Ansichten eines Informatikers

Das juristische Problem der Vor- und Nachzensur

Hadmut
13.3.2016 11:21

Ich bin ja gerade in Sachen Medien etwas unterwegs, und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr fällt mir auf, dass da ein böser Fehler im Zensur-Recht steckt.

Art. 5 GG sagt, dass eine Zensur nicht stattfindet. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Freiheit der Berichterstattung seien gewährleistet.

Doch, so die spitzfindigen Juristen, da müssen man differenzieren, es gäbe nämlich zwei Arten von Zensur, die sogenannte Vorzensur (auch „Präventivzensur”) und die Nachzensur (auch „Repressivzensur”). Der Unterschied ist, dass man sich bei der Vorzensur vor der Veröffentlichung eine Genehmigung holen bzw. sich sein Werk politisch verändern lassen muss, während man bei der Nachzensur erst mal veröffentlich und danach dafür bestraft und das Werk verboten wird. Siehe dazu etwa die Seite der Bundeszentrale für politische Bildung, steht aber auch in den dicken Grundrechtskommentaren so. Man sieht das seit Jahrzehnten, oder noch länger, so, und schon in der Frühzeit der Bundesrepublik (denn gerade um deren Vorgeschichte ging es ja) hat man sich juristisch auf die Sichtweise festgelegt, zwischen Vor- und Nachzensur zu unterscheiden und nur die Vorzensur als verboten anzusehen, die Nachzensur jedoch als legitim.

Die Sache hat einen gewaltigen Haken.

Diese Unterscheidung stellt auf einen Veröffentlichungszeitpunkt, einen punktuellen Vorgang ab, der Zensurmaßnahmen klar in ein vorher und nachher unterteilt, daher ja auch diese Nomenklatur. Der ist gegeben, wenn man eine normale körperliche Verbreitung nach dem technischen Stand des 20. Jahrhunderts betreibt, nämlich ein Buch in einer Auflage oder eine Zeitschrift herausbringt. Da druckt man ganz viele und schmeißt sie auf den Markt, in die Buchgeschäfte, in die Zeitungsläden, und dann ist sie erst mal draußen und zirkuliert in Privatbesitz. Und damit findet auch diese Vorher-Nachher-Unterscheidung statt, weil dann nämlich auch die Obrigkeit erst mittelbar durch die Veröffentlichung, also nachträglich, vom Inhalt erfährt und Maßnahmen einleiten kann. Also prinzipiell erst nach einer Verbreitung eingreifen kann und sich damit in ihren Zensurmaßnahmen immer noch einer demokratischen Bewertung aussetzt.

Das ist heute aber anders.

Wir haben das Internet und die digitale Verbreitung, zudem E-Books, Books on Demand und dergleichen mehr.

Und damit, und das ist ganz wichtig, einige ganz wesentliche, den Unterschied zwischen Vor- und Nachzensur konstituierende Eigenschaften nicht mehr:

  • Der Verbreitungsvorgang ist zeitlich gesehen nicht mehr punktuell, sondern kontinuierlich. Es wird nicht auf einen Schlag verbreitet, und dann ist es in Umlauf, sondern wir stellen was auf eine Webseite oder in Twitter oder Facebook, und dann wird es kontinuierlich gelesen. Es ist schon länger her, aber ich habe mir vor ein paar Jahren mal angesehen, wie sich die Zugriffe auf meine Blogartikel zeitlich verteilen. Die ersten Stunden relativ wenig, dann steigt es an und erreicht ein Maximum nach einigen Stunden, tageszeitbedingt mit unterschiedlichem Nachlauf, hält dann für 3-4 Tage an und flacht dann ab (was aber auch mit der Länge des Index auf der ersten Blog-Seite zusammenhängen kann, denn es blättert kaum jemand auf ältere Seiten. Außerdem gibt es zwei Wellen, nämlich die Primärleser und dann die, die von anderen Blogs als deren Primärleser querverlinkt werden. Danach geht es völlig anders weiter, weil dann nicht die Blog-Konsumenten, sondern die Themen-Leser als Querverweis-Leser und die Google-Sucher kommen, die das Medium nicht regelmäßig und zeitnah lesen, sondern die themenorientiert, aber bezüglich ihrer Quellen sehr in der Breite lesen. Je nach Inhalt des Artikels können das sogar deutlich mehr Leser sein, aber das verteilt sich zeitlich sehr. Mitunter zieht sich das über Jahre hin. Digitale Publikationen bleiben auffindbar, während die Zeitung von letzter Woche tot ist, da geht man nur ins Archiv, wenn man einen ganz bestimmten Artikel sucht, aber man googelt nicht quer über alle Zeitungen um auch alte Artikel zu konsumieren.

