Meine aller-aller-allerliebste Linux-Distribution
Leute, bitte. Reißt Euch doch ein wenig am Riemen.
Es ist wieder passiert. Es passiert immer, wenn ich irgendwas Negatives über Linux sage. Es kommt eine Reihe von Zuschriften rein, in denen mir irgendwo im Dreieck zwischen Belehrung, Geheimtipp mit Gewissheit wie beim Pferderennen (Im dritten Lauf gewinnt Gänseblümchen. Garantiert.) und kollegialem Insideraustausch, teils unter Kritik und Vorwürfen (Ubuntu ist was für Anfänger, wie kann man nur Ubuntu, kein ernstzunehmender Mensch, usw.) mitgeteilt wird, was die bessere Linuxdistribution und was ich – in unterschiedlichen Empfehlensintensitäten – doch mal ausprobieren solle, könne oder so sofort einsetzen müsse.
Gerne sind die Leute dann auch etwas eingeschnappt über vergrätzt bis beleidigt, wenn ich nicht positiv darauf reagiere oder es nicht befolge (Ich haben Ihnen doch schon mal geschrieben. welche Linux-Distribution … warum machen Sie das nicht?)
Ich will mal ein paar Takte dazu sagen, warum das so nicht funktioniert.
Die Subjektivität der Wahrnehmung
Leute, ich hätte ja nichts dagegen, wenn mir jemand eine Linux-Distribution – oder was auch immer, für alles andere gilt das ja im Prinzip genauso – empfiehlt, solange das auf einer sachlichen Grundlage passiert und mir jemand verständlich, nachvollziehbar, nachprüfbar und vor allem allgemein- oder mindestens für ihn und mich gültig, erklären würde, was an der Distribution X besser als der U ist, welchen Vorteil ich erlangte, wenn ich wechselte.
Das tun die Leute aber nicht.
Stattdessen werden immer irgendwelche völlig subjektiven, oft emotionalen Einschätzungen geliefert. So in der Art von
- X ist so toll, ich bin so zufrieden mit X.
- Mein Enkel findet X ganz cool. Bisher hat der nur mit Tablets gearbeitet, aber seit der X auf seinem Raspberry Pi laufen hat…
- Der Desktop von X ist so schön.
- X ist ganz einfach zu installieren.
- X ist bei mir noch nie abgestürzt.
- X wird von coolen Typen gemacht.
- Seit ich X auf meinem Rechner habe, habe ich kein Windows mehr drauf.
und mein Lieblingspseudoargument:
- Ich bin älter als Du und mache schon viel länger IT als Du und habe vor Dir studiert.
Ähm, ja. Da ich Linux von Anfang an mache, und das schon eingesetzt habe, bevor es überhaupt irgendeine Distribution gab, kann es außer vielleicht Linus Torvalds persönlich und die Entwickler der ersten Stunde niemanden geben, der das signifikant länger macht als ich. Wer das länger macht als ich, der hat es noch mit Plattenstapeln, Lochkarten und Lochstreifen gemacht, und das hilft hier nichts.
Was mich an der Sache so nervt, ist gar nicht mal die Empfehlung der Distribution X oder Y, sondern diese Kombination aus belehrendem Ton, ständiger Wiederholung und Argumentation auf Laienniveau. Man merkt den Leuten an, dass die sich zwar vielleicht 30 Jahre mit IT rumschlagen, aber nicht sehr tief. Man merkt das dann immer wieder, dass die Leute schon damit zufrieden sind, wenn sich das einfach installieren und bedienen lässt und sie ihren Browser, ihr Mailprogramm und vielleicht noch einen Compiler oder ihre Lieblingsanwendung haben, aber nie in die Tiefe gesehen oder irgendwas außer den Grundfunktionen gemacht haben.
Gleichzeitig haben sie nicht die geringste Ahnung davon, was ich auf meinen Rechnern so mache und was ich brauche, und meinen, wenn ihnen der Desktop gefällt und sie mit etwas hübsch klarkommen, müsse das für jeden anderen auch gelten. Das geht schon so in die Richtung Dunning-Kruger.
Und ich glaube den Leuten dann auch nicht, wenn sie behaupten, seit 30 oder soundsoviel Jahren als IT-Profi unterwegs zu sein. Denn gerade solche Argumentationen zählen in der professionellen IT nichts oder nur sehr wenig. Mit so einem „probier doch mal X, das ist schön“ kommt man da nicht weit, auch wenn ich zugeben will, dass immer mehr Leute nach diesem Schema arbeiten.
