Ansichten eines Informatikers

Der Horror der Selbstoptimierung – rette sich, wer kann

Hadmut
14.9.2024 11:38

Was mir auch immer wieder auffällt.

Aufgefallen ist es mir zuerst, wenn ich mich recht erinnere, vor ein paar Jahren, mit Büchern. Mir ist aufgefallen, dass ich eigentlich gar nicht alt genug werden kann, um noch alle Bücher zu lesen, die ich noch lesen will und soll. Ich habe einen riesigen Stapel ungelesener Bücher, die ich gekauft habe, weil ich sie lesen wollte, und die Mailbox birst fast vor Hinweisen und Empfehlungen, welche Bücher ich unbedingt mal lesen muss. Aber selbst wenn ich es könnte – welchen Zweck hätte es, den Rest seines Lebens nur noch damit zu verbringen, Bücher zu lesen, bis man tot vom Stuhl fällt, wenn keine Zeit mehr bleibt, das, was man gelesen hat, auch irgendwie anzuwenden? Es ist ein bisschen, wie sich ein Gerät zu kaufen, 10 Jahren mit dem Studium der Bedienungsanleitung zu verbringen, und das Gerät dann unbenutzt wegzuwerfen, weil es veraltet ist.

Früher hatte ich, und war stolz darauf, das Arbeitszimmer bis unter die Decke rundherum voll mit Büchern. Es macht – besonders auf Frauen – enorm viel Eindruck, wenn man unfassbar viele Bücher hat. Bei jedem Umzug wurden es weniger. Neulich habe ich wieder mal um- und aufgeräumt, es sammelt sich so viel Zeugs über die Jahre an, und meine Interessen verschieben sich. Inzwischen habe ich fast keine Bücher mehr im Arbeitszimmer, und die nicht mal offen sichtbar. Stattdessen anderen Kleinkram und Elektronik, eher Werkstatt als Büro. Medienkram. Es hat sich irgendwie ausgebucht. Wenn überhaupt, komme ich nur noch unterwegs, auf Reisen, im Zug oder Flieger, zum Lesen, und da mit e-Book. Es macht auch nicht mehr so viel Spaß, das Hirn ist irgendwie voll.

Und doch, die Anfragen strömen weiter rein.

Warum machst Du nicht das? Warum verwendest Du nicht diese Software? Wie schützt Du Dich gegen Google? Hast Du diese gemacht? Hast Du das gemacht?

Warum liest Du Dich nicht in Klima ein? Und in Virologie? Warum bist Du noch kein Russland- und Ukraine-Experte?

Das Design Deiner Webseite – sowas von vorgestern. Warum verwendest Du nicht diese Schriftart? Und das macht man heute ganz anders. Ach ja, und das Blog selbst beschwert sich alle paar Tage, warum ich noch nicht die neueste Version von irgendwas eingespielt habe.

Die Mailbox ist voll. Jede Menge Hinweise, was ich alles verpasse, wenn ich nicht diese Schulung und jenes Webinar konsumiere, auf diese Konferenz gehe und mir jenen Einführungskurs angedeihen lasse. Niemals würde ich erträglich zu fotografieren wissen, wenn ich nicht den Goldkurs irgendeines weltberühmten Fotofritzen in Anspruch nähme, und tags drauf kommt der nächste und meint, ohne die Masterclass irgendeiner anderen Tussi könne das alles nichts werden.

Und – Entsetzen – ich habe irgendwo nicht die beste Versicherung und irgendein Geld nicht gewinnstbringendst angelegst. Wir sind gefangen im Superlativ.

Der blanke Horror ist ja, die weltbesten Geräte zu besitzen – also, die von vorletztem Jahr. Denn jetzt ist ja die Version n+1 (in großen römischen Ziffern) erschienen. Worauf wartest Du noch? Dash wäscht so weiß, weißer geht’s nicht. Das neue Dash wäscht jetzt noch weißer. Keiner wäscht so weiß wie das neue Dash.

Früher war das so, dass Kamerahersteller alle 10 Jahre neue Modelle brachten und eine Kameraausrüstung 20 Jahre hielt – mindestens. Ich habe als Kind noch mit der Zeiss Ikon Contaflex Super meines Vaters fotografiert, die er sich als Student gekauft hatte. Ein wunderbares Gerät der 1950er Jahre, die auch in den 1970er Jahren noch bestens drauf war. Heute haben wir „Innovationszyklen“, bei denen man nach 5 Jahren abgehängt ist.

Die Tage fragte mich ein Leser, welche Suchmaschine ich denn benutze. Ich Google. Der Leser verdutzt. Die sammeln doch alles und zeichnen alles auf, wie ich denn und warum ich denn und warum ich nicht.

Ja, sagte ich, das stimmt. Da hast Du recht. Das sollte man nicht tun.

Das Problem ist aber, dass mein Problemlösungskapazitäten erschöpft sind. Mein Tag hat nur 24 Stunden und mein Leben gewiss keine 100 Jahre.

Ich dreh’ jetzt schon schier durch vor der Fülle der Probleme, die ich noch alle lösen soll und muss, all der Dinge, die nicht optimal sind, die ich reparieren, optimieren, verbessern muss. Ich bin nur noch damit beschäftigt, gegen irgendwas zu kämpfen, mich zu verteidigen, irgendwas zu verbessern, zu optimieren, zu entpeinlichen.

