Die Entöffentlichung des Raumes
Eben erlebt:
Berlin. U-Bahnhof Stadtmitte. Bahnsteig U2. So gegen halb fünf. Ziemlich voll mit Leuten, die am Freitag Nachmittag auf die U-Bahn warten.
Plötzlich Geschrei.
Und Hektik, hinter mir, neben mir, dann vor mir.
Drei ziemlich breite und stämmige Männer rennen wutentbrannt und laut schimpfend an mir vorbei, dem Aussehen und Tonfall nach türkischer oder arabischer Herkunft, sprechen ein rudimentäres Englisch mit Nahost-Akzent.
Offenbar sind sie hinter hinter einem Mann her, der ein paar Meter vor mir geht. So Mitte 50, groß, kräftig, Typ Mitteleuropäer oder Amerikaner, spricht, wie ich später höre, auch Englisch, aber eins, dass ich nach den paar Worten nicht einordnen kann. Der Mann lief ganz ruhig, friedlich, langsam und in sein Handy vertieft so den Bahnsteig entlang, wie man das so macht, wenn man auf den Zug wartet. Der Mann war in seiner Erscheinung und in seinem Auftreten so ruhig und friedlich, dass ich ihn ohne den Vorfall gar nicht zur Notiz genommen hätte. Er schien auch erst gar nicht zu wissen, wie ihm geschah.
Die drei holen ihn ein, umringen ihn, halten ihn auf, schreien weiter, die Stimmung ist aufgeheizt, aggressiv, der Ausbruch von Handgreiflichkeiten und anderer Gewalt liegt förmlich in der Luft. Der Mann bekommt sichtlich Angst. Irgendwie geht es um sein Handy. Die drei wollen es unbedingt haben.
Ich will mich nicht einmischen, mich schon gar nicht mit den Typen anlegen, gehe so an denen vorbei, als wären sie gar nicht da, um den Eindruck zu hinterlassen, dass ich sie nicht wahrnehme, stelle mich dann aber so in genervter Wartehaltung mit Blick auf die Uhr hin, dass zwar einerseits jeden Eindruck vermeide, mich damit irgendwie zu befassen, ich die Situation aber trotzdem mit anhören und durch Blick auf die Zuganzeige aus den Augenwinkeln beobachten kann.
Ich habe zunächst gerätselt, ob sie ihm das Handy klauen wollen (nee, unwahrscheinlich, das würde man ja nicht so mit lautem Geschrei und Verfolgung machen), oder ob er ihnen das Handy geklaut hat, und sie es wiederhaben wollen (nee, unwahrscheinlich, dann hätte er es ja nicht in aller Ruhe offensichtlich vor sich hergetragen).
Es geht gar nicht um das Handy an sich, sondern um ein oder mehrere Bilder, die er mit diesem Handy gemacht hat. Irgendwie hat er was fotografiert, die drei waren alle oder teilweise auf dem Bild – oder glaubten das zumindest – und forderten nun die Herausgabe seines Handys, damit sie das löschen konnten. Er wollte nicht und bestritt, sie fotografiert zu haben. Sie sahen das anders, und waren, gemessen an ihrem Geschrei und ihrer Mimik und Gestik, der Überzeugung, dass ihnen jetzt das Recht zusteht, das Bild aus ihm herauszuprügeln.
Irgendwie beruhigte sich das dann wieder etwas, ich glaube, er hat ihnen die Bilderliste gezeigt und sie waren wirklich nicht drauf.
Es ist aber zu sehen, dass da irgendwelche Leute jetzt meinen, ihre (echten oder vermeintlichen) Partikularrechte im öffentlichen Raum nach dem Gesetz des Stärkeren durchsetzen zu können und aus dem Umstand „da hat mich einer fotografiert“ das Recht zu folgern, andere Leute festzuhalten, ihnen Gewalt anzudrohen, ihre Daten zu löschen.
Selbst wenn er sie fotografiert hätte: Das hätte er nach deutschem Recht gedurft. Die Veröffentlichung wäre an gewisse Erlaubnistatbestände gebunden gewesen, etwa Zustimmung oder die Fälle des Kunsturhebergesetzes. Schließlich hat er die Bilder in öffentlichem Raum aufgenommen und da darf man fotografieren (stimmt nicht ganz, in U-Bahnhöfen hat der Inhaber das Hausrecht, aber dann muss halt der moppern und nicht der Fotografierte). Es kann nicht angehen, dass da welche, nur weil sie sich stark fühlen, anderen vorschreiben, was sie zu tun oder zu lassen haben. Immer mehr Leute bilden sich ein, dass sie so einen Privatbereich um sich herum tragen, in dem sie anderen verbieten können zu gucken oder zu fotografieren. Oder umgekehrt jeden einzuqualmen. Weil sie das quasi für ihr Wohnzimmer halten.
Ist mir ja vor Jahren auch schon mal passiert, dass ich eine leere Straße fotografieren wollte und genau in dem Moment hinten einer um die Ecke kommt, winziger Punkt im Bild, und dann aber meint, er könne mich mit Gewalt zwingen, das Bild zu löschen. Und sie glauben immer, sie könnten alles gleich in Selbstjustiz durchsetzen.
Immer weniger Leute sind bereit, sich an geltendes Recht zu halten oder sich auch nur darüber zu informieren, fast jeder meint, er kann nach irgendwelchen Bauernregeln machen, was sich gut anhört.
Neulich saß ich in der U-Bahn, neben mir so ungefähr 10 Jungs, Alter so vielleicht zehnte, elfte Klasse, gepflegt, benahmen sich auch sehr ordentlich, in keiner Weise störend, aber schon altersgemäß ausgelassen. Es ging um ein Handy-Foto. Irgendwie hatten sie einen in einer lustigen oder peinlichen Situation fotografiert, und einer warf nun die Frage auf, ob man das jetzt einfach hochladen dürfe oder nicht. Kein schlechter Ansatz, sich das zu überlegen.
Wie das aber so ist, es gibt da immer ein Großmaul, das den Anführer gibt, und der „Chef“ der Gruppe, teure Klamotten, wohlgekämmter Sohn aus gutem Hause, wird man Präsident der Studentenvereinigung, erklärte felsenfest und überlegen, dass man mit dem Bild machen könne, was man will, sobald mindestens 5 Personen darauf zu sehen seien. Man müsse einfach die Personen auf dem Bild zählen, dann wäre alles klar.
Ist natürlich Quatsch, aber ich beschloss, mich da nicht einzumischen, zumal ich dann auch raus musste. Da fragt man sich dann aber auch, wie die auf sowas kommen. Irgenwie hat das immer mit Zählen zu tun. Eine erklärte mir mal in felsenfest unverrückbarer Überzeugung, dass man als Mieter die Kündigungsfrist nicht einzuhalten brauche, wenn man dem Mieter 3 potentielle Nachmieter benennt. Drei müssten es sein. Genau drei. Irgendwie so eine Art Neo-Aberglaube, der an mystische Handlungen anbindet.
Effektiv haben wir aber das Problem, dass sich immer weniger Leute an Recht halten, weil immer weniger Leute Recht überhaupt noch kennen oder akzeptieren. Es bewegt sich zwischen Bauernregeln, windschnittiger Sprücheklopferei und Recht des Stärkeren.