Ansichten eines Informatikers

Das unscharf gemachte Fahndungsvideo

Hadmut
13.1.2019 13:39

Herrje… [Nachtrag 2]

Ich hatte unlängst geschrieben, dass mich viele Leser darauf hinweisen, dass das Magnitz-Fahndungsvideo geschnitten sei, und ich hatte dazu (auch um meine Mailbox von weiteren Hinweisen zu entlasten) erläutert, dass ich das nicht für verfänglich oder zweckwidrig ansähe, weil ein Fahndungsvideo einfach anderen Zwecken als einer Aufklärung der Öffentlichkeit über die Vorkommnisse dient. Bei einem Fahndungsvideo halte ich es nicht für einen Fehler, wenn es geschnitten ist. Das müssen Polizei und Staatsanwaltschaft wissen, was sie da für richtig halten und was sie zeigen wollen und dürfen.

Man sollte sich bei solchen Sachen hüten, in das Fußballtrainer-Syndrom zu verfallen. Da sitzen sie auch alle beim Bier zuhause auf dem Sofa vor der Glotze, und meinen, alles besser beurteilen zu können als der Trainer am Spielfeldrand mit seinem nichtöffentlichen Hintergrundwissen. Man sollte sich genauso abgewöhnen, einfach ins Blaue hinein schlauer als die Polizei sein zu wollen. Die sind überlastet, miserabel ausgestattet und werden politisch gesteuert, aber dumm sind sie nicht.

Nun häufen sich wieder jede Menge Zuschriften. Aber das Video sei doch künstlich unscharf gemacht, die Timecode-Einblendung ersichtlich unscharf. Das sei doch alles künstlich so gemacht, dass man die Täter garantiert nie finde.

Auch den Vorwurf vermag ich aus dem Video nicht als Beleg zu ziehen. Gut, ich kann auch nicht ausschließen, dass es so ist, aber zunächst mal sehe ich dafür keinen Beleg und unterstelle bis auf weiteres der Polizei, dass sie sich bei ihrer Vorgehensweise irgendetwas denken.

Insbesondere fällt mir dazu ein:

  1. Das kann ja aus fahndungstechnischen Gründen gut sein, dass der Timecode unscharf sein soll.
  2. Bei vielen Überwachungsanlagen achtet nie irgendwer darauf, die Uhrzeit richtig zu stellen oder beispielsweise Sommer- und Winterzeit umzustellen. Manche sind deshalb auf UTC eingestellt, und viele gehen grottenfalsch, weil in den Aufnahmegeräten auch nur der billigste Mist von Uhr eingebaut ist, dessen Knopfzelle nach Jahren dann leer ist. Und dann steht das Ding da, ist meist ein völlig isoliertes und technisch veraltetes System, bei dem nie jemand auf die Uhrzeit achtet.

    Oder anders gesagt: Außer den allerneuesten per Netzwerk an NTP angeschlossenen Überwachungs- und Alarmanlagen kenne ich keine, deren Uhr präzise geht. Da gibt es Abweichungen im Bereich von bis zu 20 Minuten, falsche Stunden/Sommerzeit, bis hin zu komplett falsch. Habt Ihr eine Digitalkamera? Guckt mal, ob die Uhrzeit da stimmt.

    Vielleicht hat man den Timecode deshalb unscharf gemacht, weil die eingeblendete Uhrzeit – wie fast immer – nicht stimmt und die Leute sonst geschrien hätten „Das kann ja gar nicht stimmen, die Uhrzeit ist falsch, das Video ist so gefälscht wie die Mondlandung”.

  3. Und was die generelle Unschärfe des Videos angeht:

    Sorry, Leute, aber in meiner Jugend und noch vor gar nicht allzu langer Zeit sahen Überwachungsvideos alle so aus. Was die FullHD- und 4K-verwöhnte Zeitgeistgesellschaft längst vergessen hat, ist, dass noch bis vor kurzer Zeit 640×480 (oder 704×576 bzw. analog) Standard war und viele Alarmanlagen in 320×240 aufgezeichnet haben, auch weil sie früher meist analog auf Band aufgezeichnet haben. Viele Anlagen hatten nämlich ein Video-Band, das PAL aufzeichnet und jahrelang immer wieder benutzt wird, also per se schon total unscharf aufzeichnet. Und da hat man nicht selten vier Kamerabilder zusammen in ein Bild eingeblendet, womit sie immerhin wenigstens synchron aufgezeichnet werden, also alle vier Kameraaufnahmen denselben Zeitpunkt zeigen.

    Außerdem, und das kennen viele heute auch nicht mehr, waren Überwachungskameras früher immer und sind auch heute noch oft analog.