    Damit verlieren „im Digitalen” vor allem der Neuigkeitswert und das Punktuelle der Veröffentlichung. Je nach Inhalt kann auch ein 5 Jahre alter Artikel in den Suchmaschinen und Querverlinkungen genauso präsent sein wie ein neuer – oder sogar noch mehr, weil bei manchen Themen die Zahl der Verlinkungen mit der Zeit steigt und nicht abnimmt.

    Damit gibt es kein klares „vorher” oder „nachher”. Der Publikationsvorgang ist kontinuierlich.

  • Es gibt keine körperliche Verbreitung.

    Bis ein Buch oder ein Zeitschrift erst mal verboten ist, sind bereits hunderte, tausende, vielleicht hunderttausende Exemplare in Umlauf und an unbekannten Orten verschwunden, etwa durch den Schutz der Wohnung geschützt. Man kann sie nicht wieder einsammeln. Die sind erst mal in Umlauf.

    Im Internet und bei E-Books auf Readern ist das ganz anders. Denn da gibt es (von Dateien im Cache mal abgesehen, aber die sind nicht zuverlässig greifbar) in der Regel keine Downloads (schon, etwa als PDF, aber das ist die seltene Ausnahme), sondern auf Servern gespeicherte Webseiten, auf die man zugreift. Statt des Inhaltes verbreitet man nur die Ortsangabe, wo man das finden kann.

    Es heißt immer so schön, das Internet vergesse nichts.

    Stimmt nicht. Ich erlebe es immer häufiger, dass gerade im politischen Bereich Informationen schon nach Stunden, manchmal Minuten weg und verschwunden, oder stark geändert sind. Auch E-Books auf E-Book-Readern wie Amazon Kindle stehen nicht unter der Kontrolle des Endnutzers, sondern können zentral manipuliert werden. Werk können ferngesteuert gelöscht, gesperrt oder sogar – vom Leser unbemerkt – verändert werden. Wenn beispielsweise in Kinderbüchern die Sprache gegendert oder irgendwelche Berichterstattung politisch beanstandet wird, können die das auch in bereit ausgelieferten Exemplaren noch verändern. Bei gedruckten Büchern und Zeitungen ging das nicht, die waren vor einer „Nachzensur” einfach aufgrund ihrer rein körperlichen Eigenschaft geschützt. Früher musste man ein Buch halt erst mal finden und haben, bevor man es verbrennen konnte.

  • Veröffentlichung und Kenntnisnahme fallen auseinander.

    Früher war es so, dass die Publikation an einen Auslieferungsprozess gebunden war. Das Buch und die Zeitung waren publiziert, wenn sie per LKW an die Buchhandlungen, Zeitschriftenkiosks und Abonnenten ausgeliefert wurden. Publikation und Empfang fielen so eng zusammen (oder waren identisch), dass ein Zensor nicht mehr dazwischen kommen konnte.

    In der digitalen Welt ist das anders. Erst wird publiziert, und dann kommen die Leser irgendwann auf die Webseite. Damit ergibt sich eine erhebliche zeitliche Lücke zwischen Publikation und Empfang.

