Ansichten eines Informatikers

Singapur ist auch nicht mehr (überall) das, was es mal war.

Hadmut
20.11.2013 17:21

Ich bin gerade nach 23 Jahren zum zweiten Mal in Singapur.

Die Stadt hat sich – in dem innersten Stadtkern, in dem ich mich bewege – enorm verändert. Aber nicht unbedingt zum Besseren.

Obwohl Singapur schon vor 23 Jahren eigentlich schon eine der modernsten Städte in Asien war, hatte man damals doch zumindest noch einiges von dem alten Flair südostasaitischer Städte. Es gab noch einiges an alten Bauten, und vieles war eben typisch asiatisch. Die Stadt war voll von diesen seltsamen Kaufbunkern, diesen unbeschreibliche mehrstöckigen Klötzen, zugestopft mit einer Vielzahl winzigster Läden ab einem Quadratmeter, die in endlosen engen Gängen angesiedelt und völlig planlos auf mehreren Etagen zusammengestopft waren, in denen man sich verirren konnte und den Ausgang nicht mehr gefunden hat, in denen winzigste „Ich-AGs” den immerselben Kram feilboten, Kameras, Koffer, Damenunterwäsche und unendliche Mängen von Schund, Kitsch und Klimbim. An fast jeder Straßenecke gab es diese Fresstempel, wieder solche in Gängen organisierte Ansammlungen kleinster Garküchen zwischen 4 und 6 qm, in denen jeder, der eine Küche aufmachte, so zwei oder drei Gerichte konnte und die anbot, sich aber trotzdem eine riesige Auswahl ergab, weil einfach einige zig oder sogar einige hundert dieser Mini-Küchen zusammengepfercht waren. In den Gängen immer diese schäbigen, festmontierten Kunststofftische und -stühle, das Essen serviert in Plastikschüsseln, die zentral gereinigt wurden. Für Kleingeld bekam man ein Mittagessen. An den Straßen gab es zwischen Fahrbahn und Fußweg diese völlig offenen, ca. 60-100 cm tiefen und 20-30 cm breiten Gräben für die Abwasserfluten der Regenzeit, in denen man sich so tierisch die Haxen brechen konnte, wenn man unachtsam über die Straße ging, den Boden 15 cm tiefer wähnte und dann erst mal nach unten fiel.

Gibt’s alles nicht mehr. Oder doch, gibt’s schon noch, die Kaufhäuser, die Fresstempel und die Wassergräben, aber nicht mehr in der Innenstadt. Man muss schon was nach außerhalb, oder zumindest nach Chinatown oder Little India.

In der Innenstadt wurden die Kaufhäuser plattgemacht und durch moderne Einkaufszentren ersetzt, die denen in anderen Städten der Welt exakt und bis ins Detail gleichen. Dieselben Marken, dieselben Bilder, dieselben Produkte, dieselbe Art, Shopping Malls zu bauen, alles ist gleich. Sogar die Temperatur und das Währungszeichen ($). Man könnte stundenlang in diesen Kaufhäusern wandeln ohne herauszufinden, in welchem Teil der Erde man ist, hätte man nicht die Gesichtszüge der Leute als groben Anhaltspunkt.

Generell fällt auf, dass die Innenstadt (ob man’s nun „Downtown” oder „CBD” nennt) weitgehend entasiatisiert hat. Das sieht in vielen Ländern inzwischen alles komplett gleich aus. Und wieder fällt mir auf, dass hier eine massiv amerikanisch-europäische Übernahme der Kultur stattgefunden hat. Ähnlich wie im Nahen Osten und den arabischen Ländern besteht das Schönheitsbild, eben was man so auf Bildern, in der Reklame und im Aussehen so sieht, fast nur noch aus dem europäisch-kaukasischen Typ mit europäischer Kleidung. Fast nur europäische Models in der Werbung zu sehen.

Auch in der Kleidung gab es Veränderungen. Vor 23 Jahren hat man hier noch sehr viele muslimisch verhüllte Frauen herumlaufen sehen, Männer in arabischen oder indischen Gewändern, Schüler und Schülerinnen fast nur in Schuluniformen. Inzwischen fast nur noch westliche Kleidung, es ist auch alles nicht mehr so prüde wie damals. Allerdings scheint es doch noch gewissen Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage zu geben. Ziemlich viele Mädels und junge Frauen scheinen hier ganz wild auf Miniröcke zu sein. Obwohl es hier eigentlich alles zu kaufen gibt, was man sich vorstellen kann (außer Kaugummi, der ist verboten), scheinen kurze Miniröcke hier nicht so im Angebot zu sein. Deshalb tragen sie kurze Faltenröcke, die normal getragen so bis Handbreit über Knie oder mitte Oberschenkel gehen, und ziehen die einfach höher, so dass sie den Rockbund manchmal bis irgendwo an den Rippen hängen haben. Sieht beknackt aus und steht nicht wirklich jeder. Aber wenn’s gerade Mode ist…

