Ansichten eines Informatikers

Imaginäre Streitsucht

Hadmut
25.6.2016 11:51

Eine seltsame Beobachtung.

Fällt mir gerade so auf.

Ich höre gerade Geschrei draußen, denke mir, was ist da los, und gucke aus dem Fenster. Auf dem Supermarktparkplatz in der Nähe streitet sich ein Mann mit jemand. Ganz enorm. Ein richtig erbitterter Streit. Er schimpft, zetert, gestikuliert, und man merkt, der hat richtig Krach. Ich verstehe nicht worum es geht, denn ich verstehe die Sprache nicht. Er sieht aus wie ein Inder oder was aus der Gegend, und hört sich auch so an.

Nur: Da ist keiner.

Außer ihm ist der gesamte hintere Teil des Parkplatzes – bis auf einen Lieferwagen, dessen Fahrer sich gerade irgendwas notiert und offenbar mit dem Mann nichts zu tun hat und auch nicht Ziel seines Streites ist, nicht mal in seiner Blickrichtung liegt – völlig leer. Da sind nur leere Parkplätze und die Rückwand des Discounters. Die Person, mit der er sich streitet, existiert nur in seiner Vorstellung.

Was die imaginäre Person offenbar nicht davon abhält, ordentlich Kontra zu geben, denn der Streit eskalierte zunächst, auch an Eifer, Hitze, Lautstärke und anscheinend Ausfälligkeit. Zu meinem Glück aber scheint die imaginäre Person sogar gewonnen zu haben, denn der Schreihals scheint gerade beleidigt, aber mit eingekniffenem Schwanz von dannen zu ziehen. Bedenke, wen Du Dir vorstellst. Er könnte stärker sein als Du.

Komischerweise sind mir solche Vorfälle in Berlin schon sehr häufig aufgefallen. Die Wege hier zwischen den Häusern sind ganz neu, ganz frisch gemacht, schön grün, neue Gehwegplatten, Parkbänke. Auch da sitzt ab und zu ein alter dicker Mann, der sich in unterschiedlichen Formen – mal Streit, mal Diskussion, aber immer laut, impulsiv, intensiv – mit jemandem unterhält. Nur muss man bei dem sehr aufpassen, weil schon der kleinste Blickkontakt genügt, um von ihm als Ansprechpartner auserkoren zu werden. Bei dem ist die eingebildete Person eher so Stellvertreter und Lückenfüller, bis eine echte kommt.

Und so weiter.

Früher ist mir sowas viel seltener aufgefallen. Genauer gesagt, kann ich mich bisher nur an einen eindeutigen und einen Vielleicht-Fall erinnern.

Als Schüler war ich mal in einer Fußgängerzone mit Kumpels in einem etwas besseren Cafe, ein Stück Kuchen essen. Muss auch mal sein. Dabei fiel uns am Nachbartisch ein hagerer Mann, vielleicht so um die 50, auf, sehr ordentlich und vornehm, teurer Anzug, Krawatte, alles sehr akkurat und distinguiert. Und obwohl er alleine am Tisch saß, hatte er für zwei Personen bestellt, Kaffee und Kuchen. Wir dachten erst, seine Frau wäre auf Toilette oder sowas, aber da kam niemand. Und dann hielt der unentwegt ein sehr vertieftes und langanhaltendes, komplex philosophisches Gespräch mit dem leeren Stuhl neben ihm. Als ob da jemand säße, mit ihm spräche und dabei Kaffee und Kuchen verzehre. Wir haben nachher beim Rausgehen die Bedienung gefragt, ob sie das bemerkt hätte. Ja. Der käme jede Woche, würde sich jedesmal exakt gleich verhalten.

In Karlsruhe, auch in der Fußgängerzone, war während meines Studiums oft ein großer, hagerer, braungebrannter Mann unterwegs. Die äußere Erscheinung wie ein Obdachloser, der auf der Straße pennt, dreckig, versiffte, vor allem aber durchgewetzte Klamotten, kaputte Sandalen und so. Der hielt da Reden. Ohne Mikro und Lautsprecher, unglaublich laute und durchdringende Reden. Über Belangloses. Zur Weltlage. Und überhaupt. Einfach so. Zu niemandem. Nur damit geredet ist.

Dieser Mann war der beste, begabteste, eloquenteste, technisch und in Wortwahl geschliffenste Redner, den ich je erlebt habe (oder mir zumindest gerade einfällt). Den musste man einfach gehört haben. Dazu diese laute, durchdringende, aber angenehme Stimme, die offenbar sehr trainiert war. Der konnte stundenlang so reden ohne sich nach Brüllen anzuhören oder heiser zu werden. Auch die Mimik, Gestik, diese Theatralik, alles sehr professionell und exzellent. Nur was er sagte, war irgendwie nicht wichtig, austauschbar.