    Und das ist hochgefährlich, denn die juristische Unterscheidung zwischen Vor- und Nachzensur ist an die Publikation gebunden und nicht den Empfang beim Leser.

    Fällt also, was jetzt möglich ist, der Zensurvorgang zwischen Publikation und Wahrnehmung durch die Leser, dann ist das zwar faktisch und effektiv eine Vorzensur, nach juristischen Maßstäben aber eine (erlaubte) Nachzensur.

    Dadurch wird die verbotene Vorzensur durchgeführt, aber juristisch für eine erlaubt Nachzensur gehalten.

  • Die Zensurgeschwindigkeit hat sich enorm erhöht.

    Früher war die Zahl der Zensoren personell stark begrenzt, und die mussten Werke halt erst mal bekommen und lesen, waren damit gegenüber einer Verbreitung immer „hintendran”. Die Verbreitung hatte damit einen Zeitvorteil gegenüber der Zensur, zumal sie eben punktuell war.

    Heute jedoch passiert das alles digital. Der Zensor kann sie sofort im Augenblick der Veröffentlichung, und damit sogar vor dem ersten Leser, von einer Veröffentlichung Kenntnis nehmen und sie zensieren. Auch damit wird aus einer formaljuristischen Nachzensur eine tatsächliche Vorzensur.

    Dazu kommt aber noch ein technischer Vorteil des Zensors. Denn während der Leser den Text immer noch selbst zur Kenntnis nehmen muss und ihn (jedenfalls noch) nicht von seinem Computer für ihn lesen lassen kann, können Zensoren heute automatisiert arbeiten. Wortfilter, Heuristiken und dergleichen. Wir erleben gerade, wie „künstliche Intelligenz” auf Basis von neuronalen Netzen den weltstärksten Go-Spieler besiegt hat, und dahinter steht Google.

    Die im Prinzip gleichen Verfahren kann man auch nutzen, um Computer auf Texte zu trainieren und sie zu bewerten. Damit kann dann in Millisekunden, effektiv gleichzeitig oder sogar kurz vor der Publikation bewertet werden, ob etwas durchgelassen oder verboten wird. Auch wenn der Zensor dann vielleicht noch manuell und damit etwas verzögert auf den roten Knopf drückt, ist er damit deutlich schneller als die Kenntnisnahme durch Leser. Auch hier wieder: formaljuristisch Nachzensur, faktisch Vorzensur.

Und wenn man sich anschaut, was gerade bei Facebook, Twitter, teils auch bei Google so abläuft, und das unser Bundesjustizministerium gerade betreibt, dann läuft das genau darauf hinaus: Nämlich eine verbotene Vorzensur juristisch als erlaubte Nachzensur hinzustellen, weil die künstliche juristische Unterscheidung zwischen Vor- und Nachzensur auf digitale Medien nicht mehr passt und falsche Ergebnisse liefert.

So entsteht ganz schleichend und „juristisch verfassungskonform” der Zensurstaat. Und zu allem Übel hat man kaum eine Chance, sich dagegen zu wehren, denn erfahrungsgemäß glauben Juristen immer, sie wüssten alles besser, und hören auf Informatiker nur sehr selten und nur, wenn sie gerade wollen. Es wird äußerst schwierig, Juristen davon zu überzeugen, von ihrer alten, festzementierten Auffassung von der verbotenen Vor- und der erlaubten Nachzensur abzubringen.

Die Lösung liegt – wie so oft, wenn das juristische versagt – in rechtsmissbrauchsresistenter Technik. Man wird sich dazu einiges überlegen und Facebook-Alternativen entwickeln müssen, die genau dieses Problem berücksichtigen. Zynisch könnte man sagen, dass wenn das Recht entgleist, man sich rechtsfreie Räume schaffen muss, fast hätte ich jetzt schon „Schutzräume” geschrieben. Aber das Gegenteil ist der Fall, es geht darum, Grundrechte zu schützen. Vor Juristen.