Die Zertwitterung und Vertiktokung der Fotografie
Wisst ihr, was mir gerade – wieder, aber besonders – auffällt?
Es gab mal eine Zeit, eigentlich so die ganzen letzten 150 Jahre der Fotografie im Allgemeinen und der Aktphotographie im Besonderen, da galt es als Gegenstand und Kunst der Fotografie, das Foto zu gestalten. Bildaufbau, Licht, Hintergrund, Belichtung richtig einstellen, Schärfe, Objektivwahl und so weiter und so fort. Das war ja ein wesentlicher Grund, warum ich damals Aktfotografie betrieben habe, nämlich nicht nur – aber natürlich auch – wegen schöner nackter Frauen, sondern weil es als die schwierigste Disziplin der Fotografie galt. Wenn man Häuser oder Bäume fotografiert, sind die geduldig. Die haben Zeit und stehen auch morgen, übermorgen, nächste Woche noch da, die sagen nicht „Zeig mal das Foto“, wollen und brauchen keine Anweisungen, und sind vor allem nicht beleidigt, frustriert oder sauer, wenn das Foto nichts ist. Man muss nicht nur die Kamera im Schlaf beherrschen, sondern ständig Bildideen produzieren und Anweisungen geben können, denn nichts ist schlimmer, als wenn das Model da steht und fragt, was sie jetzt machen soll, und einem gerade nichts einfällt. Und dann ist der Wettbewerb gewaltig, das Leistungsbild geht bis ganz oben. Kleinste Fehler wie Bild schief, unscharf, Blick nicht richtig erwischt, falsch belichtet, Pose nicht exakt, Steckdose im Bild, Hintergrundrand im Bild und so weiter und so fort, töten alle das Bild ab.
Vor einiger Zeit gab mal ein Model in Australien, eine bildhübsche Frau, auf Social Media bekannt, dass sie die Schnauze voll hat und den Job entnervt hinwirft, obwohl sie sehr gut verdient hat und ein Top-Foto von sich dazu zeigte. Sie sagte aber, dass es 400 Fotos gebraucht hätte, bis ein einziges, wirklich gutes Top-Foto dabei war, jenes, die anderen könne man alle wegwerfen. Und tatsächlich ist das auch so, dass ein guter Profi-Fotograf nicht unbedingt besser fotografiert als ein Amateur. Aber der hat halt genug Zeit und Geld, um eben nicht nur einen Schnappschuss zu machen (Stell Dich mal dahin und lächle in die Kamera), sondern richtig viel fotografiert und dann knallharte Auslese betreibt, am Ende vielleicht 1, 3 oder 5% seiner Bilder überhaupt verwendet. Es gibt allerdings auch Fotografen, die genau das überhaupt nicht leiden können und solche Perfektionisten sind, dass sie eigentlich nur ein Foto machen und das dann sitzt. Was aber auch gemogelt ist, denn die gucken ja ständig in den Sucher, machen damit quasi auch Testbilder, und die früher endlos „Polaroids“ gemacht haben, bevor das echte Foto auf echtem Film gemacht wurde.
Und dann gibt es auch solche „Profifotografen“, die so tun, als wären sie sehr gute Fotografen, tatsächlich aber an der Kamera ein Kabel haben, das in ein schwarzes Dunkelzelt geht, in dem ein Assistent mit dem MacBook Pro sitzt, und unbeeinträchtigt vom Umgebungslicht auf dem hochauflösenden Bildschirm das Bild in Echtzeit prüft, und rausruft, was nicht stimmt und nicht passt, die also effektiv die Massenfotos durch den Echtzeitmonitor ersetzen. Es gab mal vor einiger Zeit eine Ausstellung in Berlin zu einem deutschen verstorbenen Top-Fotografen, weiß nicht mehr, ich glaube es war Lindbergh, bin mir jetzt aber nicht mehr sicher, und ich gehe durch die Ausstellung, schaue mir die Bilder an, und denke mir: Der Typ kann nicht fotografieren. Der ist ein elender Halt-Drauf-Knipser. Die Bilder wirken alleine dadurch, dass man sie für teuer Geld und in Schwarzweiß auf 3×5 Meter aufgespannt und ausgedruckt hat und man das Korn kirsch- bis apfelgroß sieht, wenn man davor steht, und deshalb nicht merkt, dass es – aus Abstand betrachtet – einfach irgendein unscharfes Scheiß-Foto ist. In Städten wie New York mit ihren US-industriebarocken geometrischen Häusern kann man sich eigentlich hinstellen, wo man will, mit einer Schwarzweißkamera und 35mm irgendwo drauf halten, und wenn man es schafft, die Kamera halbwegs gerade zu halten, automatisch 80% typische Buch- und Ausstellungsbilder erzeugt. Früher, bis in die 80er, noch mehr, als noch nicht alles aus rundgelutschtem Plastik oder Designer-Architektur war. Viele Fotografen haben überwiegend davon gelebt, dass es eben geht, sie einen Ruf hatten und es eine Zeit gab, in der Promifrauen ganz versessen darauf waren, sich vor irgendeiner Promi-Kamera auszuziehen.