Kernel, Unix-Umgebung, Distribution, Desktop, Anwendungen
Was man dabei oft merkt, ist, dass die Leute nicht wissen, was sich hinter dem Begriff „Linux“ eigentlich verbirgt, dass das alles eigentlich in (mindestens) fünf Kategorien zerfällt, nämlich den Kernel, die Standard-Unix-Umgebung (shell, ls und so Zeug), die Distribution, den Desktop und die Anwendungen.
Die meisten Probleme, die man hat, hat man im Bereich der Anwendungen. Manchmal beim Kernel. Seltener bei der Unix-Umgebung, weil das Zeug so alt und ausgetestet und ausgehärtet ist, dass da eigentlich nicht mehr viel schief gehen kann. Viele Probleme kann man beim Desktop haben, aber der ist von der Distribution eher wenig abhängig, weil da (außer früher mal Ubuntu) die Distributionen keine eigenen Desktops haben.
Die Distribution und der Desktop sind daher nur das Vehikel. Wenn man sie austauscht, ändert das am Rest nichts. Wenn ich ein Problem mit der Anwendung soundso habe, nutzt mir das einfach gar nichts, die Distribution zu wechseln. Es nutzt ja auch nichts, es in einem anderen Laden zu kaufen, wenn man ein Herstellerproblem mit einem Produkt hat.
Viele Leute verstehen nicht, dass Anwendungen und Distributionen verschiedene Dinge sind und die Distribution X nicht die tolleren Programme als die Y hat.
Probier doch mal die…
Ich finde das ja auch immer so nervig, wenn die Leute mit „Probier doch mal die X aus…“ daherkommen.
Wie stellen die sich das vor? Wie man mal ein anderes Kochrezept ausprobiert?
Einfach mal installieren und ein paar Tage drauf rumklicken, ob es einem gefällt?
Sowas machen sicherlich manche Leute, ich aber nicht. Denn für mich reicht das nicht, wenn der Desktop schön aussieht und sich die Maus leicht bewegen lässt. Ich installiere meine Syteme auch nicht manuell mit den fünf Programmen, die ich so gern verwende, sondern habe sehr komplexe und umfangreiche Installation, die ich über Puppet automatisiert vornehme, und an meinen Puppet-Rezepten seit rund 10 Jahren baue und die auch ständig verändere und aktualisiere. Anders wäre es mir gar nicht möglich, die Vielzahl von Rechnern, die ich habe, auf dem gleichen Stand und zuverlässig vollständig installiert zu halten, weil ich mir das unmöglich alles merken könnte, was ich zu installieren habe und wie, und das dann auch noch alles konsistent zu konfigurieren. Manche Leute haben da ein sehr reduziertes Bild von einer Installation. USB-Stick rein, auf Installieren klicken, 5 Fragen beantworten und 5 Applikationen anklicken, fertig.
Ich wäre Wochen bis Monate damit beschäftigt, bis ich meine Puppet-Rezepte an eine andere Distribution angepasst und alles getestet hätte, was ich so auf den Rechnern habe.
Und wozu die Arbeit?
Um dann zufrieden festzustellen, dass alles so geht wie vorher?
Die Problemanalyse
Es nervt mich kolossal, wenn mir Leute eine Lösung für ein Problem aufdrängen, das ich nicht habe.
Ja, ich habe allerhand Probleme mit Linux, das früher mal sehr stabil und zuverlässig war, und immer instabiler und schlechter gepflegt wird.
Ich habe aber kein Problem, das sich durch Wechsel einer Distribution lösen lässt. Ich gehe ja auch nicht zum Arzt, damit der mir, ohne zu fragen, was mir eigentlich fehlt, irgendeine Medizin verschreibt, weil er meint, dass die gut schmeckt.
Ist bei mir noch nie abgestürzt
Au weia.
Nur mal so: Ich weiß von einem System, auf dem als Virtualisierungshost eine Ubuntu (weiß nicht mehr genau, 16.04, könnte auch 14.04 gewesen sein) installiert war, und der direkt im Internet stand und hochbelastet war, weil auf den virtuellen Maschinen (ständig aktualisiert und auf neuere Versionen gehoben) über 100 Webserver, Mailserver, Benutzer und so weiter liefern. Richtig hart belastet. Das untere System des Hosts, auf dem die Virtualisierung lief, kam auf eine Uptime von einigen, ich glaube, es waren über 4 Jahren. Das heißt, der Rechner ist in über 4 Jahren nicht ein einziges Mal neu gebootet worden und lief trotz höchster Belastung dauerhaft durch.
