Anruf eines Toten, der sich erkundigt, wie es so geht…
Mir ging gerade ein so seltsamer Gedanke durch den Kopf.
Ich kannte mal jemanden.
Nicht, dass ich ihn so sonderlich mochte. Eigentlich gehörte er überhaupt nicht, in fast keinerlei Hinsicht zu der Sorte Mensch, die ich mir so als Freund herausgesucht hatte. Ich hatte vor langer Zeit mal – auch nicht ausgesucht oder freiwillig – mit ihm zu tun und kannte ihn halt. Warum und woher, das würde hier zu weit führen. Hin und wieder, eher selten, mal dreimal im Jahr, mal alle drei Jahre, rief er mal an, um zu fragen, wie es so geht. Oder zu erzählen, wie es ihm so geht. Um mich um Rat zu irgendwas zu fragen, weil er meinte, dass ich mich in vielem besser auskannte. Oder um über Fotografie zu klönen, so ziemlich das einzige gemeinsame Interesse. Er konnte sehr gut kochen, aber das konnte ich damals nicht. Der Musikgeschmack war nicht völlig disjunkt, aber sagen wir es so: Die Schnittmenge war klein. So rückblickend würde ich ihn für 60% Arschloch, 20% arme Sau halten und mit den restlichen 20% konnte man sich ganz ordentlich unterhalten, zumal er über die Fähigkeit verfügte, bei Telefonaten mit mir diese letzten 20% in den Vordergrund und den Rest vor die Tür zu stellen.
Vor so ungefähr 10 Jahren hat das Kennen abrupt aufgehört. Er hatte sich umgebracht. Wie sich herausgestellt hatte, sorgsam und lange vorbereitet. Man fand alte Planungen auf seinem Rechner.
Er war – sehr verkürzt gesagt – der schlichten Auffassung, dass er alles Positive, was er vom Leben zu erwarten hatte, mitgenommen und abgegrast hatte, war damit zwar nicht gerade zufrieden, aber auch nicht unzufrieden, sondern war so ungefähr der Meinung, „bisher ging’s”. Er fand, er sei einfach durch, fertig mit allem. Er war – sehr vereinfacht gesagt – der Auffassung, die Flasche sei jetzt leer, es komme nichts Gutes mehr, jetzt käme nur noch der schlechte Teil. Dazu sei seine Anwesenheit nicht mehr erforderlich, er und die Welt würden künftig ohne den jeweils anderen zurecht kommen. Er hatte auch nie beabsichtigt, alt zu sein. Das passte nicht in seinen Lebensstil. Und da er schon jung nur sehr wenige Gründe gesehen hatte, die Beschwerlichkeit des Existierens auf sich zu nehmen, sah er mit dem Eintreten der Alterserscheinungen die Bilanz zwischen Freuden und Mühen des Daseins in Gesellschaften wie dieser irreparabel im Negativen und kündigte seinen Anwesenheitsvertrag mit derselben Rigorosität wie ein als überflüssig erkanntes Zeitungsabonnement. Er wollte einfach nicht einsehen, warum er in einer Welt wie dieser auf so beschwerliche Weise noch den Lebensunterhalt für seinen im Altern begriffenen Körper erwirtschaften sollte, wenn Aufwand und Nutzen in keinem Verhältnis mehr für ihn stehen würden. Zumal er davon überzeugt war, dass das jetzt nur noch alles immer schlechter werde. Mit allem, ausnahmslos allem, gehe es bergab. Nichts mehr, was er noch versäumen oder verpassen könne. Von allem habe er schon die bessere Version gehabt. Vereinfacht gesagt.
Eigentlich hatte ich ihn längst vergessen.
Eigentlich hatten ihn alle längst vergessen. Man hatte ihn verblüffend schnell vergessen. Keiner von der Sorte, von dem etwas bleibt. Eher jemand, dessen Existenzreste man so wegräumt wie die Reste einer Besäufnisveranstaltung am nächsten Morgen durch die Stadtreinigung, und das war auch sein Stil. Niemand, der irgendetwas schaffte, was nach ihm blieb. Jemand, der sich allein in seiner Existenz charakterisierte, dessen Eigenschaften sofort mit seiner Existenz auch aufhörten.
