Amazon Prime Video vor Abschaltung in Deutschland?
Nächster Schritt in der Absurdität und Verblödung des einstigen Industriestandorts Deutschland?
Ich sitze gerade da und wundere mich.
Focus und Heise melden, Urquelle ist anscheinend die Wirtschaftswoche, dort aber wird auf „Plattform IP Fray“ als Erstmeldung verwiesen, wonach Nokia bzw. deren Tochter Alcatel-Lucent vor dem LG Düsseldorf einen Patentstreit gegen Amazon gewonnen habe, wonach Amazon Prime Video dieses Patent verletze. Sollte Nokia das Urteil vor seiner Rechtskraft durchsetzen oder es eben rechtskräftig werden, kann Amazon anscheinend nur noch abschalten oder teuer das Patent lizensieren.
Verstanden habe ich es noch nicht, denn die Meldungen sind so flach, seicht und inhaltslos, dass ich daraus nicht schlau werde, und das Urteil habe ich noch nicht gesehen. Es ist schwer, aber nicht sehr ratsam, ein Urteil zu kommentieren, bevor man es gelesen hat.
Was aber offen zugänglich ist, ist das – angeblich verletzte – Patent selbst. EP2271048 – Verfahren zur Bereitstellung eines Multimedia-Dienstes.
Nur:
Ich habe versucht, das zu lesen.
Ich finde darin weder eine Erfindung, noch was überhaupt Inhalt des Patents sein soll, und wie Alcatel-Lucent darauf kommt, dass ihnen das dann zusteht, dass sie etwas erfunden hätten.
Ich nehme einfach mal einen Absatz heraus:
[0006] Indeed, by first determining at least one additional multimedia service that is associated with a multimedia service that currently is provisioned to the rendering device by the multimedia application server and subsequently provisioning an option to choose an additional multimedia service of the at least one additional multimedia service, to a communications device that is associated with the multimedia service provisioned to the rendering device or provisioning an option to choose an additional multimedia service of the at least one additional multimedia service that is associated with a multimedia service that currently is provisioned to the rendering device, there is for each communications device that is associated with a multimedia service that currently is provisioned to the rendering device or the rendering device the possibility to first check on available additional multimedia services that are associated to the currently provisioned multimedia service, i.e. the Television broadcast or video on demand currently “playing” and subsequently to select an additional multimedia service of the at least one multimedia services for provisioning. In this manner any user has the option to control the multimedia application server and be able to select an additional multimedia service to be provisioned from a list of at least one additional multimedia service where the additional multimedia services are related to the currently provisioned multimedia service.
Alles klar?
So geht das die ganze Patentschrift durch. Davon, dass sie etwas erfunden hätten, habe ich nichts gefunden.
Meines Erachtens ist das absichtlich verwirrende Blähsprache, um zu verschleiern, dass sie exakt gar nichts erfunden haben, sondern eine Patent-Troll-Anmeldung betreiben, die auf alles passt, und für die sie dann nur noch naive Richter brauchten.
Mein Stand des zu-verstehen-Versuchens ist der, und das kann man auch nur verstehen, wenn man – wie ich – alt genug ist, um die ganze Entwicklung des Fernsehens seit der ganz einfachen Analogzeit miterlebt zu haben. Es gab also früher mal so eine einfaches, analoges Fernsehen. Erst in Schwarz-Weiß, dann in Farbe. Antenne aufs Dach, analoger Fernseher ins Wohnzimmer, Strom drauf, einstellen, fertig. Los geht’s. Man guckte, was kam.
Und dann kamen die Privatsender und Pay-TV. Weiß nicht mehr, so ab 80er Jahre irgendann.
Pay-TV lief damals – mein Vater hatte damals so ein Ding, um Sportsendungen und nackte Weiber zu gucken, während mich Sportsendungen ja gar nicht interessierten – über eine Set-top-Box. Schon zu analogen Zeiten, als es noch kein Digitalfernsehen gab. Die Dinger hatte einen Antenneneingang und – wenn ich mich jetzt recht erinnere – zwei Ausgänge, nämlich einen Antennen- und einen Videoausgang (Cinch und Scart). Das Fernsehprogramm wurde – analog verschlüsselt – ausgestrahlt, und die Box, in der eine Chipkarte steckte, entschlüsselte das, und gab das für Fernseher ohne Scart-/Cinch-Eingang remoduliert auf dem Antennenausgang, und für Fernseher mit Scart-/Cinch-Eingang als Videosignal. Ich kann mich noch erinnern, dass bei den ersten, frühesten Versionen normale Fernseher ohne Setup-Box den Ton, aber das Bild nur einfarbig und stark gestört, ohne die Synchronisationssignale ausgeben konnten. Das wurde immer besser, und irgendwann auch Digital, auch Provider wie Kabel Deutschland hatten ja dann irgendwann diese Set-top-Boxen mit Entschlüsselung.
