Ist die Digitalisierung ein großer Fehler?
Ein Gedanke.
Schon wieder schreibt mir ein Leser, dass er meint, dass zur analogen Zeit noch alles funktioniert hat – seit der Digitialisierung geht gar nichts mehr.
Mir viel spontan ein, was mir mal ein Kameramann in München und ein Fotojournalist auf irgendeiner Journalistenkonferenz gesagt haben: Früher war alles einfacher.
Der Kameramann sagte – etwa 15 Jahre her – bei der Präsentation einer neuen Digitalkamera, dass man früher als Kameramann gefilmt habe, und die Produktion und der Regisseur es eben so nehmen mussten, wie es gefilmt war, mit 3 oder 4 Takes, weil der Film frühestens am nächsten Tag entwickelt war und dann schon wieder das Set abgebaut und alle Leute weg waren. „Heute“ – also vor 15 Jahren – sei es so, dass man mit hochauflösenden Digitalkameras scharf bis auf die Bartstoppeln aufnimmt, und dann der Regisseur „Stop, keiner bewegt sich, jeder bleibt an seinem Platz“ schreit, dann in den LKW verschwindet und sich das Pixelgenau auf Bildschirmen anschaut, und dann rauskommt und meckert, was nicht passt und nochmal gedreht werden muss.
Ein Fotograf sagte, früher habe er fotografiert und die belichteten Filmrollen beim Zeitungsverlag in den Briefkasten geworfen. Fertig. „Heute“ müsse er das alles digital nachbearbeiten und den ganzen Postproduction-Kram machen, bekomme aber nicht mehr Geld.
Auf einer der Konferenzen im NDR erzählte mal Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert, wie sich das durch Digitalisierung alles geändert habe. Früher musste ein Film morgens in der Redaktion sein, um abends gezeigt zu werden. Jetzt gehe das alles per Mausklick und viel schneller, können sie auch Filme zeigen, die erst während der schon laufenden Sendung reinkommen, senden aber auch viel mehr. Ich hatte gefragt, ob das „heute“ mehr oder weniger Arbeit als früher sei. Er meinte, es sei ungefähr gleich geblieben, weil jede Arbeitseinsparung durch Digitalisierung sofort dadurch kompensiert werde, dass man mehr produziert und sendet.
Es gab mal so in den 1990er Jahren eine Zeit, noch vor dem Jahr-2000-Problem, eine Phase, in der irgendwie alles funktionierte. Es war so die Fax-Ära. Die „analoge“ Ära.
Was so nicht stimmt. Fax (G3) ist ja eigentlich schon digital, wenn auch Steinzeit-digital, nur das Benutzerinterface quasi-analog.
Fernsehen war analog. Radio war analog. Kino war analog. Fahrräder waren analog. Autos waren analog. Kameras waren analog. Zeitungen waren analog. Unterhosen waren analog. Videotext und Bildschirmtext waren digital.
Es war eine funktionierende Welt.
Aber wenn man ehrlich ist, war es eine Welt, in der überschaubar wenig funktionierte, aber im Gegensatz zu heute, so ziemlich alles funktionierte, weil man funktional viel weniger erwartete. Aber das Wenige hat funktioniert. Ich kann mich noch erinnern, mich 1990 mit einem Kumpel auf Monate vorher in Singapur verabredet zu haben ohne dort gewesen zu sein und den geringsten Schimmer zu haben, wie man sich in Singapur findet. Handy gab es noch nicht, E-Mail gab es noch nicht, Google Maps gab es noch nicht. Keine Ahnung, wie es dort aussieht. Wir haben noch per Telegramm kommuniziert und das nur in einer Richtung, denn ich wusste ja nicht, wo der war, und der wusste nur, wo ich war, solange ich noch nicht losgeflogen bin. Keine Ahnung, wie, wo, wann. Hat perfekt geklappt, wir haben uns auf Anhieb dort gefunden. Informatiker, algorithmisch. Heute trivial, E-Mail mit Google Maps Marke schicken.
Heute haben wir funktional sehr viel mehr. Wir können prima online bestellen und so weiter.
Aber vieles ist auch einfach nur Selbstzweck. Und erstaunlich viel funktioniert nicht. Wir verbringen heute verdammt viel Zeit damit, allein den Digitalkram am Laufen zu halten und zu aktualisieren. Während meines Studiums gab es noch den Spruch, dass Informatiker Probleme lösen, die es ohne sie gar nicht gäbe. Wir haben uns in etwa 20 oder 25 Jahren mehr Probleme aufgehäuft, als wir noch lösen können.
Die Welt ist komplexer, es gibt mehr Funktionalität, aber weniger davon funktioniert.
Linke glauben gern, dass die Digitalisierung – sei es per „Block-Chain“ oder „KI“ – als moderne Version der Dampfmaschine alle Arbeit abnehme im marxistischen Sinne. Das tut sie aber nicht, sondern sie fordert nur andere Art von Arbeit.
Und das zunehmend. Und ich glaube, wir sind an der Grenze angekommen, was wir leisten können. Ich hatte ja schon geschrieben, dass viele Open-Source-Projekte nicht mehr gewartet werden.
Und schauen wir uns heute um – Schulhof, U-Bahn, Flugzeug – sitzen sie alle da und glotzen auf ihre Handys.
War die Digitalisierung ein Fehler? Überfordert sie uns? Ist die Annahme, dass sie Arbeit spart, ein fataler Irrtum, weil sie mehr Arbeit fordert, als wir leisten können?
War die Digitalisierung ein Fehler?
Hätten wir in der Zeit bleiben sollen, als Kameras noch analog, Fahrräder noch tretmechanisch, Autos noch Diesel und Zeitungen noch gedruckt waren und wir per Fax und Postkarte kommunizierten und damit irgendwie glücklich waren?