Irgendwie bin ich doch gerade auf ihn gekommen, weil ich alte Verzeichnisse auf dem Computer aufgeräumt, ausgemistet, teils gelöscht hatte, und dabei auch auf ein paar Musikdateien gestoßen war, mp3, die er mir mal geschickt hatte, die ich mir mal hatte anhören wollen, aber nie dazu gekommen war und sie vergessen hatte. Ich hatte nun mal reingehört. Dreiviertel scheußlich. Unglaublich schlecht, was manche Leute an Geräusch absondern und für „Musik” halten. Oder eine ganze CD machen und alles hört sich praktisch gleich an, auch im Song alles durchgehend.
Da ging mir ein Gedanke durch den Kopf. Vielleicht lag’s an der schlechten Musik, das will ich nicht ausschließen.
Was, wenn er nun irgendwie aus dem Jenseits wieder mal anrufen und so typisch fragen würde, wie es so geht, ob er was verpasst hätte. Mit dem Unterton, dass er ja wohl wohl nichts verpasst hätte. Ob er noch hätte bleiben sollen. Mit dem Unterton, dass er ja wohl recht gehabt hätte.
Was hätte er in den letzten etwa 10 Jahren an Positivem verpasst?
Mir fiel nichts ein.
Das heißt, schon, doch, ich hatte viel Spaß beim Reisen. Aber davon hielt der nichts, das war nicht seins.
Ja, und mein Blog, das läuft gut. Aber das war auch nicht seins. Er hatte sowas mal probiert, aber es hatten nur ein paar Bekannte aus reiner Höflichkeit gelesen. Er war im Schreiben ziemlich unbegabt.
Auf Feministinnen im Blog einkloppen, das macht auch Spaß, das geht immer. Mit denen wollte er aber damals schon einfach gar nichts, überhaupt nichts zu tun haben.
Was hätte ich ihm gesagt, was in den letzten 10 Jahren hier passiert sei, was für ihn die Mühe wert gewesen wäre, sich selbst am Leben und in Existenz zu halten?
Mir fällt nichts ein. Objektiv betrachtet, mehr noch unter Anlegung seiner Maßstäbe, soweit ich sie erkannt habe und mich erinnern könnte, ist in den letzten 10 Jahren in Deutschland eigentlich durchgehend alles schlechter geworden. Und zwar rapide. Ich hatte überlegt, wie ich ihm das zusammenfassen würde, aber hörte so vor meinem geistigen Ohr nur seine grimmigen, verächtlichen Kommentare und wie er die Existierenden auslacht.
Ich hätte ihm sagen müssen, dass er nach seinen Maßstäben gar nichts verpasst hat. Dass er den Zeitpunkt richtig gewählt hatte.
Es ist seltsam, aber wenn ich so darüber nachdenke, produziert diese Gesellschaft tatsächlich seit 10 Jahren nichts Positives mehr, sondern türmt einfach nur immer mehr Mist und Probleme auf. Nur noch Streit, Ärger, Gewalt, nochmal Streit, Steuererhöhungen, Weltuntergangschaos und so einen Mist. Alles degenieriert in den Zustand, sich gegenseitig zu nerven und zu plündern. Nur noch Substanzverbrauch und Selbstzerstörung.
Es ist seltsam. Obwohl er ein Tor war, kein Denker, kein Intellektueller, mehr so auf die biologisch-vegetativen Funktion konzentriert, keinen Beruf erlernt hatte, so in den Tag hineinlebte, lag er mit seiner Einschätzung eigentlich nicht so falsch.
Wir sind tatsächlich seit 10 Jahren in einem rapiden Abwärtsstrudel und mir fällt nichts ein, was besser geworden wäre. Mir fällt nichts ein, von dem ich ihm erzählen könnte, dass er es verpasst habe.