Aber:
Lange Zeit waren das sogenannte „Broadcast“-Sendungen, bei denen also die Kommunikation nur in eine Richtung lief, es keine Rückrichtigung ging. Der Sender konnte also nicht erkennen, ob die Empfänger zuschauen und welchen Sender sie schauen. Mit dem Fernsehsignal wurden regelmäßig digitale Listen ausgestrahlt, welche Chipkarten gültig sind und welche nicht. Hatte man also gekündigt oder seine Rechnung nicht bezahlt, dann war die Karte nur noch für kurze Zeit oder bis zum nächsten Listenempfang gültig, und dann wurde sie ausgeschaltet. Der Empfänger konnte also nicht abfragen, ob die eingesteckte Chipkarte noch gültig ist, sondern musste warten, bis die Liste ausgestrahlt wurde und die entsprechende Kartennummer darin eingetragen war, und wenn da „Ja“ stand, dann war die Karte wieder für ein paar Tage gültig.
Es war also
- ein reines Aussenden in einer Richtung
- und das Programm war für alle gleich, man konnte nicht auswählen, was man sehen wollte.
Die haben damals, wie heute eben noch RTL, Sat1, Pro7, ein festes Programm nach festem Zeitplan für alle ausgestrahlt, und das konnte man (wenn man gezahlt hatte) gucken oder bleiben lassen.
Wenn ich das nun richtig verstanden habe (und da bin ich mir noch nicht sicher), dann beanspruchen sie das Patent darauf,
- dass der Zuschauer über seine Box Rückmeldungen geben kann, was er sehen will,
- und dann individuell ein gewünschtes Programm angezeigt bekommt.
Auch bekannt unter dem Begriff „Video on Demand“.
Das halte ich aber nicht für patentfähig, denn
- ist für mich nicht ersichtlich, worin da die Erfindung oder Erfindungstiefe liegen soll, denn das ist ja keine Erfindung, sondern eine selbstverständliche Folge des Fortschritts der Kommunikationstechnik und der Anbindung der Privathäuser an das Internet.
- ist das auch nicht neu, denn meines Erachtens haben bereits BTX, Internet und Webbrowser mit Web-Anmeldung dieses Prinzip umgesetzt,
- und auch Kabel Deutschland mit deren Videorekorder, die zwar nach Zeitplan ausgestrahlt haben, man aber vorher im Videorekorder per Menü ausgewählt hat, welche Sendungen man sehen will, und der die dann auf Festplatte aufgenommen hat, wenn sie kamen, ob nun nachts um drei oder tagsüber, während man bei der Arbeit ist. Und dann konnte man von der Platte gucken, was man wollte. Da nämlich der Rekorder Eigentum von Kabel Deutschland blieb, ist in diesem Fall der Rekorder die Sendeanlage, und das Kabel vom Rekorder zum Fernseher das Netzwerk, und auch das ein Video on Demand,
- auch die flight entertainment-Systeme in Flugzeugen funktionieren schon lange nach diesem Prinzip. Die waren früher zwar auch mal so, dass da für das ganze Flugzeug zwei Filme und ein paar Audio-Sendungen synchron ausgestrahlt wurden (von der Videokassette liefen), und dann konnte man sich zu genau dem Zeitpunkt reinschalten oder auch nicht, aber die waren dann auch schnell an dem Punkt, an dem man über das Terminal in jedem Sitz beliebig auswählen konnte, welchen Film man wann sehen wollte. Und ich glaube mich erinnern zu können, dass ich das schon auf meinen Fernreisen zwischen 1999 und 2007 schon gesehen hatte.
Womit das mit Anmeldedatum 30.06.2009 – unabhängig von der Erfindungstiefe – nicht mehr patentierbar gewesen wäre. Ich habe zwar gerade so das unbestimmte, dumpfe Empfinden, als seien eben auch einige (aber gewiss nicht alle) dieser Videorecorder von Kabel Deutschland von Alcatel Lucent hergestellt worden, aber das ändert nichts daran, dass das Prinzip schon uralt ist: Wenn man in den 80er Jahren ein Bild (Multimedia) von einem FTP-Server (Multimedia-Service) heruntergeladen hat, oder auch per Modem aus einer Mailbox, oder auch nur E-Mail oder News/Usenet gelesen hat (auch Texte sind Multimedia), hat man genau das getan: Der Client hat dem Server mitgeteilt, was er will, und der Server hat das dann antragsgemäß zugesandt. Jeder Webserver funktioniert nach diesem Prinzip.
Ich weiß (noch) nicht, was in dem Urteil steht.
Aber das Patent halte ich für Bullshit. Für Betrug.
Und das dürfte genau das deutsche Problem sein (auch wenn es ein EU-Patent ist), dass wir ein Juristenstaat sind, und es auf den Inhalt nicht mehr ankommt, sondern nur noch auf die juristische Formulierung.
Wir schreien alle Digitalisierung. Es wäre ein Witz, wenn wir uns mit so einem Schrott-Patent Amazon Prime (und in der Folge andere on-Demand-Sender) wegschießen würden.
Ich würde zu gerne das Urteil sehen.