    Dazu kommt, dass sich normalerweise niemand darum kümmert, die Optiken scharf zu stellen, falls das überhaupt geht, oder sie mal zu reinigen. Die verdrecken.

    Ist eigentlich schon irgendwem aufgefallen, dass die Bilder schwarz-weiß sind? Was heißt das? Entweder, dass das ganze System dort sowieso schon uralt und steinzeitlich ist, oder dass das Licht (trotz der sichtbaren Funzeln) so schlecht war, dass die Kameras im Nacht/Infrarot-Modus arbeiteten. Da hängen nunmal keine iPhones als Kameras. Eine Technik, die man früher bei den schlechten frühen Video-CCD-Chips verwendete, war, immer vier Pixel zusammenzurechnen, also damit quasi die Pixel-Fläche und damit die Empfindlichkeit rechnerisch zu erhöhen.

    Und nun packt das mal zusammen: Eine versiffte alte nicht scharf gestellte Kamera mit Analogausgang im Nachtmodus und mit falsch gestellter Uhrzeit, deren Analogsignal auf einen analogen Überwachungsrekorder läuft, der vier Kamerabilder zusammen in ein 640×480-Bild packt und auf ein ausgeleiertes schon tausend mal verwendetes analoges Videoband schreibt.

    Und das ist nicht weit hergeholt, das war bis vor kurzem noch der State-of-the-Art der Überwachungstechik.

    Und wenn Ihr das dann digitalisiert und von 320×240 auf youtube hochskaliert, dann kommt sowas dabei heraus.

  4. Ich habe mal vor zwei oder drei Jahren für einen bestimmten Einsatzzweck eine kleine Überwachungskamera gekauft, die bei Aldi gerade im Restposten-Rausschmeißer-Sonderangebot für 30 Euro in der Vitrine stand. Voll-Digital, mit Ethernet, WLAN und eingebautem Webserver, außerdem Infrarot-LED, die schaltet bei ungenügender Helligkeit (und ihre Sensoren sind wirklich Yps-Heft-mäßig und die Optik billiges Plastik, also schon dann, wenn man als Mensch noch gut sehen kann) in den Nachtmodus, wo sie auch nur noch Schwarz-Weiß darstellt. Deren Bild ist auch nicht nennenswert besser.

    Es ist ein zentraler Denkfehler, die Qualität von Überwachungskameras mit der von Jedes-Jahr-das-neueste-iPhone-Youtube-Videos vergleichen zu wollen.

Ich sehe da zwar ein qualitativ schlechtes Video, aber es ist nicht schlechter als was man von Überwachungskameras kennt, die schon zwei oder drei Generationen alt sind.

Bei meinem derzeitigen Wissensstand kann ich deshalb keinen Beleg für die Vorwürfe an die Polizei erkennen. Mir erscheint die lausige Bildqualität nicht nur plausibel, sie entspricht auch meinem Wissen über Überwachungsanlagen.

Im Gegenteil hätte mich eine bessere Bildqualität stutzig gemacht, denn warum sollte jemand da eine moderne teure Anlage montieren? Und ich kenne auch kein marktgängiges System, das etwa in der Qualität einer GoPro aufzeichnet.

Nachtrag 1: Man sollte in solchen Angelegenheiten auch immer berücksichtigen, dass die Videos ja nicht mehr unverändert sind, bis sie auf all den Zeitungswebseiten angekommen sind und dass Journalisten meist keine Medienprofis sind, die Videos oft deutlich an Qualität verlieren, weil die mehrfach skaliert und reencodiert und rekomprimiert sind, bis die alle auf Youtube rauf, von Youtube wieder runter, in die Nachrichtenredaktion, mit deren Senderlogo drauf und dann wieder auf den Webserver des Content-Delivery-Networks gepumpt worden sind. Man hat da oft deutlich sichtbare Qualitätsverluste.

Nachtrag 2: Wenn man sich mal die Industrieeinkaufsquellen ansieht, dann wird einem auch klar, dass solche niedrigqualitativen Videoanlagen so alt nicht sind. Beispielsweise hatte Metro noch vor gar nicht allzu langer Zeit ein Überwachungssystem mit vier Kameras im Angebot, das zwar nicht mehr auf Band, sondern auf Festplatte aufnimmt, aber trotzdem noch in Steinzeitauflösung, und dann immer vier zusammen in einem Bild anzeigt, damit man es auf einem Fernseher zusammen sehen kann. Das mag archaisch erscheinen, aber die ganze Anlage zusammen mitsamt den vier Kameras, Kabel und Montagematerial kostete meiner sehr vagen Erinnerung nach deutlich weniger als ein einzelnes iPhone. Wer glaubt denn, dass da irgenwo etwas teureres als solche Billig-Anlagen hingeschraubt wird?