Die Progressivitätsrochade
Schon wieder ein spontaner Standpunktwechsel.
Könnt Ihr Euch erinnern, dass die SPD immer auf „progressiv“ machte und behauptete, sie wollten die Gesellschaft verändern, und die „Konservativen“ wären die Bösen, weil sie an der Gesellschaft festhalten wollten, sich gegen Veränderungen stemmten?
Nicht nur hat die SPD die „Progressive Allianz“ gegründet, einen Zusammenschluss aus 120 sozialistischen Parteien, sie verstand darunter auch die Veränderung. DIE ZEIT, 2010:
Think Tanks der politischen Linken haben in Deutschland gerade Konjunktur. Vor wenigen Wochen gründete Hessens frühere SPD-Chefin Andrea Ypsilanti und Politiker der Grünen und der Linkspartei ihr “Institut für Soziale Moderne”. Parteiübergreifend sollen hier Politiker, Wissenschaftler und andere Interessierte ein alternatives Politikkonzept zu Schwarz-Gelb entwickeln.
Ein ähnliches Ziel hat auch das “Progressive Zentrum”, das am Donnerstagabend zu einer Diskussionsrunde eingeladen hat. Allerdings steht dieses Zentrum nicht im Verdacht, ein “linker Kampfverband” zu sein, so wie Kritiker das Ypsilanti-Institut bezeichnen. Nein, das bereits 2007 gegründete “Zentrum” steht dem pragmatischen Netzwerker-Flügel der SPD nah, der sich selbst im Zentrum der SPD verortet.
[…]
Der Anfang ist zäh. Frank-Walter Steinmeier hält ein Impulsreferat. Besonders progressiv klingt es nicht. Steinmeier bleibt eben Steinmeier. Er, der frühere Kanzleramtschef und Außenminister, kennt jedes Detail der sozialdemokratischen Regierungsarbeit seit 1998. Rot-Grün damals, das war für ihn progressiv. Seine These lautet: Rot-Grün wollte die Gesellschaft verändern und hat mit neuem Staatsbürgerschaftsrecht, Homo-Ehe und Atomausstieg gleich mutig los gelegt. Schwarz-Gelb sei dagegen so schwach gestartet, weil sie anders als Schröder, Fischer und er selbst keinen “Kurs und Konsens”, keine “Agenda 2020” haben.
Es war mal der Plan der SPD, die Gesellschaft zu verändern.
Ich erinnere an meinen Bericht von 2014 über den Auftritt des bösartigen Professors Michael Kimmel in der SPD-„nahen“ Friedrich-Ebert-Stiftung, der da damals unter Beifall des Publikums erklärte, dass jede beliebige bestehende Eigenschaft Nazis mache, weil jede Eigenschaft die Gesellschaft in die spalte, die die Eigenschaft aufwiesen, und solche, die es nicht täten. Deshalb dürfe es keine Eigenschaft, nichts geben, was zwei gemeinsam und ein Dritter nicht hat, und deshalb dürfe auch nichts Bestand haben, müsse alles in ständiger Bewegung und Veränderung sein, damit nichts sicher ist, es nichts gibt, was als bestehende Gemeinsamkeit dienen könnte. Worauf übrigens auch der Geschlechterkrieg beruht, von dem Feministinnen heute beklagen, dass Männer ihn ihnen aufgezwungen hätten.
Die SPD hat sich seit Jahrzehnten darüber definiert, die Gesellschaft irgendwie verändern zu wollen – nur nie so genau wusste, wohin es gehen sollte. Das marxistische Schlaraffenlandprinzip: Man muss nur alles kaputtkloppen, was irgendwie Bestand hat, und schon stellt sich das sozialistische Wunderparadies ein. Die bösen Konservativen wollen am Status Quo festhalten. Die gute, progressive SPD will die Gesellschaft verändern.
Und von den Grünen noch das Klassikerzitat:
“Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich freue mich darauf” (Katrin Göring-Eckardt)
Und jetzt schaut Euch mal an, was Lars Klingbeil so sagte (Twitter halt, Quelle und Datum mal wieder nicht ersichtlich):
Führerbunker, die letzten Tage. pic.twitter.com/Kfg7Fcs21W
— TheRealTom™ (@tomdabassman) July 4, 2024
Er wirft anderen vor, die Gesellschaft verändern zu wollen, dass sie ein anderes Land wollen, dass die Gesellschaft ganz anders aussieht, als es heute der Fall ist. Die spalten wollen, gegeneinander statt miteinander. Er wirft anderen vor, das zu wollen, was seit Jahrzehnten Ziel, Methode und Programm der SPD ist. Exakt das, was die SPD selbst seit Jahrzehnten mit Hochdruck betreibt.
Auf einmal nimmt die SPD die konservative Position ein, die sich gegen die Veränderungsziele anderer stellt.
Oder in Sozialistensprache: Reaktionär, konterrevolutionär.
Man sollte das sehr genau zur Kenntnis nehmen, wie die SPD da gerade wieder einmal ihre Position und ihren Standpunkt geräuschlos wechselt, als hätte sie schon immer einen anderen gehabt.
Ozeanien war nie im Krieg mit Eurasien.