Fliegende Maccaroni
Noch eine Leserzuschrift zu dem Ostseefund:
Was ist das?
Hallo Hadmut,
das ist eine Pulverstange aus der Treibladung einer Granate, sieht aus wie eine Maccaroni. Die Dinger lagen am Ende des Krieges massenweise in Bad Godesberg herum, und wohl auch an vielen sonstigen Stellen. Sie waren beliebtes Spielzeug für uns Kinder, also die Jungens: an einem Ende anzünden, auf den Boden werfen, die Flamme austreten, und dann fliegt die Maccaroni mit lautem Pfeifen in wilden Kurven durch die Luft, bis sie restlos verbrannt ist. Der Flug dauert etwa fünf Sekunden. Wir hatten unsere Freude dran, und die Erwachsenen haben geschimpft. Nach etwa einer Woche waren dann fast alle offen herumliegenden Munitionsreste eingesammelt und beseitigt, und wir Kinder mußten wieder harmlosere Spiele spielen.
Frohe Ostern wünscht Dir
Mein Vater erzählte mal, einige Male, wie sie als Kinder nach dem Krieg Bomben wegräumten und entschärften. Ich dachte mir da immer so „Ja, ganz bestimmt, mein Vater, der Bombenentschärfer, der als Kind schon mit bloßen Händen Bomben entschärft hat. Und ich bin Batman.
Bis ich mal dabei saß, wie er sich bei einer Vereinsfeier mit einem Sportrainer ungefähr gleichen Alters lachend und glucksend vor Vergnügen darüber unterhalten hat, und die sich sofort einig waren, und das beide kannten, wie man welche Bombe entschärft. Wie man sich auf diese und jene Bombe rittlings draufsetzt und dann mit beiden Armen kräftig irgendwie so links-rechts-links-rechts irgendwas macht, bis sich der Zünder herausdrehen lässt. Und wie man welche Granten wohin wirft, um sie unschädlich zu machen und hochgehen zu lassen. Die haben als Kinder massenweise Bomben und Granaten entschärft und weggeräumt, und beide erzählten exakt dasselbe, sogar über die einzelnen Modelle und wie man sie erkennt und entschärft, obwohl sie in völlig unterschiedlichen Gegenden aufgewachsen waren und sich noch nie zuvor darüber unterhalten hatten.
Familienfolklore war auch, wie in der Kriegs- oder Nachkriegsnot, so genau weiß ich das nicht mehr, wann das gewesen sein soll, einer meiner Onkel als kleines Kind freudestrahlend in die Küche kam und jubelte, er habe eine Bratpfanne gefunden (damals etwas sehr, sehr Wertvolles), und dabei aber eine scharfe Tellermine unter dem Arm hatte. Meine Großmutter hatte die dann gaaaanz vorsichtig raus auf den Acker gebracht und aus einiger Entfernung mit einem Schuss aus ihrer illegalen Pistole hochgejagt. Autofahren konnte sie nie. Schießen schon.
Hört man aber Leuten zu, die das als Kinder miterlebt haben, erzählen die eigentlich alle solche Geschichten. Das war wohl einfach allgemein so bei der Menge an Munition des zweiten Weltkriegs. Ich kann mich sogar selbst noch erinnern, als kleines Kind in einem Haus gewohnt zu haben, bei dem man oben im Dachstuhl sehen konnte, wo und wie der geflickt worden war, weil eine Fliegerbombe reingefallen und einen Teil des Daches weggerissen hatte. Und wir hatten auch noch eine dieser damals weit verbreiteten Blumenvasen, die aus einer leeren Messinggranathülse gehämmert war (wie die Hülse einer Gewehrpatrone, nur eben so 10 oder 15 cm im Durchmesser), weil man damals große Versorgungsnot hatte, diese Hülsen aber überall rumlagen, und man sich überlegt hatte, was man damit anstellen könnte.
Dabei ist der Teil mit der Munition und den Bomben und den Minen noch der lustigere Teil. Anscheinend haben sich Kinder damals auch damit befasst, Leichen wegzuräumen (und vermutlich auch zu fleddern), so wurde mir auch erzählt, dass sie damals auch Leichen aus der Elbe zogen. Ich bin mir nicht mehr sicher, warum sie das getan haben, aber Kinder machen solche Dinge, es gab auch nicht genug Erwachsene dafür, und es kann sein, das weiß ich nicht mehr so genau, dass man damals auch für jede Leiche, wie man da rauszog, etwas Geld bekam. Man hatte ja keine Männer mehr, die das hätten erledigen können.
Das sind alles Dinge, die sich heutige Generationen gar nicht mehr vorstellen können, die dann schon Heulkrämpfe bekommen, wenn man sie mit einem anderen als dem gewünschten Phantasiepronomen anspricht.
Mein Vater hatte mal so eine Nachkriegssüßigkeit für Kinder bereitet. Etwas Zucker und Haferflocken zusammen mit etwas Öl in eine Pfanne gegeben und auskaramelisiert, bis es klumpt. Ich fand, es schmeckte gruselig. Er war begeistert und fand „genau wie damals“. Also, zwar nicht gut. Aber etwas, worüber sie sich damals als Kinder riesig gefreut hatten – sonst gab es ja nichts.
Ich hatte eigentlich immer so persönliches Problem mit so einigen Messi-Attütiden meines Vaters. Der hat nichts weggeworfen, gnadenlos alles aufgehoben. Alte, krumme, rostige Schrauben? Im Keller eine große Büchse, da kamen die alle rein. Ich fragte immer, wozu das gut sein solle, weil man darin keine drei gleichen Schrauben finden könne und schon gar nicht solche, nach denen man gerade sucht. Ich persönlich neige da eher zum Schraubensortiment aus dem Baumarkt. Nichts da. „Man weiß nie, wie man das nochmal brauchen kann!“ In der Küche – er war ein sehr guter Koch. Aber er hatte so eine Angewohnheit, irgendwelche Tütensuppen und Würzmischungen, halt diesen Tütenkram von Maggi und Co, anzusammeln, aber fast nie zu benutzen. Als die dann irgendwann mal sehr viele wurden, fragte ich mal, ob ich die, bei denen das Haltbarkeitsdatum schon mehr als 15 Jahre abgelaufen war, wegwerfen könne. Da war er sauer. „Du hast nie gehungert!“ Naja, aber wenn uns diese Tütensuppen über den nächsten Krieg bringen, und so ein Tütchen (damals) ein paar Pfennige kostet, wäre es doch ratsam, wenn ich die einfach 1:1 gegen neue Exemplare austausche, um den Bestand wieder herzustellen. Nein, nichts zu machen. Die eiserne Reserve darf nicht angetastet werden. Nicht einmal ersetzt. Wie bei den alten Schrauben.
Diese traumatische Kindheit hat dann wohl das Wirtschaftswunder ermöglicht, anpacken, wieder aufbauen, und sich dann auf die Generation Boomer fortgepflanzt, übertragen, die das von ihren Eltern noch so gelernt hatten.
Und heute bekommen sie Heulkrämpfe, wenn Geschlecht 97 nicht auf dem Damenklo willkommen geheißen wird.