Gegenpol war der Playboy. Der hat auch lange von drei Effekten gelebt:
- Von Fünfziger Jahren bis etwa Siebziger vom Skandalwert und Berufsskandalhäschen wie Marilyn Monroe, als es noch verrucht war, nackte Frauen anzuschauen.
- Von den Achtziger bis Anfang der 2000er Jahre von der gesellschaftlichen Toleranz und Akzeptanz, bei gleichzeitigem enormem Fortschritt von Fotografie und Fototechnik, das Ding wurde vom unter der Theke verkauften Schmuddelheftchen zum Lifestyle-Hochglanzmagazin.
- Vom Promiexhibitionismus, in dem man nichts war, wenn man sich nicht im Playboy ausgezogen hatte, und wenn man nichts mehr war, versuchte, noch jemand zu sein, indem man sich im Playboy auszog.
Ich will das jetzt aber nicht schlecht machen. Der Playboy hat große Verdienste um die Fotografie, und hatte – meist – die besten Fotografen. Das war ja ein Fotografentraum, für den Playboy fotografieren zu dürfen. Das Zeitalter der Hochglanznackten.
Ich hatte mir zu Zeiten der chemischen Fotografie noch ab und zu den Playboy gekauft, war mir aber viel zu teuer. Dann kam eine Phase, in der ich sehr oft Playboy gelesen habe, weil ich ihn kostenlos bekam: Air Berlin. Als ich von Berufs wegen noch häufig auf Dienstreisen war, und am liebsten Air Berlin geflogen bin, habe ich noch von deren Praxis profitiert, dass die am Einstieg einen Tisch mit kostenlosen Zeitschriften hatten, darunter auch den Playboy. Kostenlos nimmt man den natürlich gerne.
Der Witz an der Sache war, dass man die Ausgabe für die Flugzeuge immer mit einem harmlosen, kinderkompatiblen Zusatzumschlag tarnte, der nur so doppeldeutige Allerweltsmotive hatte, die nur einmal im Jahr wechselten. Ein Jahr lang hatten sie ein Foto aus einem Flugzeug auf eine geschlossene Wolkendecke, durch die zwei symmetrische Berggipfel – wie angedeutete Brüste – lugten. Ich saß mal im Flieger und habe den Playboy gelesen, als einer neben mir schier durchdrehte. Der hatte bei mir gesehen, dass das ein Zusatzumschlag war und unter dem das normale Monatsheft mit der normalen Titelseite. Der hatte das nicht gemerkt und das Heft nicht mitgenommen, weil er immer dachte, das sei immer dasselbe, das kenne er schon, und sich nun in Grund und Boden ärgerte, dass er auf den vergangenen Dienstflügen nicht jedesmal den Playboy genommen hat. Ich habe ihm nach dem Flug mein Exemplar überlassen.
Auch heute noch schaue ich gelegentlich durch den Playboy, manchmal auch im Flieger, obwohl es schon lange keine Gratiszeitschriften mehr gibt. Ich habe für die Zeit im Flieger ein Abo bei Readly mit Tages-, IT- und Fotozeitschriften, und da ist der Playboy – also wieder gratis – immer noch dabei. Aber es ist nichts besonderes mehr. Die Zeit des Playboy ist einfach vorbei.
