Ansichten eines Informatikers

Hijo de la Luna – und sonstige

Hadmut
25.12.2024 17:01

Mir ging ein Gedanke durch den Kopf.

Im Radio dudeln ja ständig irgendwelche Dauersendungen, die sich um Musik der 80er und 90er Jahre drehen. Und es gibt manchmal Einzelsendungen über Musik der 60er und 70er Jahre.

Nahezu alles, was heute unter „gute Musik“ – oder überhaupt noch unter „Musik“ – läuft, stammt aus den 30er bis 90er Jahren, wenn man noch Big Bands und Glenn Miller und so weiter mit dazu nimmt. Dass es vorher hauptsächlich

  • Kirchenmusik
  • Volksmusik und Volkslieder, also Amateurzeug für Hausmusik, Selbersingen
  • Orchestermusik, Oper, Operettte, also Bühnenzeug für Profis

gab, ist eine Konsequenz der verfügbar Technik, die vor etwa 1900 keine oder nur experimentelle Tonaufnahmen kannte, und Musik ausschließlich live und vor Ort aufgeführt werden konnte. Erst ab 1900 war mit den ersten Schellackplatten ein Medium für aufgezeichnete Musik verfügbar, das in Massen reproduziert werden konnte. womit ein neuer Weg kommerzieller Musikproduktion aufkam und damit neue Musikformen entstanden. Ab etwa 1920 kamen Radiosender auf, die live, aber über Distanzen sendeten, und damit auch die elektrische Mikrofon-, Verstärker und Lautsprechertechnik.

Es ist deshalb leicht erklärlich und offenkundig, warum es ab etwa 1920 einen enormen Schub in der Qualität und Quantität der Musik gab, warum immer mehr Bands, Gruppen, Solisten aufkamen. Comedian Harmonists. Beatles. Rolling Stones. Alle nicht – oder bei den Harmonists so nicht – möglich ohne Radio, Schallplatten, elektronische Verstärkertechnik.

Es erklärt aber nicht den Abbruch der Musikqualität ab etwa 2000.

Vielleicht hängt das mit meinem Alter und Geburtsdatum zusammen, dass ich auf die Musik meiner Jugend geprägt bin, aber nach 2000 kam eigentlich nichts mehr, was mir jetzt auf Anhieb einfallen würde. Gut, vielleicht fällt das unter beginnende Demenz, man sagt ja, dass sich Demente an früher und nicht an das jetzt erinnerten, aber im Radio ist ja auch alles beliebig austauschbar, was aus der Zeit ab etwa 2000 stammt.

Vielleicht ist es auch ein anderer Effekt, den ich schon beschrieben habe. Ich kann mich noch sehr gut an meine erste Schallplatte und meine erste Musik-CD erinnern. (Letzere schwer zu hören, weil ich die aus Neugierde gekauft hatte, Doppel-CD Filmmusik Star Wars, die einzig billige, die es damals im Kaufhaus unter den 10 oder 20 verfügbaren CD-Titeln gab, um mir diese ganz neuen Musik-CDS mal anzusehen, was das ist, und noch keinen CD-Spieler hatte. Den habe ich mir erst etwas später als Sonderangebot in einem Möbelhaus gekauft, weil das Student das Geld halt sehr knapp war.) Aber nicht an das, was danach kam, weil das Gehirn nur Dinge besonders gut speichert, die neu oder außergewöhnlich sind. Solange wir aber etwas immer wieder erleben, die den Kauf einer Musik-CD, dämpft das Gehirn die Wahrnehmung und Speicherung immer mehr. Ich muss mir also die Frage stellen, ob die Musik ab dem Jahr 2000 bei mir irgendwie nicht mehr ankommt, weil ich schon 30 Jahre lang das Hirn mit Musik befüllt hatte, und das jemand anders erleben würde, der das nicht hat, etwa weil er 30 Jahre später geboren ist oder in einem Land lebte, in dem Musik verboten war.

Ich habe heute lang ausgeschlafen und dabei Radio gehört.

Hijo de la Luna. Das Mondenkind.

Murmeltiertag? Das lief doch gestern erst. Ach, so. Gestern war es das Original von Mecano, heute das Cover von Loona.

Ein schönes Lied, höre ich gerne. Obwohl diese übersüßlichen, leicht kindlichen Stimmen Stimmen – besonders in der Mecano-Version – eigentlich nicht mein Fall sind, aber da passt es sehr gut zum Lied (und zum Text).

Wann gefällt mir ein Lied?

