Ansichten eines Informatikers

Was’n das für ‘ne Schachtel?

Hadmut
26.2.2022 5:20

Es gibt so Tage, an denen könnte ich durchdrehen.

Kennt Ihr das, dass man schier durchdrehen könnte, wenn man genau weiß, dass man etwas hat, aber es nicht findet? Sowas treibt mich um. Da finde ich keine Ruhe. Dann wird ein Teil, wo ich das Ding vermute, aber nicht gefunden habe, tiefengründlich aufgeräumt. Meist finde ich dabei dann noch ein, zwei andere Sachen, die ich schon mal gesucht und nicht gefunden oder auch nur vergessen hatte. Die Quelle meines Aufräumens ist, etwas zu suchen und nicht zu finden. Da werd ich zum Berserker. Am schlimmsten ist es, wenn ich etwas suche und nicht finde und dann feststelle, dass es genau da ist, wo ich es zuerst gesucht habe und wo es hingehört, ich es aber nicht gesehen habe, weil ich nicht genau genug geguckt habe. Ich habe mal die ganze Wohnung umgekrempelt um meinen Geldbeutel zu finden. Nur um dann festzustellen, dass er die ganze Zeit genau da lag, wo ich ihn hingelegt hatte, nämlich auf meinem Stuhl, damit ich ihn nicht vergesse, aber das Licht so ungünstig fiel, dass schwarzer Stoff auf schwarzem Stoff kaum zu sehen war.

Das ist auch der Grund, warum ich die Regale, in denen ich meinen Technik- und Fotogram habe, in weiß und nicht in schwarz gekauft habe, obwohl weiß so entsetzlich billig aussieht: Man kann in schwarze Schubladen und schwarze Schränke, vor allem, wennn sie weit unten oder weit oben sind, kleine schwarze Plastikteile, wie es sie im Fotokram gibt, so hinlegen, dass man sie einfach nicht mehr sieht. Deshalb habe ich weiße Schränke, da passiert das nicht.

Ich besitze einen Notebook-Rechner.

Nein, eigentlich sogar mehrere, aber dieses Notebook ist mein Reisenotebook. Zu meinem großen Ärger ist das Notebook zwar schön klein, aber das Netzteil ziemlich dick, und hat so ein überaus sperriges, dickes dreipoliges Kabel mit rundem, dreipoligem Kaltgerätestecker („Mickey Mouse“, auch „Kleeblattkupplung“, eigentlich IEC-60320-C5) und Schuko-Stecker. Geht zuhause auf dem Schreibtisch, aber ganz miserabel für die Reisetasche oder die kleine Bordgepäcktasche.

Deshalb hatte ich mir vor Jahren, zusammen mit diesem Notebook, zwei Reisenetzteile gekauft, eins zur Reserver. Klein. Flach. Für die schmalen, zweipoligen Stecker (hießen früher mal Rasierer-Stecker, stimmt aber nicht ganz, die waren geringfügig anders. Auch „Achter“. Eigentlich „Kleingerätestecker, Euro-Ausführung“ oder „Euro-Netzkabel“, IEC-60320-C7), die in der Tasche wenig Platz wegnehmen. Außerdem habe ich da eine ganze Sammlung von Kabeln für die Steckdosen dieser Welt.

Der Grund, warum das Originalnetzteil so ein dickes, sperriges Kabel hat, wofür ich den Hersteller ausdrücklich und umfangreich verflucht habe, liegt, wie ich später feststellte, nicht am Hersteller, sondern an der EU. Wofür ich die ebenso verflucht habe. Die nämlich meint, dass solche Netzteile wegen der Strahlung abgeschirmt und geerdet sein müssen, Elektrosmog. Und dafür brauchen sie eine Schutzerde. Nicht etwa, weil man ein vollplastikummanteltes Netzteil an sich noch erden könnte. Geht nur um Elektrosmog und Wohlbefinden. Deshalb kann man kleine, hübsche Reisenotebooks kaufen, mit Netzkabeln, die mehr Platz wegnehmen und dicker sind, als das Notebook selbst. Deshalb habe ich mir für die Reise zwei Netzteile gekauft.

