Von der einstmaligen Seligkeit des Studierens in der Ereignislosigkeit
Ach, hatten wir es gut.
Wir leben in einer Zeit des Ereignis- und Nachrichtenbombardements wie nie zuvor.
Ständig erleben wir Neues, Nachrichten, Eilmeldungen, Sondersendungen, Brennpunkte. Wir hetzen von Krise zu Krise, von Skandal zu Skandal, von Katastrophe zu Katastrophe, von Umsturz zu Umsturz, von Reform zu Reform, kaum, dass man sich mal eine Stunde Ruhe genehmigen kann. Ich verbringe längst den Großteil meines Tages mit dem Aufnahmen von Informationen.
Wir befinden uns in einem Stress, in einem Informationsdauerfeuer, für das wir nicht gemacht, nicht gebaut sind. Ich habe seit Jahren das Gefühl, dass ich jetzt mal ein, zwei, drei Jahre in völliger Ereignislosigkeit bräuchte, einfach gar nichts passieren darf, damit ich überhaupt meinen Rückstand als Blogger aufarbeiten kann. Ich komme ja schon nicht mehr nach, das alles irgendwie zu kommentieren, was mir an Ereignissen wichtig erscheint.
Neulich fragte mich jemand in Bezug auf meinen Promotionsstreit, ob ich denn an die Universität zurückkehren würde oder überhaupt wollte.
Nein, war meine Antwort. Will ich nicht und werde ich nicht.
Da ist schon das Problem meines Alters. Selbst wann top studiert ist, das alles voll drauf und seine volle Leistungsfähigkeit hat, braucht es erfahrungsgemäß noch einmal 10 Jahre, um in irgendeinem Fach- oder Spezialgebiet ganz nach vorne zu kommen, um da auch was zu erreichen. Und ich bin eben nicht mehr 30, dafür ist mein Studium inzwischen fast 30 Jahre her. Ich habe das zwar in den Grundzügen noch drauf, aber vieles müsste ich nochmal von vorne studieren, Algebra, Analysis, die ganze Theorie. Selbst wenn sie das Rentenalter auf 70 oder noch höher schieben, ich würde das ja schon zeitlich nicht mehr schaffen, noch etwas zu werden.
Außerdem kann ich gar nicht an die Universität „zurückkehren“, weil es die „Universität“ im Sinne meines Verständnisses gar nicht mehr gibt. Das sind ja heute nur noch Ideologie-, Deppen- und Korruptionsbrennpunkte, die den Namen „Universität“ nicht mehr verdienen und schon aus Respekt vor dem Begriff in „Diversität“ umbenannt werden müssten. Selbst wenn ich freie Auswahl hätte, fiele mir heute keine einzige (insbesondere keine deutsche) „Universität“ mehr ein, an der ich noch meine Lebenszeit verbringen oder überhaupt nur meinen Namen in deren Zusammenhang würde sehen wollen. Universitäten sind ja längst Orte, an die man gar nicht mehr hin will. Zu meiner Zeit haben wir uns da noch wohlgefühlt, sind da gerne hingegangen. Aber immer öfter höre ich von MINT-Studenten, die da nur noch ihr Abschlusszeugnis haben wollen und dann so schnell wie möglich weg. Die damit nichts mehr zu tun haben wollen. Es geht nicht nur mir so. Universitäten sind ein Ort, an dem man nicht mehr sein und bleiben möchte, wenn man nicht gerade dumm, Marxist und Profiteur ist. Sogar Professoren schreiben mir, dass sie damit hadern und eigentlich weg wollen, aber wegen der Verbeamtung ohne enorme Nachteile da nicht weggkommen, und nun versuchen, möglichst unsichtbar und mit wenig Kontakt die Zeit bis zur Pensionierung zu überstehen.
Man will ja gar nicht mehr an die Universität.
(Sofern man in der Lage ist, am normalen Arbeitsmarkt seinen Lebensunterhalt zu verdienen, oder es nicht ist, aber mit Hartz IV auch nicht auskommt, und sich per Geisteswissenschaften sowieso für ein Leben in Schwachsinn und Klapsmühle entschieden hat.)
Trotzdem ging mir unter der Dusche heute morgen unwillkürlich der Gedanke durch den Kopf „was wäre wenn…“. Hätte ich heute als alter Knochen noch einmal Lust und Muße, mich hinzusetzen und zu studieren, wenn dieser ganze entsetzliche Gender- und Marxismus-Scheiß nicht wäre? Nochmal den ganzen Informatikkram durchstudieren? Einerseits das Hirn schon alt und be weitem nicht mehr so aufnahmefähig, der IQ reziprok zum Bauchumfang, andererseits das alles ja schon mal durchgemacht und nur eine Auffrischung?
Da fiel mir auf, dass ich heute nicht mehr studieren könnte.
Weil ich die Zeit und Ruhe dafür nicht mehr hätte. Ständig dieser Nachrichtenterror, ständig der Druck, auf dem neuesten Stand zu sein und nicht als doof dazustehen, weil man irgendwas nicht oder erst zwei Tage später mitbekommen hat.