Weiß ich nicht. Aber alle Lieder, die mir gefallen, hatten etwas Neues, etwas Einzigartiges an sich. Waren innerhalb der Musik (meist, es gab auch plagiierte Stellen, die ich dann aber nicht kannte, die also auf mich neu wirkten) neue Erfindungen in Klang und Melodie.

Und: Es sind alles sehr melodiöse und/oder stimmlich, gesanglich, oder klanglich herausragende Stücke, in denen jemand richtig singen konnte. Gibt auch Ausnahmen. Mein Ohrwurm in Kindertagen war Popcorn von Hot Butter, ein Stück ganz ohne Gesang. Aber neu, fetzige (ursprünglich als Klavierkomposition geschriebene und dann von einem Genie auf den damals brandneuen Synthesizer umvereinfachte) Melodie, Klang, Rhythmus.

Boah, Leute, die Les Humphries Singers. Mexico. Mama Loo. Geht heute noch ab wie Schmidts Katze.

The Mamas and the Papas: Die Harmonien.

Beach Boys: Der Sound.

Bei Weihnachtsliedern dasselbe Symptom: Alte, klassische Lieder, Kirchenlieder. Das unvermeidliche, entsetzliche „Last Christmas“. Dafür Mariah Carey mit All I Want for Christmas Is You, zwar jetzt nicht allerschönste Weihnachtslied, aber ein schönes Lied, Weihnachtspop, schöne Melodie, toll gesungen. Zwar angeblich meist in einer Aufnahme von 2009 gespielt, aber das Lied ist von 1994, und das allein hat der die Kasse ordentlich klingeln lassen.

Ein sehr schönes Lied, an dem sich aber auch wirklich alle – mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg – versuchen und abarbeiten ist Sleigh Ride. Das ist von 1948.

Empfinde nur ich das so, dass seit etwa 2000 in der Musik weitgehend tote Hose ist?

Der aktuelle Superstar, die Erfolgreichste aller Zeiten, soll Taylor Swift sein. Mir fällt zu der kein einziges Lied ein, ich weiß gar nicht, was die singt.

Wir haben Helene Fischer. Sorry, aber ich finde die schrecklich. Mit „Atemlos durch die Nacht“ hat sie zweifellos einen Hit gelandet, ich habe das gemerkt, als ich mal auf einer Hafenrundfahrt auf einem Schiff gehört habe, wie kleine Kinder im Kindergartenalter das wie bekloppt gesungen haben. Aber die hat ja überhaupt kein Profil, keinen Character, die (zer)singt ja einfach alles, und es hört sich alles gleich an. Aber nicht im Sinne von Stil, von Charakter, sondern von Maschine. Man merkt, dass die von ihrer Ausbildung eine Musical-Sängerin ist und gelernt hat, einfach alles im Musical-Bühnensound zu singen. Da denke ich nicht selten, dass sie von diesem oder jenem Lied besser die Finger und die Stimmbänder gelassen hätte. Vor allem dann, wenn sie – im Gegensatz zu Atemlos – Lieder singt, die schon oft von anderen Sängern, und darunter eben welche, die weit besser singen konnten, aufgenommen wurden und sie dann in Konkurrenz steht. Halt so für ZDF-Publikum.

ARD ist auch nicht besser. Wenn Florian Silbereisen mit seinen komischen Sendungen mit irgendwas mit Hunderttausendadventslichtern bringt, ergreife ich die Flucht, weil bei dem zwar die Kasse klingelt, ich mich aber fühle, als bekäme ich innerhalb von Minuten Fußpilz. Nichts gegen Roland Kaiser. Aber seine Varianz liegt auch nicht allzu weit über der von Helene Fischer. Halt so für ARD-Publikum.

Und wenn Sänger dann so richtig abgetakelt sind, landen sie bei Andrea Kiewel im ZDF Fernsehgarten, dem 10-Minuten-Sonntags-Dschungelcamp des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks.

Und was ich gleich gar nicht abkann, ist dieser Techno- und DJ-Kram mit ihrem Uffda-Uffda-Uffda. So taub kann man gar nicht werden, um das zu ertragen.