Die nicht nur klein und flach sind, und mit einem zweipoligen Kabel auskommen, was man, nebenbei bemerkt, durchaus spüren kann, weil man bei diesen Netzteilen so ein eigentümliches samtiges Gefühl hat, wenn man über manche Teile am Rechner streicht. Was, wie ich geklärt habe, kein Mangel und ungefährlich ist, weil da nicht Spannung anliegt, sondern Entstörkondensatoren winzigste Ströme durchlassen.

Außerdem haben diese Netzteile noch einen zusätzlichen USB-Ausgang zum Handy- und sonstwas-Laden. Ist zwar kein Quickcharge, hat sich aber schon sehr bewährt, wenn man unterwegs was laden muss und gerade nicht an den Reisekoffer kommt.

Kurz gesagt: Ich bin sehr zufrieden mit diesen Netzteilen.

Sehr.

Im Herbst war ich doch verreist. Hatte das dabei. Mit einem Kabel für das jeweilige Land.

Komme von der Reise zurück, räume alles wieder ein, wo es hingehört.

Zwei Tage später stelle ich fest: Verdammt.

Da, wo die Netzteile hingehören liegt von den nachgekauften nur eines. Es müssten aber zwei sein. Ich bin mir sicher, zwei gekauft zu haben. Rechnung geguckt: Ja. Damals zwei gekauft.

Alles durchsucht. Reisetasche. Reisekoffer. Ich kann mich doch erinnern, dass ich das Ding zur Rückreise wieder eingepackt und das Hotelzimmer gründlich geprüft habe, dass da nichts zurückbleibt. Es müssten zwei sein, nun liegt nur eines da.

An sich nicht schlimm. Denn ich habe ja noch eines (die Reserve), es war auch nicht teuer, und das Original-Netzteil habe ich ja auch noch. Aber: Es gibt sie nicht mehr. Das Gerät ist etwas älter, der Hersteller hat inzwischen andere Buchsen, und die Dritthersteller haben sich angepasst. Ich finde zwar ein Universalnetzteil, das noch schöner, noch flacher, noch besser, noch toller ist – aber keinen Adapter für dieses Notebook hat.

Verflixt noch eins.

Eigentlich kein ernstlicher Schaden, weil ich ja noch eines habe. Hatte ja in weiser Voraussicht zwei gekauft.

Aber: Sowas wurmt mich. Sehr. Aus Prinzip.

Ich mag es überhaupt nicht, Sachen zu verlieren, und deshalb weigere ich mich grundsätzlich, Sachen zu verlieren. Wenn man sich nur energisch genug weigert, kommen sie irgendwie immer zu einem zurück. Es kommt sehr selten vor, dass ich was verliere. Aber wenn, dann kommt es meist auf sehr seltsame Weise zu mir zurück, oder ich ärgere mir ein Loch in den Bauch.

Auf der World Expo hatte ich so eine kleine Stativstange für die 360°-Kamera verloren, muss mir in der Dunkelheit im Gras aus der Tasche gerutscht sein. Nichts von nennenswertem Wert, aber etwas, was mich abgrundtief wurmt. Ich verliere nicht gerne Sachen. Schon gar nicht unterwegs. Ein schneller Spontankauf einer Selfiestange in einem Chinaladen in der Nähe der U-Bahnstation verlief preisgünstig, aber zu dick. Bodenplatte im Bild. Also einen tollkühnen Stunt unternommen, und das Ersatzteil bei Amazon in den Emiraten zur Lieferung an die Hotelrezeption bestellt. Hat funktioniert, am nächsten Abend das Ersatzteil da. Und ich habe das Fundbüro auf der Expo kennengelernt. Die haben ein exorbitantes Softwaresystem für Fundstücke, fotografieren und klassifizieren alles, und weil dort die Diebstahlrate so niedrig sei, fänden die fast alles wieder. Jubelnde Leute kamen mir aus dem Büro entgegen. Sie haben alles. Nur meine Stange nicht. Aber wie gesagt, die an der Rezeption hatten ein Paket von Amazon für mich. Es geht.

Die Seelenpein über das fehlende Netzteil hat mir aber zugesetzt.

