Belichtungsmesser nach Gewicht
Eine unbedeutende Randbetrachtung.
Eigentlich war ich auf dem Weg zum Essen. Genauer gesagt, auf dem Weg vom Essen, denn ich wollte eine taiwanesische Nudelsuppe, fand aber, das mir die Warteschlange vor dem Laden entschieden zu lang ist, denn ich erachte es als unter meiner Würde, vor einem Restaurant, einer Suppenküche gar, anzustehen. Ich war also ersatzweise beim Thai und hatte auf dem Weg dorthin aus dem Fenster der S-Bahn unterwegs einen Flohmarkt entdeckt und beschlossen, auf dem Rückweg einen Verdauungsspaziergang über den Flohmarkt zu unternehmen.
Aber, ach.
Irgendwie hat es eigentlich nichts mehr mit Flohmarkt zu tun, es ist ein Basar, auf dem migrantische Händler Berge von beliebigem Schrott feilbieten.
Mir kam in Erinnerung, wie ich als Kind mit meinem Vater über die Flohmärkte gepilgert bin, um Ausschau nach alten Kameras zu halten.
Alte Kameras hatten sie auch da an manchen Ständen, aber es war ein schreckliches Elend: Kaputt, verdreckt, lieblos hingeworfen, ausgebreitet, aufgeschüttet, und keine Sau interessiert sich mehr für alte Kameras, zumal die Kameras, die heute als „alt“ gelten, keinen Klassikerwert mehr haben sondern schon Elektronikschrott aus der Massenproduktion und tatsächlich wertlos sind. Auch völlig vergammelte und faktisch wertlose Objektive stehen herum, nach offen und ohne Deckel, Wetter, Dreck, Sonne, Regen, Staub ausgesetzt. Es ist ein Elend, die Erbärmlichkeit des Feilhaltens jedweden Zivilisationsmülls dessen man habhaft werden konnte. Nicht ein einziges Stück, dabei, das ich geschenkt haben wollte, alles irgendwie auch versifft, verdreckt, verkratzt.
Ich kam an einem Verkaufsgespräch vorbei, in dem ein – ebenfalls migrantischer – Käufer sich gerade eine Minolta 7000 mit 50-mm-Objektiv andrehen ließ und durchguckte, als wäre er Profi und hätte Ahnung. Die Minolta 7000 war die erste Kamera mit brauchbarem Autofokus und schon eine gute Kamera. Aber das war sie 1985. Richtig gut waren erst die Nachfolger 7000i und 8000i. Ich habe sogar noch eine 7000 rumliegen, weil ich die mal zu einem gebrauchten Objektiv dazubekommen habe (komischerweise waren damals auf Ebay ganze Kameraausrüstungen, bei denen das gesuchte Objektiv dabei war, deutlich billiger als das gesuchte Objektiv alleine, wenn das im Titel genannt wurde, so kam ich mal billig an ein Objektiv und bekam noch zwei andere und eine Kamera gratis dazu, weil ich die ganze Fototasche samt Inhalt kaufte und die Erben die auf Ebay nicht beschreiben konnten). Der faktische Nutzen ist heute gleich Null und das alte Minoltaobjektiv einfach tot. Außerdem muss man da noch einen Film einlegen. Der potentielle Käufer, der so tut, als kenne er sich aus, und versucht, wie ein Profi auszusehen, merkt nicht, dass das keine Digital-, sondern eine Analogkamera ist und die einen Film braucht. Ich hüte mich aber, mich da einzumischen, oder mir irgendwas anmerken zu lassen.
Ich kam an einem Stand vorbei, wo es einen ganzen, großen Tisch voller alter Kameras gab. Aber nichts von Wert, alte Einfachkameras, meist ausbenutzt oder kaputt. Zwei wollte ich in die Hand nehmen und spürte schon beim Anfassen, dass sie kaputt sind, weil Teile locker waren, die fest sitzen müssen, typisches Merkmal gescheiterter Reparaturversuche.
Das war kein Kameraflohmarkt, das war nicht einmal mehr ein Kamerafriedhof. Das war ein Kameramüllhaufen.
