Bürgerinitiative
Bei uns gibt es ja so einen gesellschaftlichen Glauben, dass eine „Bürgerinitiative” immer etwas Gutes, Gerechtes, Soziales mit Robin-Hood-Flair und viel Öko und Gutmenschentum ist. Als ob der Klang des Wortes selbst schon das Ansinnen adelte.
Kam gestern schon in den Fernsehnachrichten und heute im SPIEGEL:
Der Ort Grimma ist schon beim Hochwasser 2002 mit großen Schäden abgesoffen. Dann haben sie sich entschlossen, eine Hochwasserschutzmauer zu bauen, die aber nur halb fertig wurde, weil Bürgerinitiativen sie verhindert haben. Nun sind sie wieder abgesoffen, wieder großer Schaden.
Selbst schuld.
Aber irgendwie ist das bei uns inzwischen Kulturgut, dass irgendwelche selbsternannten Besserwisser mit Bürgerinitiativen meinen, alles blockieren zu können, müssen, dürfen. Würde mich mal interessieren, was die Bürgerinitiativen jetzt so sagen und wer für den Schaden aufkommt.
24 Kommentare (RSS-Feed)
Wenn jemand eine Rede über einen barmherzigen Samariter hält, hat das keine Auswirkungen auf die Hilfsbereitschaft des Redner selbst. (John Darley & Daniel Batson, 1970)
“Der Aktivist hat immer Recht, denn er kämpft für’s Menschenrecht”
(modernisierte DDR-Hymne)
Dass kleinste Minderheiten, die keiner gewählt hat, Regierungshandeln bestimmen sollen, ist doch deutsches Glaubensbekenntnis. Man beachte dazu auch die aktuelle Türkei-Berichterstattung.
Es ist heutzutage ja auch ein Trend, dem Establishment nicht mehr zu glauben – das tut auch sein Möglichstes dazu.
Ich weiß nicht, was die Argumente dieser zwei Bürgerinitiativen waren, aber ich frage mich, ob es nicht möglich ist, statt gleich zu demonstrieren und zu klagen einfach mal wirklich in den öffentlichen Dialog zu treten, und zu erörtern, warum eine Maßnahme sinnvoll ist.
Dazu müssten aber meiner Meinung nach zwei Dinge passieren, ohne die eine freiheitliche Demokratie nicht funktionieren kann:
1. Die Amtsinhaber müssen zur Transparenz bereit sein
2. Die Bevölkerung muss gebildet werden
Und der wichtige Teil der Bildung ist eben nicht Realienwissen wie es in der Schule fast ausschließlich vermittelt wird – man kann nicht alles wissen – sondern der Weg an das Wissen zu kommen wenn man es braucht und es zu überprüfen.
Mich nervt es immer, wenn man sich einfach auf “Expertenmeinungen” beruft, aber kein Bisschen dafür interessiert, warum der Experte seine Meinung vertritt. Experten haben selten eine Glaskugel die ihnen sagt was Sache ist. Experten haben idealerweise Erfahrung und Realienwissen auf ihrem Fachgebiet, das sie zu einer Meinung bewegt. Deshalb können verschiedene Experten auch unterschiedlicher Meinung sein, ohne dass einer der Beiden wirklich falsch liegt.
Ein banales Beispiel: Frag irgendjemanden auf der Straße, woher er weiß, dass die Erde rund ist (die Fotos die man von Satelliten hat ließen sich im Prinzip leicht fälschen), oder viel mehr, ob und wie er es nachprüfen könnte, wenn er Zweifel daran hätte (ich sage nicht, dass man das tun muss, ich finde nur, das Wissen darum wie es geht ist genau so wichtig wie die Tatsache selbst). Abgesehen von großen komplizierten Fluggeräten wirds da für die meisten Leute schwierig werden.
Dann sieh Dir mal diese Mauern an! Statt daß man die Dämme erhöht, was an fast allen Stellen problemlos möglich ist, baut man solche Spundwände. Nett, wenigstens streicht man sie noch grün an. Frechheit, das!
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Carsten
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Bevölkerung informieren – da war doch was.
Auf einer Infoveranstaltung in unserem Ort wurden Straßensanierungsmaßnahmen (und damit verbundenen Straßensperrungen) vorgestellt. Auf die Frage, warum sich die Arbeiten an der einen Straße so lange hinzogen, meinte der leitende Architekt, dass man “im Dezember von Frost überrascht worden” sei.
Mein Nachbar fragte mich flüsternd, ob wir den Experten verraten sollten, dass es Nachts dunkel wird.