Bei dem war ich mir aber nicht sicher, ob er sich ein Publikum einbildet, oder ob ihm das schlicht egal war, ob ihm jemand zuhört. Ich hatte den starken Eindruck, dass dieser Mann ein überaus geübter und professioneller Redner gewesen war, Verkäufer, Professor, was auch immer, und dann irgendwie abgestürzt war, und seine Rhetorik das einzige war, was er noch hatte. Und deshalb übte. Der lief durch die Fußgängerzone, hatte nichts wichtigeres zu tun, und hielt da Reden und Reden und Reden.

Sonst habe ich sowas nie erlebt.

Bis ich nach Berlin kam.

Irgendwie sind hier verblüffend viele Leute mit so einem Aufmerksamkeitsknacks.

Leute, die sich schrecklich gerne wünschen, dass ihnen zuhört, es hört ihnen aber keiner zu. Gibt ja so den alten Spruch „Hier haste nen Groschen, erzähl’s der Parkuhr!”, wenn einem jemand damit auf die Nerven geht, dass er was loswerden will, was man nicht hören mag. (Das wäre mal ein Projekt, Weizenbaums Eliza, Apples Siri, eine Parkuhr und eine Telefonzelle miteinander zu kreuzen und solche Zuhörautomaten zu bauen, in die man sich reinsetzen kann und der einem dann professionell zuhört. )

Und weil hier niemand mehr jemandem zuhört und die Leute einfach keinen mehr finden, der es noch wissen will, imaginieren sie sich ihre Zuhörer und Gesprächspartner einfach. Irgendwann existiert der für die dann wirklich.

Die verschärfte Form scheint Streitsucht zu sein. So wie der eben auf dem Parkplatz. Viele Leute definieren sich inzwischen nur noch darüber, mit wem sie alles worüber im Streit liegen. Es gibt Leute und Familien, deren ganzer und einziger Lebensinhalt es ist, mit wem sie gerade im Krieg sind und irgendwelche Fehden ausfechten. Ich habe von einem Fall erfahren (allerdings nicht in Berlin), in dem ein Mann gar nichts anderes mehr macht, als mit wirklich jedem, egal wem, ob Behörde, Nachbar, Familie, Streit anzufangen. Darauf angesprochen sagt er offen, dass das das einzige ist, was er hat und was ihn ausmacht. Sich zu streiten. Um Nichtigkeiten. Zu seinem Schaden. Nimmt Strafgebühren, Mahnungen, Gerichtskosten auf sich, Hauptsache mit allem und jedem gestritten. Egal worüber. Weil er sich darüber identifiziert. Warum? Weil wir in einer Zeit leben, in der man nur noch als direkter Gegner überhaupt noch wahrgenommen wird. (Was übrigens auch dieses Hate-Speech-Phänomen erklären könnte.)

Verblüffend oft fallen mir in Berlin Leute auf, die mit jemandem reden, der nicht da ist.

Das Phänomen scheint aber nicht auf Leute mit imaginären oder echten Streitfällen begrenzt zu sein.

Die Dichte an Männern, die sich als Frauen schminken und verkleiden, ist in Berlin ebenfalls verblüffend hoch. Wenn man mal darauf achtet, sieht man erstaunlich viele davon. (Mir fallen die auf, weil Männer von Gesicht, Statur, Bewegungsablauf einfach anders aussehen, egal wie stark die sich schminken und verkleiden.) Ich habe die deshalb auch mal beobachtet, so für die Blog-Themen. Bei den meisten glaube ich nicht, dass die wirklich transsexuell sind. Transsexuelle (M->F) geben sich große Mühe, sind sehr exakt und detailbemüht, machen sich viel Arbeit darin, Frauen so gut wie möglich zu imitieren, in jeder Hinsicht. Die sind dann oft wirklich schwer zu entdecken, und selbst wenn man es merkt, nimmt man sie trotzdem irgendwie als künstliche Frau und nicht als verkleideten Kerl wahr. Viele schaffen das dann, diese Wahrnehmungsschwelle so zu übertreten, dass man zwar noch merkt, dass das nicht echt ist, sie aber trotzdem soviel weiblicher als männlich wirken, dass man auch unterbewusst bereit ist, sie als Frau einzuordnen.

Es gibt aber viele, die laufen einfach nur rum wie Clown, wie ein Karnevalswitz.

Und bei denen habe ich häufig den Eindruck, denen geht es gar nicht um Sexualität oder Geschlechtsidentität oder sowas. Denen geht’s um Aufmerksamkeit. Die merken, dass sich um einen alten Mann einfach gar niemand mehr kümmert, niemand mehr mit ihnen zu tun haben will. Transen ist momentan aber alle Aufmerksamkeit, Fürsorge, Unterstützung, Förderung, Anerkennung, Sorge usw. sicher. Also spielt man das Spiel um Aufmerksamkeit und Respekt zu bekommen.

Fällt mir in Berlin ziemlich häufig auf. Was die Leute alles für Kapriolen schlagen, um sich irgendwelche Aufmerksamkeit, Gesprächspartner, Sozialkontakte zu erzeugen.