im Auto auf dem Beifahrersitz, obwohl ich als einziger keinen schicken Sportwagen, sondern eine schrottnahe Studentenkarre hatte), total nette Frau, bildhübsch, aber schielt. Zum Glück hatte ich in besagtem Auto – eigentlich für mich selbst – eine total abgefahrene Swatch-Sonnenbrille, die passte, wie dafür gemacht.

Aber was macht man mit so einem? Die Swatch-Sonnenbrille hätte es nicht gebracht, die hätte hier beknackt ausgesehen.

Eine Fliege. Eine Fliege, dachte ich, könnte vielleicht viel retten. Aber sähe er dann nicht aus wie der Kellner?

Eine Krawatte?

Mmmh. Weiß nicht.

Ich hatte mal eine Kollegin, die stand total auf diese Proletenausstattung vor Vorstadt-Rambos, statt einer Krawatte so ein Seidendreieck unter dem Kragen zu tragen, auch mit Falten und Glitzerkram drauf, womit man dann irgendwie aussieht wie Thomas Anders damals bei Modern Talking.

Wahrscheinlich hätte ich tatsächlich einige Bilder nur von der Braut und ohne den Gatten gemacht.

Aber ist das heute nicht mehr üblich, dass sich der Bräutigam auch ein bisschen rausputzt und nicht nur Lackschuhe zum einfachen Anzug trägt?

Ich habe mal gelernt, dass Lackschuhe nur zum Smoking gehen und Smoking nur mit Lackschuhen. Aber vielleicht ist das in anderen Ländern anders.

Irgendwie seltsam.

Vor allem dann, wenn man die kulturellen Erwartungswerte nicht kennt. Vielleicht gefällt denen das so.

Auf dem Heimweg ging mir durch den Kopf, dass ich bei einem Deutsche Paar dem Knaben irgendwas aus dem Showbedarf angezogen hätte, was ich im Studio hätte, wenn ich ein Hochzeitsfotograf wäre. Irgendein Show-Glitzer-Sakko, damit die zusammen glitzern können. Irgendwo habe ich mal ein weißes Sakko gesehen, das über und über mit zufällig verteilten bunten Punkten, ungefähr ein Euro-Münzen-Größe, bedeckt war. Eher für Fasching. Das hätte ich hier mal ausprobiert. Oder eine Lederjacke. Irgendwas, was optisch Information hat, etwas gegenbrüllt.

Aber wie baut man jemanden, der nur einen langweiligen Anzug und ein offenes Hemd an hat, zum fotografischen Gegenpol einer brachialen Prachtbraut auf?

Ich müsste erst einmal türkische oder arabische Hochzeitsfotos studieren, weil das Ergebnis ja denen und nicht (nur) mir gefallen sollte, und ich erst einmal herausfinden müsste, was die eigentlich haben wollen und erwarten, aber so irgendwie passte das nicht ordentlich zusammen.