Ansichten eines Informatikers

Arm, aber nicht mehr sexy

Hadmut
17.9.2024 11:59

Klaus Wowereit hat mal diesen bekannten und in PR-Hinsicht genialen Spruch in die Welt gesetzt, Berlin sei „arm, aber sexy“.

Inzwischen ist Berlin noch viel ärmer, aber hat den Sexappeal einer alterschwachen drogenabhängigen Ex-Hure auf Entzug mit Alzheimer, AIDS und Atemnot.

Schöner – das heißt, schön gruseliger – Artikel in der Berliner Zeitung: Interview zur Schließung des Clubs Watergate: Berlin ist jetzt in diesem Hätte-ich-mal-Modus

Berlin war mal sowas von angesagt, da musste jeder hin, da musste jeder spielen.

Die Zeiten sind vorbei, Berlin ist alt und abgeranzt, und der Manager des Clubs beschreibt das auch sehr gut. Ich habe zwar überhaupt keine Ader für solche Clubs an sich, und würde da nie reingehen, aber was der sagt, erscheint mir völlig plausibel und sinnig.

Es kommen mehrere Effekte zusammen.

Anscheinend hat die Corona-Krise das Verhalten der Leute dahingehend beeinflusst, als es die Nachahmungskette unterbrochen hat. Offenbar verhalten sich viele Leute einfach so, wie die etwas Älteren sich verhalten haben. Prinzip „Haben wir schon immer so gemacht“. Kann man nicht nur bei Club-Gängern beobachten, sondern auch bei Professoren. Ich habe viele Professoren erlebt, die völlig unsinnige, unwissenschaftliche, rechtswidrige oder sogar strafbare Verfahren und Handlungen verfolgen und stur daran festhalten, sie aber überhaupt nicht begründen oder plausibel herleiten können, sondern sie allein deshalb machen, weil sie das so von anderen abgeschaut haben und nachahmen, ohne nachzudenken. Im Prinzip genau das, was ich zum Rudelmodus im Hirn beschrieben habe, das Sozialverhalten und die Eingliederung, das Unterlassen des eigenen Denkens zugunsten der Rudelkonformität und des zentralistischen Nachdenkens durch den Rudelchef. Oder in DDR-Sprech: Irgendwas werden sich die Genossen schon dabei gedacht haben.

Und genau so hat anscheinend auch das Nachtleben in Berlin funktioniert, bis es durch Corona zwangsunterbrochen wurde. Es erinnert mich an die Fluidik, jene Technik, die man in den 60er und 70er Jahren noch für die Alternative zu Mikrochips gehalten hat, um logische Bausteine mit Strömungen von Gasen (oder Flüssigkeiten) zu bauen. Da gab es eine Art bistabiles Flip-Flop, von der Form eines Y, in denen ein Luftstrom auf der einen Seite einschoss, und gegabelt aus zwei Ausgängen rauskonnte. Und da ist es wohl so, dass die „Entscheidung“, ob links oder rechts raus, stabil bleibt, wenn sie einmal anliegt, und durch seitlich angebrachte kleine Steuerdüsen umgeschaltet werden kann. Einen ähnlichen Effekt gibt es wohl auch bei Homo Sapiens: Einfach das Verhalten der anderen Nachahmen, dadurch entsteht ein stabiler Effekt, der aber durch einen Impuls von außen umgeschaltet werden kann: Die Leute gehen nicht mehr in Clubs, sie bleiben zuhause. Weil wir jetzt digital sind und Streamen können, weil wir das in Corona so gelernt haben, und weil das Geld jetzt knapp ist. Ergo: Nachtleben futsch.

Was er aber eben auch beschreibt: Berlin ist nicht mehr „in“ und nicht mehr „angesagt“. Nach Berlin muss man nicht mehr hin, da muss man nicht mehr gewesen sein. Berlin wandelt sich gerade zur Ruine seiner eigenen einstigen Zeiten.

Und:

Berlin war zu besoffen von sich selbst, sich seiner zu selbstsicher, von sich selbst besoffen, dachte, dass das immer so weiter geht. Diesen Teil des Interviews finde ich besonders bemerkenswert, weil so treffend:

Die Attraktivität von Berlin hätte nach Covid neu definiert werden müssen, das ist aber nicht passiert. Wie das so ist: Wenn es einem gut geht, tut man nichts, und wenn es einem schlecht geht, dann denkt man: Hätte ich mal. Und in diesem Hätte-ich-mal-Modus ist Berlin jetzt. Denn wenn der ganze Tourismus-Glam wegfällt, bleibt das abgeschminkte Berlin übrig: Gerade diese Gegend hier in Kreuzberg hat viel an Glanz verloren.

Berlin hat gefeiert, gefixt und gefickt, als gäbe es kein Morgen. Und jetzt ist eben Morgen.

Zurück bleibt eine alte, verbrauchte, abgesagte kaputte Hure.

Was meinen Sie?

Die Drogenszene, Obdachlosigkeit, Dreck, Verelendung. Berlin kann sich nicht mehr darauf ausruhen, arm und sexy zu sein. Weil arm und sexy sieht da draußen nicht mehr so geil aus. Da ist nicht mehr viel sexy, das ist ein totaler Horrorfilm. Berlin, insbesondere Kreuzberg, hat viel von seinem Charme verloren. Kreuzberg hat, zumindest im ehemaligen 36, ein echtes Drogenproblem, viel Obdachlosigkeit, Kriminalität und auch sonst sichtbare soziale Missstände. Wenn der Clubtourismus und die Party wegfallen, wird das umso deutlicher sichtbar.

Das war’s mit dem Berlin der Sorte Kreuzberg.

Berlin stirbt gerade an Vergiftung durch sich selbst.

Das dauert nicht mehr lange, und Berlin ist sein eigener Fluchtgrund.