Das Problem ist, dass eine Distribution nicht stabil oder abstürzig ist, sondern das vor allem darauf ankommt, was man damit macht, welche Funktionen man nutzt und welche Hardware man drunter hat. Manche Treiber sind gut, andere nicht, das hat aber mit der Distribution überhaupt nichts zu tun. Gerade wenn man ein relativ günstiges, technologisch etwas älteres Intel-System hat, dann ist das sehr gut ausgetestet und ausgereift und läuft sehr stabil, Und wenn man dann auch nichts Besonderes damit macht, sondern nur den Desktop verwendet, viele Kernelfunktionen als gar nicht erst verwendet, können sie ja auch nicht abstürzen.
Ich habe in Berlin einen Rechner, der einige Jahre völlig stabil lief. Seit Ubuntu 20.04 friert er gelegentlich ein.
Es liegt aber nicht an Ubuntu. Es liegt daran, dass er einen Ryzen 7 1700X Prozessor hat.
Der nämlich hat ein subtiles Problem bei den Sleep States, bei denen er aus einem Zustand nicht mehr richtig rauskommt. Man kann das ein bisschen dämpfen, indem man processor.max_cstate=1 rcu_nocbs=0-n idle=nomwait setzt (n=Zahl der Kerne) setzt (genau kann ich es gerade nicht sagen, weil ich gerade nicht an den Rechner komme). Das mag einem dann als Instablität der Distribution erscheinen, weil der eine Rechner abstürzt und der andere nicht, ist es aber nicht. Das Problem würde mit jeder anderen Distribution genauso passieren, sobald sie einen neueren Kernel verwendet, der von diesen Sleep-Zuständen Gebrauch macht. Bei Intel-Prozessoren gibt es das Problem nicht (dafür andere). Oder, wie man so schön sagt, eine Korrelation ist noch keine Kausalität.
Paket-Manager
Ich habe jetzt schon viel zu viel damit zu tun, mich mit den verschiedenen Paketmanagern herumzuschlagen, es reicht mir schon, mich mit dpkg, apt, rpm, yum, apk und opkg herumzuschlagen. Ich habe keinerlei Bedürfnis, mir auch noch pacman oder was auch immer draufzuladen.
Selbiges gilt für den Startup-Kram, mit dem init das System hochfährt. Ja, systemd ist schrecklich und ein Ärgernis. Aber immerhin von gewisser Einheitlichkeit. Schaut man sich aber an, wieviel verschiedene Systeme und Varianten es gibt, mit /etc/rc* und /etc/init.d und weiß der Kuckuck was alles zu starten, habe ich weder Zeit noch Lust, mir da noch mehr draufzuladen.
Kommerzielle und non-open Software
Es gibt einige Software, die man von third parties lädt, etwa weil man sie gekauft/lizensiert hat, oder jemand as eben nur so anbietet. Die werden dann oft nur als rpm und als deb-Paket für Ubuntu angeboten. Nutzt mir nichts, wenn die dann auf einem System nicht läuft. Und kommt mir nicht mit Paketkonvertern wie alien, das sind Krücken, die aus Prinzip schon nicht richtig funktionieren können und die Library-Abhängigkeiten nicht lösen können.
Server und Cloud
Ich brauche eine Linux-Distribution, die auch Server-Versionen anbietet, weil ich weder Lust noch Zeit habe, dafür zwei völlig unterschiedliche Distributionen zu verwenden. Viele der empfohlenen Distributionen sind aber reine oder vorrangige Desktop-Installationen.
Ich brauche außerdem welche, die auch in Clouds, Container-Virtualisierungen wie LXD und Docker verfügbar sind.
Es ist schön, wenn man mir Manjaro-Linux empfiehlt, das nutzt mir aber nichts, wenn ich das nicht bei jedem Cloud-Provider direkt als Image starten kann, damit ich schnell reagieren und meine Installationsmethoden anwenden kann.
Es funktioniert einfach hinten und vorne nicht, jemandem eine Linux-Distribution zu empfehlen oder aufzuschwätzen, solange man überhaupt nicht weiß, was der damit macht.
Ubuntu ist die meistverwendete Cloud-Serversoftware, die bekommt man überall.
Nutzerbasis
Linux funktoniert heute auch nur noch über die Benutzer, die Probleme erkennen und als Bug reports einreichen oder fixen. Je kleiner die Nutzerbasis, desto holpriger die Distribution.
Rolling Release
Es gibt Distributionen, die regelmäßig oder unregelmäßig als Versionen erscheinen, und innerhalb der Versionen nur Sicherheitsupdates und wichtige Änderungen bringen und die großen Änderungen immer nur mit der nächsten Version.
Und es gibt die „Rolling Releases“, bei denen es keine Versionen gibt, sondern ständig immer alles auf die neuste Version aktualisiert wird.
Das hat Vorteile. Und es hat Nachteile.
