Zur Wirksamkeit der Corona-Maßnahmen
Eine interessante Leserzuschrift.
Ich hatte doch gerade zur Zuschrift dieses Mediziners geschrieben, dass mich das Argument, dass die Ausbreitungsgeschwindigkeit schon vor den staatlich verordneten Schutzmaßnahmen zurückgegangen sei, nicht überzeugt, weil darin ein rhetorischer und zeitlicher Fehler liegt.
Ich muss da gerade an die alte Anekdote der Bundeswehrdienstvorschrift denken, dass der Soldat ab einem Wasserstand von 1,20 m selbständig mit Schwimmbewegungen zu beginnen habe, ohne dass es noch eines ausdrücklichen Befehles bedürfe. Als ob der Soldat zu doof wäre, von selbst zu schwimmen, wenn es ihm nicht irgendein Befehl oder eine Vorschrift befielt.
Wer nun damit argumentiert, dass die Geschwindigkeit schon vor den staatlich verordneten Maßnahmen herunterging, und die Maßnahmen deshalb überflüssig wären, der verbreitet damit indirekt Fake News. Er unterstellt nämlich damit, dass die Schutzmaßnahmen erst mit der staatlichen Verordnung eingesetzt hätten. Maßgeblich ist aber, wann man sie tatsächlich ergreift und nicht, wann der Staat sie noch zusätzlich anordnet.
Es wird immer so getan, als hätten wir erst mit den staatlichen Anordnungen von Mitte März Schutzmaßnahmen ergriffen, womit bewiesen wäre, dass die Verlangsamung vorher unabhängig von Maßnahmen gewesen sein müsse und keiner Schutzmaßnahmen bedurft hätte. Das ist, wie gesagt, Fake News. Der Soldat hat vorher schon mit Schwimmbewegungen angefangen.
Zur Erinnerung: Wir wurden seit Anfang, intensiv seit Mitte Januar mit Katastrophenbildern aus China bombardiert. Jeder, der für 20 Pfennig Grips in der Birne hat, musste wissen, dass das auch bei uns ankommt. Ich habe, wie schon öfters erwähnt, am 28.1. schon darüber gebloggt, dass die Atemmasken knapp werden und nach China verschwinden. Woher wusste ich das? Na, weil ich Ende Januar schon aufmunitioniert habe, was Masken, Seife und Desinfektionsmittel angeht. Ende Januar.
Im Februar habe ich schon verstärkt auf Hygiene und systematisches Händewaschen sowie das vermeiden der Berührung von Haltestangen in der U-Bahn usw. angefangen. Und ab 3.3. habe ich mich ins Einzelbüro oder ins Home-Office zurückgezogen. Also fast zwei Monate vor den offiziellen Maßnahmen war ich selbst schon im Krisenmodus, und ich weiß, dass ich da zwar bei den Ersten war, aber überhaupt nicht der Einzige. Die Klopapierkriege haben auch Anfang März angefangen.
Wenn man also unterstellt, dass es keinen Zusammenhang zwischen Maßnahmen und Verlangsamung gab, weil die Verlangsamung schon Anfang März eingetreten sei, die Maßnahmen aber erst Mitte März angeordnet wurden, ist das Fake News, weil es ja nicht darauf ankommt, dass die Maßnahmen angeordnet werden, sondern dass man sie macht. Wie beim Soldaten im Wasser.
Dazu schickt mir nun ein Leser einen Linke auf diesen Schweizer Artikel: Sind wir tatsächlich im Blindflug?
Eine epidemiologische Arbeit der ETH Zürich aus der Gruppe von Tanja Stadler hat eine spannende Arbeit zur sich verändernden Ausbreitung von Covid-19 in der Schweiz präsentiert. Im Grunde genommen können die Epidemiologen durch die Analysen der laufenden Daten mit einer ganz kurzen Verzögerung sehr genau abschätzen, was die Präventionsmassnahmen tatsächlich bewirken. […]
Die Resultate waren sehr überraschend: Denn die Autoren fanden, dass Reproduktionsrate bereits vor Beschluss des Lockdowns am 13.3.20 auf praktisch eins fiel. In der untenstehenden Abbildung zeigt sich (rot) die Reproduktionsrate in der Grössenordnung von 2.5-3.0. Dargestellt die Werte ab dem 6. März und dann der deutliche Abfall ab dem 9. März. Zum Zeitpunkt, als der Bunderat den Lockdown verkündete (13.3.) war somit die Reproduktionrate schon praktisch auf 1, das heisst, wir hatten bereits den gewünschten Zustand einer gestoppten Ausbreitung.