Nach dem, was ich gehört habe, hätte eine Fertigstellung auch nichts gebracht, weil der örtliche Fluss (hier laufen gerade so viele über, und Topographie ist schon so lange her, aber es müsste die Elbe sein) ins Grundwasser gedrückt hat, sodass die Flut in manchen Gebieten von unten kam.
Aber ja, für mich heißt “Bürgerinitiative” schon lange “Wir wissen nicht _wie_ es geht, aber _so_ nicht!” Das macht man dann für Straßenbauprojekte, Flughafenbauprojekte, Kanalbauprojekte, Eisenbahnbauprojekte, Windkraftwerke, Atomkraftwerke, Kohlekraftwerke, Sonnenkraftwerke, Strömungskraftwerke, Steuererhöhungen, Staatsmittelstreichungen,… und das Schlimme ist, dass die dann alles so sehr mit Emotionen aufladen, dass man nicht mehr diskutieren kann, man kann nur noch Partei ergreifen. Ich versuche zwar, nicht in den Denkfehler der Goldenen Mitte zu tappen, aber häufig ist die Lösung wirklich an keinem der beiden Extreme.
Tja so ist das halt mit der Demokratie.
Alle wollen z.B. Ökostrom. Die Trassen und Windräder damit der Strom auch in die Steckdosen kommt will aber niemand vor der eigenen Haustür. Frei nach dem alten Motto – wasch mir den Pelz …
Bürgerinitiativen sind daher für mich nicht per se etwas Gutes sondern schlichtweg ein Zusammenschluss von Bürgern mit einem gemeinsamen Interesse -nicht mehr nicht weniger.
Im Internetzeitalter kann und will nun mal jeder mitreden, gehört werden und mitentscheiden. Das Problem der Politik ist die z.T widersprüchlichen Interessen zu moderieren, zu bündeln und letztendlich zu einer einvernehmlichen Entscheidung zu kommen.
Ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen den Interessen von Minderheiten und Mehrheiten und damit eine vertretbare Balance zwischen “par Ordre du Mufti” und völliger Blockade (Wutbürger) wird verstärkt die Kunst der Zukunft sein.
Moin moin,
mal ehrlich, um effektiven Hochwasserschutz zu verhindern braucht es doch keine Bürgerinitiativen, dass schaffen die Behörden auch ganz von alleine 😉 Faszinierend finde ich wie in ‚normalen‘ Zeiten die Diskussion um den Hochwasserschutz geführt wird. Meistens jedoch geht es nur darum, wer bezahlt das Ganze. Jetzt da wo das Wasser da ist geht es ja eigentlich nur darum wer findet die beste Ausrede und schafft es die Verantwortung am effektivsten auf andere abzuwälzen. Richtig niederschmetternd ist, dass sich die Ansagen der Politik nach den Hochwassern 200x wird alles besser, nur Nebelkerzen waren. Jetzt stellt sich aber heraus das sich da vielerorts viel zu wenig getan hat, nur die Beteuerungen sind geblieben.
@Carsten, Mitnichten ist es an fast allen Stellen problemlos möglich so einfach den Deich höher zu bauen. In urbanen Gebieten z.B. fehlt meistens einfach der Platz. Manchmal fehlt schlicht und ergreifend das Geld. Manchmal gibt es eine Bürgerinitiative, und manchmal bekommen es die örtlichen Behörden nicht auf die Reihe.
Und diese Spundwände sind nicht nur primär zu Deicherhöhung da, sondern auch um den Deich vor Durchnässung und wegrutschen zu schützen.
So long, and thanks for all fish.
@carsten
wenigstens wurde was gemacht, auch wenn es nur spundwände sind. in meinem jetzigen wohnort werden stimmen laut, die der stadtverwaltung und den zuständigen behörden seit 2002 völlige untätigkeit, in sachen hochwasserschutz, vorwerfen. kann man ja auch machen, wenn plötzlich die halbe stadt abgesoffen ist. in den letzten jahren hat kein hahn danach gekräht.
Hier ist ein Link mit einigen Infos über Gründe der BIen:
http://www.naturschutzverband-sachsen.de/hochwasserschutz_grimma.htm
Es gibt natürlich spinnerte Bürgerinitiativen, aber natürlich auch spinnerte Regierungsinitiativen.
Staat eine Ortschaft einzukerkern, wäre es ja auch denkbar gewesen, die Wassermassen abzuleiten und/oder aufzustauen (Polder). Eine Knastmauer für 30 Millionen macht aber mehr her, als ein Polder und ein 3km Rohr für eine ähnliche Summe. Im Gegensatz zu S21 brauchen Fluttunnel keine Bahntechnik oder Belüftung, sind also billiger herzustellen.
Ich wohne da nicht und war da auch noch nicht, kenne aber genug andere Bauten, die “gut gemeint” waren. Auch die Ausführung der Arbeiten ist häufig “gut gemeint”.
