Digitale Prüderie?
Ein Leser wirft einen Gedanken auf.
Ich hatte doch zu diesen Hamburger Fake-Plakaten die Frage aufgeworfen, warum es eigentlich gefährlich sein soll, sich oben ohne in den Park zu legen. Früher ging’s ja auch, und in der DDR war nackig am See sowieso Standard. Ich habe noch keine gesehen, die im Sonnenlicht verbrennt wie ein Vampir.
(Wie früher mal erwähnt, habe ich durchaus schon Gefahren erfahren, ich war als Kind mal eine Woche im Nudistencamp in Yugoslawien mit dabei. Und hatte mir da bäuchlings auf der Luftmatratze mit Guckfenster auf dem Meer fischeguckend rumpaddelnd den Sonnenbrand meines Lebens da geholt, wo textil gesehen die Sonne nicht hinscheint. Das hatte aber mit dem Oberkörper nichts zu tun. Und mit dem verbrannten A… ging es direkt weiter zur zweiten Woche, Reiturlaub in Lipiza. Es gibt so Kindheitserinnerungen, die man nicht mehr vergisst.)
Wie auch immer, der Leser unterbreitet seine Hypothese, dass die Neoprüderie eine Begleiterscheinung der Digitalisierung sei,
Früher nämlich sei die Gefahr, fotografiert zu werden, vernachlässigbar gewesen. Weil so eine Kamera ein klotzig Ding war, teuer noch dazu, das Problem der Entwicklung, und selbst wenn die Produktion des Spannerfotos gelungen wäre: Na, und? Man konnte ja nichts damit machen. Dann hatte halt irgendwo irgendwer ein Foto im Schrank und das war’s. Publikationswege gab es ja auch nicht.
Heute hat jeder ein Handy, kann kostenneutral losknipsen wie blöde, klein und unauffällig, geräuschlos, auch als Video, und das dann überall und weltweit publizieren. Im Prinzip könnte man sogar über die Gesichtsgeometrie, Tattoos usw. automatisiert herausfinden, wer das ist, um gezielt Erpressungen und sowas zu begehen.
Die Omnipräsenz der weltweiten Zuseherschaft – wir erleben das ja, dass wir inzwischen sogar von vielen Todesfällen Videos aus verschiedenen Blickwinkeln haben, wo früher Eduard Zimmermann mühsam die Spurenlage erläutern musste – führe eben zur entsprechenden Prüderie. Was daran erinnert, dass es heute – früher unvorstellbar – zur Ausstattung von Polizei und Rettungskräften gehört, Sichtschutzwände mitzuführen. Ich habe irgendwo mal ein Video über ein Produkt eines Feuerwehrbedarfsherstellers gesehen, eine nach dem Grundprinzip der Sprungkissen, die mit einer Pressluftflasche sofort aufgeblasen werden können, in Sekundenschnelle aufblasbare längere Mauer, um Gaffer und Feuerwehr zu trennen. Polizisten, die Tücher oder Decken hochhalten, sind ja längst Standard.
Ich halte das für richtig, aber auch nur zum Teil.
Ein weiterer Aspekt ist natürlich die narzisstische Selbstoptimierung. In Zeiten meiner Jugend war das noch nicht so wichtig, ob da jemand so richtig schön und toll aussah, das gab’s eh nicht so, auch den ganzen Modekram nicht. Keine Piercings, keine Tattoos, wir waren halt einfach so, wie wir waren, und fertig. Die Mädels haben sich auch weder geschminkt, noch rasiert.
Irgendwie waren die alle selbstbewusster.
Heute muss das alles immer optimiert sein und aussehen, styled, schicke Klamotten, immer neu. Dauerselbstdarstellung.
Dann der ganze Gender-Quatsch. Es gab mal so eine Zeit, da sind die Mädels beim Playboy Schlange gestanden, und waren stolz und geschmeichelt, wenn sie sich ausgezogen hätten und einer geguckt hätte. Die anderen wären sofort eifersüchtig und neidisch gewesen, wenn bei einer anderen einer guckt und bei ihnen nicht.
Seit Gender haben die ja alle Probleme. Da gibt es ja welche mit suizidoiden Depressionen, die sich gar nicht mehr aus dem Haus trauen vor lauter Angst, ein Mann, ein heterosexueller gar, könnte ihnen auf den Hintern gucken. Als wäre die Kontamination durch Männerblick nie wieder zu neutralisieren.
Und dann eben noch das ganze religiöse Ding.
Sicherlich ist die Digitalisierung ein sehr wesentlicher Aspekt, aber nicht der einzige. Es ist eher so, dass die Digitalisierung die anderen Aspekte verschärft.