Die Musikgeschäftskrise

Ich hatte das seit der Corona-Krise anhand eines ehemaligen großen Musikgeschäfts in meiner Berliner Nachbarschaft beschrieben, Just Music. bis etwa 2020 hatten die da noch alles, Geigen, Blech- und Holzbläser und so weiter und so fort. Im Zuge der Krise haben die dann ihr Portfolio umgestellt, und – außer Schlagzeug, Klavier und Gitarren – alle akustischen Musikinstrumente rausgeworfen und sich mit Elektronikkram vollgestellt. Ja, hieß es auf Nachfrage, das Geschäft liefe nicht mehr gut, Musikinstrumente verkauften sich schlecht, vor allem akustische. Das habe auch damit zu tun, dass die Leute jetzt alle zuhause hocken müssen und deshalb keine lauten Instrumente mehr einsetzen könnten, nur noch Zeugs, das man mit Kopfhörer spielen kann. Und Bands könnten ja auch nicht mehr zusammen üben oder auftreten. Es gab dann dort jede Menge elektronisch Instrumente, mit irgendwelchen Leuchttasten, vor denen ich stand und partout nicht wusste, was das ist und was man damit macht (in einem Fall, in dem ein solches Ding zum Ausprobieren Strom hatte, ich aber innerhalb von ein, zwei Minuten durch willkürliches sinnfreies Herumtippen auf bunt leuchtenden Gummitasten ein Popgedudel zustandebrachte, das auch nicht schlechter war als das, was im Radio läuft. Man lernt nicht mehr über Jahre ein Instrument zu spielen, sondern man beschafft sich Elektronik, bei der ein paar Tastendrücke reichen. Weil und damit sich alles gleich anhört.

Ist auskomponiert?

Es stellt sich eine Frage.

Sind die heute alle zu doof, um noch Musik machen zu können?

Oder ist es ein Urheberproblem? Ist vielleicht das Reich der noch erfindbaren Musik abgegrast? Irgendwo sagte mal ein Musiker, dass man eigentlich nichts mehr schreiben könne, was neu sei, und man auch so viel gehört habe, dass man unbewusst und ungewollt immer von irgendwas inspieriert ist, das man für eine neue Idee hält, dann von anderen aber als Plagiat überführt wird.

Sind alle Musikstücke, die innerhalb unseres Harmoniensystems als angenehm empfunden werden, bereits komponiert? Der Informatiker mit dem Hintergrund der theoretischen Informatik würde fragen, ob Musikstücke nach Komplexitität geordnet und rekursiv / iterativ aufgezählt werden können, und alles, was man mit normalem Gehirn und allgemeinem Genieniveau noch erfinden kann, „schon weg“ ist.

Sind Musikstücke wie Primzahlen? Es gibt unendlich viele, aber man muss immer weiter, immer aufwendiger suchen, um noch neue zu finden, die noch keiner kennt, um keine Zahlen zu erwischen, die schon bekannte Zahlen als Teiler haben.

Könnte es sein, dass sich der Vorrat an komponierbarer, entdeckbarer Musik verbraucht hat wie Landoberfläche, auf der man heute auch nichts mehr entdecken kann, wo noch kein Mensch gewesen war, was nicht zumindest per Satellit betrachtet und kartographiert ist? Dass wir heute keine Entdecker und Eroberer in der Seefahrt mehr haben, weil alles entdeckt und erobert ist?

Oder anders gesagt:

Zieht das Zeitalter des KI-generierten Gedudels herauf, weil

  • alles erfunden wurde und alles nur noch Variationen und Kombinationen des Bestehenden sind?
  • zu wenige Leute noch selbst spielen und komponieren können, die Fähigkeit verloren geht?
  • man heute nichts Neues mehr haben will, sondern nur noch Variationen als Bestätigungen hört?
  • man heute vielleicht gar nicht mehr bewusst Musik hört, weil sie nur einen Sinn anspricht, wir aber Video und Videospiele wollen, und Musik nur noch Hintergrundgedudel ist, in derselben Weise gegen Video verliert wie die Fotografie?

Die Ausnahme

Es gibt heute – naja, sagen wir mal auch ab den 80er und 90er Jahren, aber nicht nachgelassen – durchaus einen – nur einen – Bereich, in dem phantastische Musik geschrieben und produziert wird, und meines Erachtens besser als je zuvor.

Filmmusik.

Filmmusik ist großartig, auch wenn man dabei einschränkend sagen muss, dass es nur einige wenige Leute sind, die da herausragen, wie Henry Mancini im allerdings auch letzten Jahrhundert, oder eben John Williams, der ja eine Wahnsinnsmusik nach der anderen schreibt. Aber eben auch ein alter, weißer Mann, ein Kind des letzten Jahrhunderts ist.

Es würde aber zumindest meinen Gedanken stützen, dass Musik für sich nur noch zum Hintergrundgedudel geworden ist und die Wahrnehmung sich auf Video fokussiert. Da nämlich wird Filmmusik eben Teil des Films, der multimedialen Wahrnehmung.