Ein Beispiel: Am Rheindamm wird bei Hördt ein Polder eingerichtet. Dafür wurde der Radweg unterbrochen. Ungefähr 8m breit. Das ist seit 2 Jahren so und soll noch 2 Jahre bleiben. Es gibt keine Behelfsbrücke und der nächste Überweg ist die Landstrasse in 1 km Entfernung. Allerdings ist das Luftlinie. Dazwischen sind Wald und Felder mit Wegen für Forstgeräte und Traktoren. Der echte Umweg sind eher 4km auf schlechten Wegen und entlang der Landstrasse ohne Beschilderung. Ohne Ortskenntnis und/oder Navi kann das ein längerer Ausflug werden.
Da der Rheindamm eh nur für berechtigte ist, hätte eine Balkenkonstruktion mit anderthalb Meter Breite locker gereicht. So im Bereich 2000 Euro Material und drei Zimmerleute für zwei Tage. Zwar 20m zum Rhein hin, 2 m tiefer und bei Hochwasser überschwemmt, aber für die Sommermonate voll geeignet. Die haben an der Stelle sogar einen Bagger dauerhaft platziert, da kostet schon die Abschreibung mehr.
Wenn es Spundwände sein müssen, dann kann man den Deich auch drüberziehen. Das muß nicht so aussehen! Man kann Lehmschichten aufbringen… Aus politischem Streit werden Buhnen abgerissen und aufgebaut, Deiche aufgebaut und durchstochen, aufgebaut und gesprengt. Plan?
Carsten
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> Würde mich mal interessieren, was die Bürgerinitiativen jetzt so sagen und wer für den Schaden aufkommt.
@Hadmut
wieso fragst du dich auf einmal, wer für den Schaden aufkommen muss – Politiker müssen für die Schäden ihrer Fehlentscheidungen ja auch nicht aufkommen.
Und davon abgesehen pauschalisierst du hier sehr, nur weil eine Bürgerinitiative etwas vergeigt hat sind alle schlecht?
(auch wenn du das nicht so direkt geschrieben hast).
Wieso sollte es “die Bürgerinitiativen” interessieren, was eine BI vermurkst hat?
Oder ist jetzt auch auf einmal jeder Politiker für die Fehler aller seiner Kollegen verantwortlich?
Hadmut,
hier lässt du dich von einem Demagogen instrumentalisieren. Ich hätte dich für schlauer gehalten.
Das “Jahrhunderthochwasser” kam innerhalb von 10 Jahren zweimal, und da die Baumaßnahmen der Schutzwand den üblichen Verfahren folgte, war man etwas spät dran. Rechnet man nach, so hätten die quasi Hals über Kopf unter Umgehung aller Mitbestimmungsprinzipien direkt nach 2002 losbauen müssen, um jetzt fertig zu sein. Das ist nichtmal bei zentraler Planung ohne jede Bürgerbeteiligung realistisch, und es ist aus der Entscheidungsgrundlage 2003 gesehen auch nicht notwendig.
Was hier wirklich geschieht, ist eine sehr interessante intellektuelle Volte: aus dem geschehenen Unglück konstruiert Sachsens Ministerpräsident Tillich eine Waffe gegen bürgerliche Mitbestimmung, indem er den Bürgerinitiativen indirekt die Schuld am Schaden in die Schuhe schiebt (->Hexenjagd) und dieses nutzt, um laut darüber nachzudenken, ob man nicht auch ohne Demokratie könnte. Liest man die Spiegel-Online-Leserbriefe, so sieht man: die meisten würden sich einen starken Monarchen wohl wünschen, denn sie schimpfen über die engagierten Mitbürger, die es doch nur das Richtige machen wollten und dabei die Wahrscheinlichkeit einer so kurzfristigen Wiederholung des Jahrhunderthochwassers wie alle anderen auch unterschätzten.
Aber Tillich ist schon sehr geschickt, wenn man nicht drüber nachdenkt, könnte man tatsächlich auf die Idee kommen, Bürgerinitiativen gehörten verboten. Wären dann eigentlich andere Großprojekte besser gelaufen? (S21, BER, Elbphilharmonie). Nerven die die Bürger eigentlich nur die Regierenden beim Regieren?
Tillichs Rhetorik nennt man Demagogie.
Fry
Kommt vor, dass es inzwischen öfters solche Hochwasser gibt. Flussaufwärts ist eingedeicht worden. Das muss man dann flussabwärts berücksichtigen.
Die schöne Brücke, die die Bürgerinitiative haben will, ist schon 2002, nachdem sie knapp zwei Jahre gestanden hatte, kaputt gegangen.
