Ansichten eines Informatikers

Vom Klauen

Hadmut
15.8.2023 21:50

und der Zersetzung der Gesellschaft.

Ich bin Mitte 30, arbeite Teilzeit in einer Behörde und lebe in einer Altbauwohnung mit einem sogenannten alten Mietvertrag. Trotzdem geht fast die Hälfte meines Gehalts für Miete drauf. Auch ich habe es nicht unbedingt nötig, aber ich klaue gerne. Nicht weil ich etwa Kleptomanie habe, sondern weil es mir ein Gefühl von Ausgleich gibt. Es ist aufregend, es beruhigt mich und vor allem finde ich es gerecht. Denn eine Praxis, die wir normalerweise Jugendlichen in ihren rebellischen Antiphasen oder in einer Notlage zuschreiben, kann auch kapitalismuskritische Praxis sein.

Neun Euro für Olivenöl, 8 für Kaffee, ein Granatapfel kostet 3 Euro und eine Mango manchmal 4 Euro. Gesund ernähren ist für Gut­ver­die­ne­r:in­nen. Nicht umsonst gibt es inzwischen ein Twitter-Genre, in dem Leute ihren Einkauf auf dem Warenband zeigen und man schätzen soll, was dafür bezahlt werden musste. Natürlich erscheint einem das Ergebnis jedes Mal als unglaubliche Frechheit.

Doch diese Limitation, die man im Laden spürt und die in allen Facetten auf gesellschaftlicher Ungerechtigkeit basiert, kann ich nicht akzeptieren. In diesem Land soll es der Wirtschaft gut gehen und nicht den Menschen, deshalb wird Reichtum geschützt und Sozialpolitik gegen arme Menschen gemacht. Ich brauche nicht jeden Monat neue Kleidung, aber wenn ich neue Kleidung brauche, dann möchte ich dafür nicht am Essen sparen müssen.

[…]

Das Bild des notorisch kriminellen „Langfingers“ wird genutzt, um eine Gefahr darzustellen. Doch wer ist denn eigentlich die Gefahr in diesem Land? Diebstahl wird kriminalisiert, aber würden wir stattdessen Löhne kriminalisieren, die nicht zum Leben ausreichen, gäbe es vielleicht gar nicht so viele „Langfinger“. Doch die Ausbeutung der Menschen wird hierzulande niemals kriminalisiert werden, schließlich steht hier das Wohlergehen der Wirtschaft immer über dem Wohlergehen der Menschen. Ich halte Reichtum für gefährlicher als Diebstahl. Und vor allem für moralisch fragwürdiger.

Wenn ich klaue, gibt es aber Regeln. Ich klaue nicht von Menschen oder in kleinen inhabergeführten Läden, sondern von Konzernen. Ich will niemandem was wegnehmen, außer denen, die eindeutig zu viel haben und die es gar nicht merken. Im Einzelhandel sind Verluste mit einkalkuliert und zwar in den Preisen. Man kann daraus schlussfolgern, dass andere Kun­d:in­nen also für einen Diebstahl mitbezahlen, aber in dieser Logik muss man dann auch daran glauben, dass die Preise sinken wenn weniger geklaut wird.

Das Ergebnis sieht man in den USA, besonders Kalifornien. Ganze Straßenzüge einstiger Geschäftsstraßen stehen leer, weil die Läden schließen. Warum sollten Menschen dafür arbeiten und Inhaber dafür zahlen, dass Läden befüllt werden, wenn andere einfach stehlen?

Warum sollten überhaupt Menschen noch dafür arbeiten, zahlen, ihre Lebenszeit verbrauchen, um solche Leute mitzuschleppen?

Wie würde die TAZ dazu stehen, wenn jemand dazu aufriefe, deren Zeitungen zu klauen?

Gut, vielleicht würden sie sich freuen, denn geklaute Zeitungen zählen als Auflage, und Zeitungsverlagen ist geklaut ja lieber als nicht verkauft, aber für Supermärkte und Klamottenläden gilt das eben nicht.

Die TAZ verherrlicht systematisch das Leben auf Kosten anderer.

Das Ergebnis sehen wir in Kalifornien. Dann bald auch bei uns.