Immer dann, wenn es bei Air Berlin gerade keinen Playboy gab, habe ich die Cosmopolitan genommen. In der gibt es zwar keine nackten, sondern angezogene Frauen, aber die Fotografie ist (oder war) Top. Die haben die Besten, die sich Playboy nicht mehr leisten kann. Außerdem hat die Cosmo viel versautere Stories als der Playboy, und man wird als Mann nicht schief angeguckt, wenn man mit der Cosmopolitan da sitzt.
Das Zeitalter der Aktfotografie war großartig, aber es ist vorbei.
Was mir immer häufiger auffällt: Mit welcher – zunehmenden – Dichte man auf Twitter und anderen Social Media mit nackten Tatsachen bis zur Fotografie auch unbestellt versorgt wird.
Aber: Der Schwerpunkt hat sich völlig verschoben. Es gibt überhaupt keine fotografische Qualität, keinen Bildaufbau, keine Gestaltung mehr, einfach Handy draufhalten.
Stattdessen aber: Bewegtbild, und wenn es nur ein paar Sekunden sind.
Während man sich früher Mühe gab, Konturen, Formen, Schatten, Licht und so weiter möglichst gut darzustellen und Meisterwerke zu bauen, sieht man jetzt irgendwelche Tussis in Handyvideoqualität, die mit den Titten wackeln oder sich unter vorgetäuschtem Drama aus ihrem Kleid schütteln, dessen Träger vorher schon runter waren und unter dem sie – selbstverständlich – auch nichts drunter tragen, um dann Schreck darüber zu spielen, dass man ihre freigeschüttelten Brüste sehen könne, und das dann auch gleich hochzuladen.
Wir haben eine Verschiebung von der Fotografie auf das Objekt. Es geht nicht mehr darum, Brüste möglichst beeindruckend zu fotografieren, sondern zu filmen, wie man möglichst beeindruckend damit wackelt.
Passendes Stichwort: Twerking. In den USA setzt sich gerade die Schwarze Kultur durch, unter Aufgabe jeglicher Qualitäten möglichst ekstatisch mit dem Arsch zu wackeln und sich dabei zu filmen. Früher musste ein Arsch noch knackig und schön sein. Heute ist es umso besser, je fetter, unsportlicher und unförmiger er ist, weil Fett auf die Schwingungsamplitude einzahlt. Der Sieg der Fetten über die Aktfotografie zeigt sich in Schwingungsamplituden.
Und dazu passt, dass man nicht mehr wie früher Aktfotografie in Museen und Ausstellungen als Bilder an der Wand betrachtet und auf sich wirken lässt, sondern auf Handyj-Bildschirmen als Zappelfutter konsumiert.
Und das passt dazu, dass ich mir beim Betrachten der Modelwebseiten immer öfter denke, dass es mir immer schwerer fällt, überhaupt noch den Wunsch danach zu entwickeln, nackte Frauen zu fotografieren, weil sie nicht nur immer unförmiger und fetter werden, und immer schlechter posen können (früher gingen Mädchen noch zum Ballett), immer ungepflegter, sich nicht mehr darstellen können, sondern auch immer mehr durch Tattoos verunstaltet.
Fiel mir nur gerade wieder so auf.
Das Foto stirbt, und mit ihm seine Qualitäten. Es wird in Konsum und Sehgewohnheiten längst durch Zappelvideos mit Ton der Qualitätsstufe Halt-das-Handy-drauf ersetzt. Man braucht deshalb auch keine hochauflösenden Kameras mehr, sondern solche, die per KI mit dem Fokus den Augen (oder anderen Körperteilen) folgen, damit man nur noch hinhalten und nichts mehr können muss.
Wir haben die Transformation von den Ablichtern zu den Darstellern. Hatte ich ja neulich schon: Früher haben die Fotografen die Models dafür bezahlt, dass sie sich ausziehen und nackig ablichten lassen. Heute ist es oft umgekehrt, bezahlen die Models die Fotografen für ihr Business auf Tiktok oder OnlyFans.