Und dazu kommt dann noch das Dauerfeuer der Medien, dass ich meine Meinung dringend zu verbessern und zu optimieren habe. Ich habe dringend zu gendern und mich zu entkolonialisieren, klimafreundlich zu gebärden und mich von aller Fremden- und Frauenfeindlichkeit reinzuwaschen, dafür inklusive und diskriminierungsfreie Sprache zu lernen, neue Pronomen zu erwerben und mich an mindestens jährlich neue Schreibweisen der Inklusion und neue Abkürzungen zu gewöhnen.

Das Resultat ist aber, dass ich vor lauter Selbstoptimierung und lauter Verteidigung gegen juristische Angriffe, weil ich nicht so sei, wie ich zu sein habe, aber auch, weil ich noch nicht an die neueste Software angepasst bin, seit Jahren nicht mehr zum Fotografieren komme. Ich bin – pars pro toto – damit beschäftigt, meine Kameraausrüstung zu optimieren, und komme nicht mehr dazu, mit meiner – leider nur suboptimalen – Kameraausrüstung auch zu fotografieren.

Und so geht es mir mit allem anderen.

Ich komme vor lauter Optimiererei, Fehlerbehebung, Aktualisierung, Korrektur, Anpassung, der Aufnahme von neuen Normen, Vorschriften, Erwartungen, was gesollt und gewünscht wird, nicht mehr zum Machen.

Oder kurz, etwas abstrakter gesagt:

Wir haben gesellschaftlich – und politisch – eine so hohe Änderungs- und Optimierungsdynamik erreicht, dass wir vor lauter Anpassung an geänderte Normen im weitesten Sinne (einschließlich von Gesetzen, Softwareversionen, Gerätemodellen) gar nicht mehr dazu kommen, effektiv zu arbeiten, weil wir viel zu viel Zeit darauf verwenden, uns zu optimieren.

Die Selbstverbesserung ist zum Selbstzweck geworden. Die Effizienz geht gegen Null.

Und das ist nicht nur Marketing- und Verkaufsmasche, um ständig neue Kameras zu verkaufen. Das hat auch mit der Änderung der Gesellschaft zu tun. Wir sind von der produktiven Industrienation zu einem Haufen von Geisteswissenschaftlern geworden, die nichts anderes mehr tun als anderen vorzuhalten und vorzuwerfen, warum sie noch … oder warum sie noch nicht …. So dieses Geschwätz von „wir sind progressiv“, wir ändern etwas schon um des Änderns Willen, nicht weil wir es brauchen.

Und das ist fatal. Weil wir damit die Amortisation nicht mehr erreichen. Wir können unsere Tätigkeit betriebswirtschaftlich nicht mehr erwirtschaften.

Mir geht da immer etwas durch den Kopf, was mir vor vielen Jahren mal, ich weiß gar nicht mehr, wer und wo, auf irgendeiner Messe ein Insider aus dem Fotomarkt erzählt hat. Westeuropa, besonders Deutschland, ist ein typischer 5-Jahres-Markt. Der klassische deutsche Kamerakäufer nutzt seine Kamera für 5 bis 10 Jahre, manche länger, und erwartet dafür, dass die Qualität das auch bietet, dass die Kamera so lange hält. Man kann ihm zwar eine teure Kamera verkaufen, aber wenn die nicht hält, hat man ihn als Kunden verloren.

Der Asiate dagegen handele ganz anders. Asien sei ein 2-Jahres-Markt. Der Asiate will nach 2 Jahren eine neue Kamera, weil ihn die alte langweilt und er alle Gimmicks kennt, er will neue Features, egal, ob er sie wirklich braucht. Er will davon unterhalten werden. Deshalb ist ihm das eigentlich auch scheißegal, wie lange die Kamera hält, weil er sie sowieso nach zwei Jahren wegwirft und etwas „Neues“ will. Darauf habe sich die Branche eingerichtet, weil sie damit mehr verdiene, und adressiere eben den asiatischen und nicht mehr den europäischen Markt.

Und anscheinend ist das mit allem anderen genauso, was Sachen angeht.

Und dann kommt die linke Politik dazu, die alles hasst, was besteht, und ideologisch, zwanghaft, krankhaft, „progressiv“ ständig alles ändern muss.

Das Ergebnis ist ein zwanghafter, krankhafter, psychotischer Änderungs- und Aktualisierungszwang.

In meiner Jugend hatte ich mal kurz mit einem alten Mann zu tun, einem pensionierten Beamten, der unter „Waschzwang“ litt. Die Hände schon völlig kaputt, die Haut wund und fast blutig, weil er sie ständig wusch. Man konnte ihm nichts geben, sondern musste alles irgendwo ablegen, damit er es später aufnehmen konnte, weil er es nicht ertragen konnte, etwas anzufassen, was zuvor jemand anderes in der Hand gehabt hatte oder sonst den Verdacht erweckte, es könnte auch nur in irgendeiner Weise schmutzig sein. Sofort ging das mit dem Waschen wieder los. Das war irgendwie so eine Spätfolge eines unfassbaren Ordnungsdrangs.

Manchmal habe ich das Gefühl, wir sind eine psychotische Gesellschaft geworden, die den Gedanken nicht ertragen kann, dass irgendwo irgendetwas nicht optimal ist, dass irgendwer nicht politisch korrekt nach Tagesanweisung redet, dass es irgendwo „eine Gerechtigkeitslücke“ geben könnte.

Wir sind eine Gesellschaft geworden, die fast nichts anderes mehr macht, als sich selbst zu korrigieren, umzuordnen, zu optimieren, aktualisieren, verbessern, und die darüber nicht mehr dazu kommt, sich auch zu erwirtschaften.