Die Frage

Ist das große Zeitalter der Musik vorbei?

War Musik, die ohne Film, ohne Orchester- und Konzertbesuch, die von der Aufnahme nur um ihrer selbst Willen und nur isoliert konsumiert wurde, ein vorrübergehendes Phänomen des 20. Jahrhunderts?

Haben wir eine Musikerkrise, weil der Konsum weggebrochen ist? Es gibt ja Musiker, die sagen, dass man mit Plattenverkäufen nicht mehr reich werden kann, nur bekannt, und das große Geld dann nur noch mit Konzerten und Eintrittsgeldern verdienen kann. Manche sagen, das läge an den geänderten Konsumgewohnheiten, keiner kaufe mehr CDs. Andere sagen, es läge an den Plattenfirmen, die Musiker nur noch ausbeuten. Wieder andere sagen, dass jede Platte sofort als Raubkopie in Umlauf käme, es sei zu leicht, MP3s zu verteilen.

Und sind wir einfach zu doof, zu unkreativ, zu sozialistisch geworden?

Oder hat es was damit zu tun, dass man – vor allem in den USA – Weiße aus der Gesellschaft gedrückt und sich auf Schwarze fokussiert hat, die zwar – früher einmal – verdammt gut singen konnten, als sie noch in die kirchlichen Gospelchors gingen, aber als Komponisten kaum aufgefallen sind, außer dadurch, dass man versuchte, berühmte weiße Komponisten nachträglich zu Schwarzen umzuerklären? Und die musikalisch längst auf Rap und Arschwackeln (Twerking) abgestürzt sind?

Wie geht es weiter?

Ich muss leider sagen, dass ich in Deutschland in der freien Wildbahn immer öfter arabisch-türkisches Musikgut höre, das auf mich – sorry – wie disharmonisches Gejaule wirkt. Und ja auch immer mehr Leute in die Gesellschaft einwandern, die Musik aus pseudoreligiösen Gründen ganz ablehnen.

Und es wäre jetzt auch nicht so, dass Einwanderer durch besondere Beiträge zum Kulturgut Musik aufgefallen wären. Ich könnte mich jetzt nicht erinnern, in irgendeiner ÖRR-Unterhaltungsshow schon mal eine Syrische Pop- oder Rockband gesehen oder von einer syrischen Opernsängerin gehört zu haben. Orientalischer als Kelly-Family wird es bei uns nicht.

Der letzte orientalische Brüller, an den ich mich erinnern kann, war Im Nin’Alu von Ofra Haza. Aber die ist erstens tot und zwar zweitens Israelin. Die Israelis sind gut in Musik, aber Deutschland inzwischen neoantisemitisch. Deren Sound war toll, funktionierte aber auch nur, weil es neu war, lässt sich nicht wiederholen. Ähnlich wie Cher mit ihrem überdrehten Auto-tune-Song Believe, der ein Brüller war – weil er neu war. Wiederholungen des Effekts in anderen Liedern hätten nicht funktioniert.

Die Elektronik ist so weit, dass man nicht mehr voll singen lernen muss, und es ist eine Frage der Zeit, bis die Software nicht mehr nur die Töne geradezieht, sondern den Song durch einen synthetischen Stimm-Avatar singen lässt:

Ich würde wetten, dass es künftig evolutionäre KI-Modelle gibt, die auf Erfolg hin optimiert werden.

Normalerweise funktioniert ja generative KI darüber, dass man zufällige Muster generiert und variiert (mutiert), und dann immer evolutionär das aussucht, was den Mustererkennern am besten zusagt, und das iteriert und damit sukzessive optimiert.

Stellt Euch folgendes vor: Man stellt – offiziell – einen neuen Song eines (echten oder synthetischen) Sängers vor. Man schickt aber nicht jeder Radiostation dieselbe Aufnahme, sondern – per KI ja ganz leicht und billig möglich – leichte Variationen. Dass die sich alle ähnlich, aber doch leicht unterschiedlich anhören. Und befragt dann die Hörer, schaut auf die Klick- und Kaufzahlen, ersetzt also die KI-Iteration durch ein Feedback der Hörer. Und das macht man ein paar Mal, um zu lernen, was besser ankommt, was mehr Erfolg bringt. Vielleicht sogar regional. Dass der neue Song dann in Texas etwas anders klingt als in New York oder Kalifornien.

Um auf diese Weise dann eine Art opportunistischer Musik zu erzeugen, die über KI-Methoden und iterative Selektion auf Erfolg und Platz 1 hin optimiert wird.

Manchmal finde ich meine eigenen Gedanken schrecklich.