Doch mittendrin, da lag ein Gossen Sixtino, ein kleiner, alter Belichtungsmesser, noch in der Dose mit durchsichtigem Deckel, der mich bitterlich anflehte „Rette mich, bitte, bitte, rette mich aus diesem Elend!“
Ich liebe diese Belichtungsmesser der 50er und 60er Jahre. Nicht, weil sie heute noch einen realen praktischen Wert hätten, das kann heute jede Kamera besser. Und wenn sie überhaupt noch funktionieren, dann auch nicht mehr so genau. Aber die hatten noch diese alten, logarithmischen Rechenscheiben drauf, und man drehte oder schob da noch Skalen von Belichtungszeiten und Blenden aneinander vorbei, und damit kann man so richtig gut erklären, wie das mit der Belichtung funktioniert. Heute zeigen Kameras und Belichtungsmesser ja nur noch irgendwas digital an und man versteht nicht, wie und warum.
Zeige niemals Interesse. Das treibt den Preis hoch. Befleißige Dich eines Gesichtsausdrucks angeekelter Verachtung und großer Langeweile. Schau Dir andere Dinge an, die Dich nicht interessieren, damit Du sie demonstrativ nicht kaufst, um im Rahmen des Desinteresses beiläufig, nur so pro Forma, nach dem Preis dessen, was Du kaufen willst, achte aber darauf, es dann, zumindest dann, wenn keine Kaufkonkurrenz droht. Wenn Konkurrenz droht, dann muss man es in der Hand behalten, damit der andere es nicht ansehen kann und auf die Idee kommt, mitzubieten. Versteigerungen sind ganz schlecht.
Migrant, nur sehr gebrochen deutsch. Was kostet „das da“? Muss man sich immer überlegen, ob man Dinge beim Namen bezeichnet, weil man damit zu erkennen gibt, dass man sich zumindest etwas auskennt und das haben will. Manchmal ist es gut, zu zeigen „ich habe Ahnung und Du nicht“, oft ist es aber besser, den Kauf unter Doofen zu verstalten und sich adäquat doof zu stellen.
Nun haben wir beide ein Problem:
- Er hat erkennbar nicht die geringste Ahnung davon, was das überhaupt ist.
- Ich weiß, was es ist, und wie man es benutzt, kenne aber die Marktpreise nicht.
Ich denke mir so insgeheim, dass 5 Euro ein Wert ist, der den immanenten Vorteil hat, dass man damit nicht mehr als 5 Euro zum Fenster rauswirft, wenn es schief geht. Im Gegensatz beispielsweise zu 10 Euro. Außerdem habe ich einen modernen Belichtungsmesser im Wert von 800 Euro, brauche also keinen 60 Jahre alten mehr, das ist nur so ein altes Interesse.
Er weiß nicht, was er verlangen soll. Als hätte er noch nie so ein Gerät gesehen oder jemanden, der es benutzt.
Er hält es in der Hand, guckt völlig ratlos drauf, merkt aber, dass das Ding ja – was auch immer es sein mag – viel kleiner und leichter als die Kameras ist und auch nur aus Plastik. Er wiegt es in der Hand, um das Gewicht zu schätzen und kommt nach Gewicht auf einen Preis von 15 Euro, klingt aber selbst nicht überzeugt davon, eher so, als ob er anfragt, ob 15 Euro in Ordnung wären. Preise nach Gewicht.
Oh, nein! Nicht mit mir. 15 sind lächerlich, keinesfalls mehr als 5. Ich gestikuliere empört, zeige Gesten, er möge mir von der Pelle rücken, und trete verärgert-belustigten Blickes den Weg in die Gegenrichtung an. Habe ich beim Feilschen in Singapur gelernt: Empört ablehnen und gehen, „Saftladen!“, als käme man nie wieder, und gehen, keinesfalls umdrehen, aber keinesfalls zu schnell, denn er muss einem hinterherlaufen und bessere Gebote hinterherrufen müssen. „10!“ – „Haha! Für den Mist?“ – „Nimmst Du für 8!“ – „Auf keinen Fall!“ – „6?“ – „Keinen Cent mehr als 5!“ – „Gut, nimmst Du für 5“ – „Deal!“
Und so kam ich nun in Besitz eines kleinen Belichtungsmessers, der älter ist als ich. Für 5 Euro.
Ich habe gerade festgestellt, dass der Marktwerkt bei etwa 20 Euro liegt.
Aber es ist ein Elend, ein schreckliches Elend, durch all die verwesenden Kameraleichen gehen zu müssen. Macht keinen Spaß mehr.