„vermindertes Schuldempfinden“
Netter Text über den kulturellen Gesellschaftsverfall in Berlin:
Focus schreibt: Es gibt in Berlin mehrere Cafés, die damit kämpfen, dass sich die Startup-Szene da in die Cafés setzt, um dort zu arbeiten, mitunter den ganzen Tag, aber nichts kauft, sondern mitgebrachtes Essen isst. Habe ich auch schon in Berlin gehört und gesehen.
Ansgar Oberholz (44), einer der bekanntesten Gastronomen Berlins, hat sich über Leute geärgert, die mitgebrachtes Essen wie Döner Kebab in seinem Café verspeisen – und Konsequenzen gezogen.
„Es gibt jetzt Kellner“, erzählte Oberholz am Mittwoch. Das von ihm vor zwölf Jahren mitgegründete „St. Oberholz“ ist einer der prominenten Orte der Start-up-Szene. Dort saßen schon vor Jahren Leute mit Laptop im Café bei der Arbeit, was den Begriff „digitale Boheme“ mitprägte.
Der Laden funktionierte bislang mit Selbstbedienung am Tresen. Das Problem schildert Oberholz so: Die Offenheit und das kostenlose Internet werden ausgenutzt, ohne dass es selbstverständlich ist, die Produkte des Cafés zu bestellen. Es gibt demnach ein „vermindertes Schuldempfinden“. Die Kostenlos-Kultur habe Ausmaße angenommen, die Atmosphäre nicht mehr gestimmt. Der Tresen zum Bestellen fürs Essen zum Mitnehmen ist geblieben. An die Tische kommen jetzt aber Kellner mit iPads.
Ich habe das auch schon beobachtet. Am Kudamm (ich glaube, das war da in der Nähe des Apple-Stores) war irgendwo ein modernes, zweistöckiges Café, ich glaube, es war ein Starbucks, in dem ich mich mal mit jemandem getroffen habe. Die untere Etage war komplett besetzt von Leuten im Young Creative–Hipster-Look: MacBook, einheitlicher Klamottenstil mit Sakko im Gammel-Look, und – ganz wichtig und unverzichtbar – Männerschal, der als Schlaufe um den Hals gebunden ist, auch wenn es nicht kalt ist, denn ohne das geht da gar nichts mehr.
Im Prinzip lächerlich, weil sie einerseits total stolz drauf sind, keine Krawatte zu tragen, aber genau das kopieren, woraus die Krawatte entstanden ist: Ein auf modische Weise gebundenes Halstuch. Neo-Krawattenträger.
Und enorm wichtig: Geiz.
Also nicht beim Rechner, da muss es ein teures MacBook sein. Aber sich dann in einem kommerziellen Café Essen und Trinken zu verkneifen oder heimlich aus dem eigenen Rucksack zu fummeln, habe ich bei einigen gesehen.
Aber immer schön cool wirken.
Ich weiß von einer – älteren – Firma in Berlin, bei der sich einer beworben hat, der vorher in der Startup-Szene war und die in allerhöchsten Tönen lobte, da hätte es ihm so gut gefallen, das wäre genau sein Ding. Die Personal-Leute, die das Bewerbungsgespräch mit ihm führten, fragten etwas verdutzt, warum er sich dann bei ihnen bewirbt. Er sagte, so schön das auch sei, er brauche halt auch irgendwann mal ein Gehalt, er könne nicht endlos ohne Gehalt arbeiten.
Manchmal frage ich mich bei dem ganzen Berliner Startup-Hype, ob das nicht alles nur Schaumschlägerei ist und irgendwann mal als Blase platzt. Würde die Schal-Händler ins Verderben stürzen.