Denke ich aber zurück an mein Studium, vor allem das Vordiplom-Studium, dann war das eine Zeit (zumindest subjektiv) völliger Ruhe. Die große Krise Tschernobyl ereilte mich schon vor dem Studium, im Grundwehrdienst.
Im Studium, vor allem im Vordiplom, hatte ich kaum Nachrichtenquellen. Kein Internet (das heißt, schon, aber nur in Form von Mail und Usenet über den Studenten-VMS-Account auf der Vax an den Tischen mit den VT220-Terminals auf den Gängen im Rechenzentrum, aber eben nicht im Studierzimmer, im Studentenwohnheim), keine Blogs, keine Social Media. Später hatten wir auf dem Flur zusammen den SPIEGEL abonniert, in der Küche lief ab und zu das Radio, und ansonsten hatte ich einen kleinen Schwarzweißfernseher in der Bude, der mit etwas Glück und schlechter Qualität, etwas später dann mit dem analogen Kabelanschluss, der in die Zimmer gelegt wurde, abends mal die Nachrichten gesehen. Später als es dann zur Mutter aller Nachrichten kam, der Mauerfall, hat ein Kumpel, der nur abends für irgendwas zu besprechen vorbeigekommen war, bei mir spontan auf Sofakissen übernachtet, weil wir bis spät nachts die Sondersendungen gesehen haben und die in ihrer WG keinen Fernseher hatten.
Aber zumindest rückblickend nach über 30 Jahren fällt mir nicht viel ein, was mich zwischen Tschernobyl und Mauerfall an Nachrichten vom Studieren abgehalten hätte. Man hatte Ruhe, und das Weltgeschehen blubberte so vor sich hin. Obwohl man ja bei der Analyse von Nachrichten nur einen einzigen Tag gefunden hat (ich glaube, in den 1950ern), an dem überhaupt nichts los war. Es gab mal einen Tag, an dem nichts passiert ist. Ach ja, da ist es: Der 11. April 1954 war der langweiligste Tag des 20. Jahrhunderts, weil an dem Tag zwar nicht völlig gar nichts, sondern nur drei Dinge passiert seien: In Belgien wurde gewählt, ein türkischer Professor wurde geboren, ein Fußballer namens Jack Shufflebotham starb. Und das mit dem türkischen Professor wusste man an dem Tag ja auch noch nicht. Sonst ist nichts passiert, was auch nur irgendwie nachrichtentauglich wäre.
Einfach mal einen Tag Ruhe. Wie schön. Der perfekte Tag zum Studieren.
Genau das geht aber heute nicht mehr.
Ständig irgendein Terror, irgendeine Krise, irgendwer „fordert“ und regt sich auf.
Und das kostet einen nicht nur Zeit, es immt auch die Ruhe zum studieren.
Aber warum? Ich habe im Studium in den Prüfungsvorbereitungen auch „studiert“ wie bekloppt, mich wochenlang eingebunkert und Literatur gefressen. So sehr, dass ich aus Prüfungen zurückkam, aus Prinzip immer erst nach der Prüfung die Bücher weggeräumt und ins Regal gestellt oder in die Bibliothek zurückgegeben habe, und dann nicht wusste, was ich machen, mit meiner Zeit anfangen sollte, bis ich wieder ins „normale Leben“ zurückkam. Aber selbst da habe ich mal Pausen gemacht. Warum geht das mit Nachrichten nicht so?
Ein Gedanke wäre, dass uns Nachrichten in den Sozialfunktionen des Gehirns erreichen und damit die rationalen Funktionen lähmen, abschalten. Weil diese ganzen Krisen, Streitereien und Politidiotien und diese Social Media ja vornehmlich und fast ausschließlich Sozialgedöns sind. Und das womöglich mit den zwei Betriebszuständen zu tun hat. Ich hege ja die Vermutung, dass das Gehirn die Betriebsarten Rudel und Einzelgänger hat, und dieses Einbunkern in der Bude zum Studieren könnte durchaus dem Einzelgängermodus dienlich sein, der das Rationale einschaltet und einem überhaupt erst erlaubt, zu studieren. Heute stelle ich mir die Frage, ob ich mich zum Studieren eingebunkert habe, oder weil ich studierte. Ob das nicht nur die Ruhe und Zeit brachte, sondern vielleicht dieses ganze Sozialgehampel ferngehalten hat, damit das Gehirn sich auf das Rationale konzentrieren kann. Damit hängt vielleicht auch zusammen, dass es in Bibliotheken so üblich ist, völlige Stille zu bewahren, weil jedes gesprochene Wort sofort die Sozialfunktionen erreicht.
Ich hege die Vermutung, dass wir auch deshalb verblöden, weil die Nachrichtenflut, das Dauergeprassel, auch über Internet und die Social Media, uns nicht mehr erlaubt, die Sozialfunktionen im Hirn mal abzuschalten und der Ratio mal Zeit, Ruhe und 100% CPU zu gönnen. Ich fürchte, man kann heute gar nicht mehr ernstlich studieren.