Wenn die Leute den Schaden selber tragen müssen, lernen sie gewöhnlich. Aber wir sind ja hier in der BRD. Da hat man schon 2002 seinen Schaden ersetzt bekommen, und das wird auch jetzt wieder passieren. Versicherung konnten sich die Leute ja nicht leisten. Die hätte in zehn Jahren so viel wie ein Haus gekostet. Wie das wohl kommt?
Um das derzeitige System zu erhalten, ist es sinnvoll, dass die BRD für die Schäden bezahlt. So werden wieder Werte vernichtet, also in diesem Fall wieder einmal Häuser in einem Gebiet gebaut, wo sie in zehn Jahren wieder kaputt gehen.
So haben alle wieder Arbeit, es wird kein Wohlstand erzeugt, und der Arbeitsfetischismus kann noch ein paar Jahre länger wüten.
@Fry
> Das “Jahrhunderthochwasser” kam innerhalb von 10 Jahren zweimal,
> und da die Baumaßnahmen der Schutzwand den üblichen Verfahren folgte,
> war man etwas spät dran. Rechnet man nach, so hätten die quasi Hals
> über Kopf unter Umgehung aller Mitbestimmungsprinzipien direkt nach
> 2002 losbauen müssen, um jetzt fertig zu sein.
In den 1940ern hat man es geschafft, innerhalb von Monaten, Brücken, Bunker, Bahnlinien und Straßen zu bauen. Aber heute dauert so etwas 10 Jahre.
@Knut
Wenn dich der Umweg stört, dann schmeiß mal zwei Baumstämme über die Lücke.
@Lohengrin: ich lese da raus “es war nicht alles schlecht damals”. Keine weiteren Fragen.
Fry
@Fry
Beeindruckendes Argument!
Such dir ein anderes Land als Beispiel. Ich habe nicht nur an Deutschland gedacht.
Tschernobyl ist auch noch ein passendes Beispiel.
Wer jahrelang parlavert, statt zu handeln, hat irgend einen Dummen gefunden, der die Zeche bezahlen wird.
Also ich würde das nicht auf die Bürgerinitiative schieben. Natürlich ist das ärgerlich, daß das Hochwasser zu früh kommt, Aber ordentlicher Hochwasserschutz braucht ordentliche Planung und Durchführung. Hier kam 1994 das “Jahrhunderthochwasser” auch zweimal innerhalb eines Viertelahres, weil es offensichtlich beim ersten mal einige vergessen hatte und beim zweitem mal gleich einen ganzen Meter höher stieg um keinen auszulassen.
Bis die Hochwasserschutzmaßnahmen (Sperrwerke, Polder, Dämme, etc.) in der Umgebung alle fertig waren, hat das über 10 Jahre gedauert. wenn es dem Hochwasser eingefallen wäre, vorher nochmal vorbeizukommen, wäre man halt wieder “naß” geworden.
Dann hat die Bürgerinitiative eben Glück gehabt, dass das Hochwasser schon jetzt gekommen ist und nicht erst in zwei Jahren.
Und nochmal an Fry:
> Nerven die die Bürger eigentlich nur die Regierenden beim Regieren?
Bei uns nerven sie die Bauern beim Aufstellen von Windkraftanlagen. Dampfloks sind auch so schön romantisch, wenn irgend ein Trottel es bezahlt. Ich erinnere mich noch an einen, der beim Hausbau dicke Steine fand und Angst hatte, dass das ein Archäologe bemerkt.
Sehe ich wie Fry. Die BI ist nicht gegen Hochwasserschutz, sie ist gegen diese fürchterlichen Beton- und Spundwände. Passt wie die Faust aufs Auge zur historischen Altstadt. Vielleicht hätten sich Frauen etwas ästhetischeres überlegt.
Welche BIs sind eigentlich an den Verzögerungen bei Elbphilharmonie und BER schuld 😉
Eine Replik zur Tillichs Forderung wäre, die Einmischung der Politik in Großprojekte zu unterbinden. Zumindest bei der Elbphilharmonie trug das Nachkarten der Politik mit Änderungen nicht unerheblich zur Verzögerung bei.
> Würde mich mal interessieren, was die Bürgerinitiativen jetzt so sagen und wer für den Schaden aufkommt.
Garnichts. Die werden sagen, das Klima läuft amok. Die Klimasteuern müssen erhöht werden und wir müssen weniger CO2 beim Atmen ausstossen.
Die antitechnologischen Bewegungen bei den Grünen, SPD, CDU, Linke und jetzt auch bei den Piraten zersetzen weiterhin nicht nur die Lehre, sondern auch das industrielle Rückgrat des Landes und den ‘common sense’ an sich.
Es ist zum kotzen.