Und vor allem dann, wenn etwas funktionieren muss, ist es nicht zu gebrauchen, weil ich nicht alle Rechner auf demselben Stand halten oder bei einer älteren Version bleiben kann, bis ein Problem behoben ist. Das macht am persönlichen Desktop sicherlich Spaß, wenn man den Rechner nicht unbedingt braucht, aber professionell einsetzbar ist das nicht. Wenn ich sage, dass ich eine Ubuntu 20.04 einsetze, dann wissen auch andere, was für einen Softwarestand ich meine, und können den nachbilden und Pakete dafür anbieten. Bei Rolling Releases geht das nicht.
Kosten und Nutzen
Die Leute unterschätzen völlig, wieviel Aufwand das bedeutet, die Distribution zu wechseln und alles wieder zum Laufen zu bringen, weil sie selbst ja nicht viel damit machen.
Um sich aber in so ein Abenteuer mit soviel Aufwand, Unwägbarkeiten und wochenlangen Einschränkungen zu begeben, bis wieder alles läuft, braucht man einen triftigen Grund, einen Nutzen, der den Aufwand lohnt. Sie nennen aber keinen. Und wenn es noch so cool sein mag, die Distribution X zu benutzen, cool nützt mir nichts. Meine Zeit ist knapp, und ich kann nicht Wochen und Monate dafür verheizen, nur um mal herauszufinden, wie es denn wäre.
Davon abgesehen: Auch, wenn ich noch nie MINT-Linux, Manjaro und sonst was alles benutzt habe, komme ich aus einem IT-Umfeld, indem man ständig mit Leuten zu tun hat, die diese oder jene Distribution haben, und die einem dann sagen, dass das zwar nett sei, aber vielleicht nur für den Desktop, oder halt nicht so nett, dass sich der Aufwand eines Umstiegs lohnt.
Was viele nicht verstehen:
Es ist ein Riesen-Unterschied, ob man jemandem, der noch gar nichts mit Linux gemacht hat und keinen Bestand hat, eine Empfehlung gibt, mit welcher Distribution er mal anfangen könne, oder jemandem, der seit Jahren sein Zeug darauf ausgerichtet hat, sagt, er solle seine Distribution wechseln. Es ist ein Unterschied, ob man seinem Enkel sagt, womit er mal anfangen könnte, womit man erst mal leicht zum einsatzfähigen Rechner kommt, oder jemanden, der seit 15 Jahren auf Ubuntu ist, sagt, er solle mal wechseln.
Das ist so ähnlich wie die Empfehlung, wohin man ziehen solle.
Wenn jemand, der Deutschland noch gar nicht kennt, und noch keine Verbindungen hat, fragt, wohin er ziehen solle, kann man ihm sagen, die Stadt X sei schön, die solle er sich mal anschauen.
Es ist aber etwas völlig anderes, jemandem, der in Stadt A wohnt, arbeitet, Wohnung und Bekannte hat, vorhält, warum er nicht nach B umzieht, weil einem selbst B besser gefällt als A.
Sorry
Sorry, Leute, aber das ist einfach Quatsch, rumzulaufen und Leuten, die man nicht kennt und von denen man nicht weiß, was sie machen, blanko und pauschal irgendeine Linux-Distribution zu empfehlen und mit Probieren daherkommt, einfach nur, weil sie einem selbst gefällt oder man damit klarkommt, obwohl man nicht viel damit macht und nicht mehr Ansprüche hat als dass der Desktop schön aussieht und die Installation einfach ist.
Es nervt. Ich halte das für schlechtes Benehmen.
Neulich schon wollte mir einer einreden, den Kamerahersteller zu wechseln. Nikon sei nichts. Als ich antwortete, dass das nicht so einfach geht, weil ich zwar ab und zu mal einen neue Kamera kaufe, der Wert aber im Objektivbestand bestehe und ich nicht einfach so zum Spaß und ohne erkennbaren Nutzen Tausende Euro rauswerfen will, um alles neu zu kaufen, beschimpfte der mich, dass das so dämlich wäre wie die Automarke nicht zu wechseln, weil man noch Winterreifen im Keller habe. Ein Satz Winterreifen kostet ja auch nicht fünfmal soviel wie das Auto. Und er hält ja auch nicht dreimal so lange. Würde der Hauptwert aus den Reifen bestehen und die Reifen das Auto überdauern, würde man sehr wohl das Auto passend zu den Reifen kaufen.
Umgekehrt wechsle ich ja auch nicht das Auto und die Automarke, weil mir einer tolle Winterreifen empfiehlt, mit denen er so zufrieden ist, ohne zu wissen, wohin ich fahre.
Es ist aber nicht nur unprofessionell und wirkt einfach schlecht, wenn Leute auf dieser Ebene argumentieren und sich gleichzeitig für einen IT-Profi halten oder als solchen ausgeben.
Es ist unhöflich.