Interessant ist der Zeitverlauf zurück: Am 28. Februar hat der Bundesrat – unter dem Eindruck der Ereignisse in Italien – das Veranstaltungsverbot erlassen und eine sehr aktive Kommunikation mit sehr gut verständlichen, umsetzbaren und wirksamen Hygieneempfehlungen lanciert. Dass diese Massnahmen wirksam waren, zeigt nun die Analyse der Gruppe von Stadler: Denn wie in der Abbildung gezeigt, dauerte es gerade mal 10 Tage, bis die Massnahmen Wirkung zeigten. Diese 10 Tage, das ist exakt die Zeit welche auch Stadler im Modell vorausgesagt hatte: Zunächst einmal dauert es im Durschnitt 5 Tage, bis eine heute infizierte Person selbst krank wird und ansteckend wird. Und dann dauert es noch einmal – so die Annahmen im Modell – im Durchschnitt 5 Tage, bis eine Person mit einer Infektion diagnostiziert wird. Über diese Annahmen kann man jetzt noch diskutieren, doch im Grossen und Ganzen ist es klar, dass eine Veränderung des Verhaltens zu einer verzögerten Wirkung führt. Und die hier beobachtete Verzögerung ist plausibel. Sie zeigt auf jeden Fall, dass sich die Epidemie VOR dem Lockdown schon deutlich verändert hat. […]
Nun haben Epidemiologen des Robert Koch Instituts (dem „Deutschen BAG“) praktisch eine identische Analyse präsentiert. Sie haben ihre Annahmen für die Inkubationszeiten und die Zeit bis zur Diagnosestellung etwas kürzer angesetzt. Doch das Resultat blieb dasselbe, wie sich in der Abbildung deutlich zeigt: […]
In Deutschland gab es zwei wichtige Zeitpunkte: Am 9. März das Verbot von Grossveranstaltungen (>1000 Personen) und dann am 23. März der Lockdown mit umfangreichem Kontaktverbot. Und auch in dieser Analyse vom RKI zeigt sich, dass es in Deutschland, wie schon in der Schweiz, nicht die Lockdown-Massnahmen waren, welche zur wirksamen Hemmung der Ausbreitung von Covid-19 führten.
Einfache Massnahmen genügen
Diese Resultate enthalten Zündstoff: Offenbar zeigen nun diese beiden Arbeiten mehr oder weniger identisch: Die einfachen Massnahmen, Verzicht auf Grossveranstaltungen und die Einführung von Hygienemassnahmen sind hoch wirksam. Die Bevölkerung ist in der Lage, diese Empfehlungen gut umzusetzen und die Massnahmen können die Epidemie fast zum Stoppen bringen. Auf jeden Fall sind die Massnahmen ausreichend, unser Gesundheitssystem so zu schonen, dass die Spitäler nicht überlastet werden.
Streichen wir mal in „hoch wirksam” das „hoch”. Sagen wir mal „wirksam”, denn völlig beendet haben die einfachen Maßnahmen die Sache ja nicht, auch nicht deren Anstieg verhindert, es nur sehr deutlich gedämpft.
Es trifft exakt auf den Zeitplan meines eigenen Verhaltens zu: Am 3.3. war ich das letzte Mal mit Kollegen persönlich zusammen, ab dem Tag habe ich aber auf Home-Office umgestellt. Und da war ich nicht der einzige. Kurz darauf, noch vor den staatlichen Maßnahmen, wurde hier der allgemeine Home-Office-Fall ausgerufen.
Die Maßnahmen sind also durchaus wirksam, uns wird hier nur gerade aus politischen Gründen ein falscher Zeitpunkt vorgegaukelt, nämlich dass die Maßnahmen erst später, mit den staatlichen Anordnungen eingesetzt hätten. Das mag bei Gegnern der Maßnahmen sogar durchaus so gewesen sein. Bedenkt man aber, dass in den Umfragen eine große Mehrheit der Befragten die Maßnahmen für richtig hält, ist deutlich anzunehmen, dass die schon vorher freiwillig diese Maßnahmen ergriffen haben, da waren dann nämlich schon Seife, Desinfektionsmittel und Klopapier knapp. Desinfektionsmittel waren nämlich im Februar schon ausverkauft. Als haben eine Menge Leute schon im Februar mit eigenen Schutzmaßnahmen begonnen.
Es ist also Fake News aus dem Zeitpunkt der Anordnungen zu folgern, dass die Maßnahmen nichts brächten.
Es ist nur so, dass die Maßnahmengegner hier stillschweigend davon profitieren, dass die Befürworter die Maßnahmen schon vorher von sich aus ergriffen hatten.
Schönes Denkfehlerbeispiel übrigens: Gerade weil die Maßnahmen wirksam sind, und viele Leute sie aus offensichtlichen Gründen schon vorher ergriffen haben, entsteht nun durch den Zeitverlauf die Überzeugung, sie brächten nichts und die Krankheit wäre von allein zurückgegangen. Korrelation, Kausalität und so.
Was wir natürlich nun heute, also a posteriori, wissen: Welche Maßnahmen wieviel bringen.
Was meint Ihr? Wie lange hätten die freiwilligen Maßnahmen ohne staatliche Anordnung gehalten?