Wo zur Hölle, wo um alles in der Welt, könnte ich dieses Netzteil verloren haben? Mich wurmt noch mehr als der Verlust, wenn ich nicht weiß, wie und wo ich etwas verloren habe. Um es künftig vermeiden zu können. Habe ich es im Hotelzimmer liegen gelassen? Im Hotel gefragt, aber keine Antwort.

Ist es mir vielleicht im Flieger aus der Tasche gerutscht? Die Fluglinie schreibt auf der Webseite, sie gebe alles nach 24 Stunden beim Fundbüro am Zielflughafen ab. Die antworten aber auch nicht.

Verdamm’ mich eins. Sonst habe ich die Tasche doch nirgends aufgemacht. Es wurmt mich zutiefst, wenn ich nicht mal weiß, wo ich etwas verloren habe. Vielleicht am Flughafen an der Sicherheitskontrolle?

Nein. Ich habe absichtlich keine Einzelteile in die Tasche getan, sondern alles im Umbeutel.

Wo zum Kuckuck habe ich dieses Netzteil verloren?

Ich kann suchen, soviel ich will: Zwei habe ich gekauft, zwei müssten da sein, nur eines liegt im Schrank.

Irgendwann wuchs gedanklich Gras über die Sache. Irgendwann kommt man über den Verlust eines Netzteils im Wert von 20 Euro hinweg, und man merkt: Das Leben geht weiter. Es muss weiter gehen.

Aber so insgeheim, so ganz tief in mir drin, so in irgendeiner Faser, hatte ich immer noch das Gefühl, dass ich mich einfach weigere, dieses Netzteil verloren zu haben. Irgendwie würde es auf irgendeine Weise wieder zu mir zurückkommen. Obwohl ich alle Taschen, die ich dabei gehabt hatte, gründlichst gefilzt hatte.

Letzte Woche habe ich angefangen, mein Arbeitszimmer neu aufzuräumen. So alle paar Jahre muss das sein, weil man ja Neues kauft, Altes rauswirft, und die Ordnung dann nicht mehr passt, man neu ordnen muss. Bisher hatte ich alles in Pappschachteln, die ich vor über 10 Jahren mal gekauft hatte, damals gab es noch Fotoschachteln für Bilder 10×15 und 13×18. Wunderbare Kleinteilschachteln, aber ewig halten die nicht. Also hatte ich mir im Möbelhaus Kunststoffboxen als Ersatz gekauft, und die Tage meinen Krempel neu sortiert, etwas ausgemistet, neu geordnet, neu beschriftet. Muss ab und zu mal sein. Ich mag das einfach, wenn nicht nur drauf steht, was drin ist, sondern dann sogar drin ist, was drauf steht.

Eigentlich war ich schon fertig, hatte aber gerade noch was an Notebook-Krimskrams aufgeräumt.

Da finde ich ganz hinten hinter Mäusen, Reisemäusen, Tastaturtüchern eine kleine Schachtel.

Was’n das für ‘ne Schachtel?

Ich mache sie auf – und denke, ich fall um. Das zweite Netzteil.

Noch in der Originalverpackung, noch in der Schutzfolie eingepappt. Ich hatte zwei gekauft, aber eines davon nie ausgepackt und nie zum normalen Notebook-Kram gelegt. Mir fehlte gar kein Netzteil, weil eines davon im Schrank liegen zu haben, völlig richtig war. Es war das, was ich auf der Reise dabei hatte und unbewusst wieder an seinen Platz zurückgelegt, und dann nur irrtümlich angenommen, es fehlte eines, weil ich dachte, da müssten zweie liegen, weil ich zweie habe. Das zweite lag im selben Schrank – aber halt noch in seiner Schachtel, und die ganz hinten drin.

Da könnte ich durchdrehen. Ich könnt’ mich in den …

Und gerade weiß ich nicht, ob ich mich freuen soll, dass ich doch kein Netzteil verloren habe und alles da ist, oder mich noch mehr ärgern, dass mir der Fehler unterlaufen ist, irrtümlich zu glauben, ich hätte eines verloren.

Das aber sind so Erlebnisse, die mich zur Ordnung motivieren.

Aber: Meistens funktioniert es tatsächlich, wenn ich mich einfach stur weigere, etwas verloren zu haben.