Apropos Mode: Es fällt auf, dass – ähnlich wie in Karlsruhe, ich hätte nicht gedacht, dass Karlsruhe etwas mit Singapur gemein haben könnte – die Geschäfte in den Fussgängerzonen durch eine Monokultur aus Klamottenläden, Mode- und Kosmetiklabels übernommen wurden. Es geht um fast nichts anderes mehr. Wenn mal zwei Läden für Lingerie nicht nebeneinander liegen, dann weil ein Kosmetikladen dazwischen liegt und umgekehrt. Fragt sich, wie lange das gut geht, denn es ist in den Läden verdächtig wenig los. Die überschlagen sich fast, wenn man nur mal davor stehenbleibt und guckt. Zielgruppe sind da wohl die Millionäre und Milliardäre, die sich ja in Singapur tummeln sollen, seit die Schweiz nicht mehr sicher vor Steuerfahndung ist. Irgendwas kam mir daran aber komisch vor. Denn während es hier unzählige Läden für Damenunterwäsche gibt, scheint ausgerechnet der penetranteste dabei, Victoria’s Secret, das nicht im Angebot zu haben. Ist mir so aufgefallen, weil in Berlin im Bus eine neben mir stand, die gerade so ein winziges Tütchen von Victoria’s Secret bei sich hatte. Als ich am gefühlt zwanzigsten Laden von denen vorbeikam und die mich mal wieder angequatscht haben, konnte ich die Verwunderung nicht mehr unterdrücken und habe gefragt, warum sie hier eigentlich nur Duftwasser, Body Lotions und so’n Zeug haben, aber keine Damenunterwäsche. Ich dachte immer, Victora’s Secret macht nur sowas. Weil gerade nix los war, wurde ich dann mal dezent zur Seite genommen und aufgeklärt. Wir seien hier in Asien, und BHs gingen hier einfach nicht. Würde nicht gekauft, jedenfalls nicht für teuer. Asiatinnen hätten wenig Bedarf an sowas (was nicht in Einklang mit meinem Augenschein steht, aber wer bin ich, dass ich einer Fachverkäuferin von Victoria’s Secret da zu widersprechen wagte), und der Bedarf sei komplett auf der Billig-Schiene abgedeckt. Da gäb’s für sie nichts mehr zu holen. Das Geschäft mit den Duftwässerchen und dem ganzen Schönheitskleister würde aber dick brummen, das könnten sie auch im teuren Bereich eimerweise verkaufen. Also machen sie das, was geht, und nicht das, was nicht geht. Aha. Wieder was gelernt. (Ein Schelm, wer die Ursache nicht in Asien, sondern im Alter der betuchten Zielgruppe verortet.) Ich habe versucht, aus Symmetriegründen ähnliches über Männer in Erfahrung zu bringen. Da gibt’s aber nichts Erwähnenswertes. Die laufen normal rum wie immer. Kaum Anlass für Business, fast keine Fachgeschäfte. Während man etwa in Little India in den Hinterhöfen Läden vollgestopft mit Zehntausenden von knallbunten, manchmal schönen, meist aber hochkitschigen knallbunten Kleidern und Saris findet, gibt’s für Männer da einfach gar nichts. Braucht keiner, kauft keiner, bietet keiner an.

Die Wassergräben haben sie zubetoniert oder zumindest abgedeckt.

Auch das Essen hat sich verändert. Es findet in der Innenstadt nicht mehr wie früher in diesen Fresstempeln und auf den Straßen statt. Das ist jetzt alles aufgeräumter, modernern und teurer. Alles so McDonaldsoid. Ich kam da in ein chinesisches Restaurant und da gab es einen Kassentresen und darüber die von hinten durchleuchtete Menüliste mit einer kleinen Auswahl fester Menüs. Kaum hatte ich an der Kasse bezahlt, wurde ich – natürlich mit bunten Bildchen – darauf hingewiesen, dass man Special-Dessert-Wochen habe und ich mein Mahl für nur $ 1,90 mit einem zusätzlichen Nachtisch aufwerten könnte. *Seufz* Na gut, wenn’s denn sein muss.

Der Nachtisch stellt sich als eine Kombination aus einer seltsamen geeisten Mangosuppe und etwas, was sie als „Karottenkuchen” bezeichnet, oder genauer gesagt als „carrot cake”. Das Zeug schmeckt so ähnlich wie ein schwäbischer Reibekuchen aus Kartoffeln, aber er hat weder von Farbe, noch von Konsistenz oder Geschmack erkennbar irgendetwas mit Karotten zu tun. Erst habe ich gerätselt, welche schreckliche Behandlung wohl den Möhren wiederfahren sein müsste, um so wirklich aller ihrer Eigenschaften verlustig zu gehen, ich habe dann aber herausgefunden, dass in diesen Carrot Cakes keine Karotten sind. Carrot ist einfach nicht gleichbedeutend mit unserer roten Karotte, sondern schließt auch anderes Wurzelgemüse mit ein. (Übrigens gehören auch auch die einhöckrigen Dromedare im Deutschen nicht zu den Kamelen, was nur zweihöckrige sind, im Englischen aber durchaus zu den Camels, aber das gehört hier nicht hin.)

Generell sollte man wissen, dass man chinesisches Essen nicht allein nach dem Geschmack beurteilen sollte. Geschmack hat hier nicht ganz die herausragende Rolle wie bei uns. Im chinesischen Kulturraum ist es eben auch wichtig, dass das Essen in Aussehen, Konsistenz und „Mund-Haptik” sehr abwechslungsreich ist und sich die Gänge darin unterscheiden. Deshalb stören sich Chinesen auch nicht so daran, wenn mal etwas eher nach gar nichts oder nur sehr dezent schmeckt, solange man es lutschen kann und es im Mund so herrlich glibberig ist. Akzeptiert man das, kann man sich hier herrlich durch die verschiedenen Küchen der verschiedenen asiatischen Länder fressen. Heute mittag hatte ich so ein seltsames Porridge mit darin versteckten Streifen aus geschmacksarm gekochtem Huhn, das wohl für die haptische Abwechslung zuständig war, dazu dreierlei Dim Sum. Der Porridge war – naja, wie soll ich sagen – geschmacklich sehr zurückhaltend, aber sensationell in seiner Glibberigkeit. Die Dim Sum habens aber herausgerissen. Die waren gut. Ich bin mir nur noch nicht so ganz sicher, wie man mit Gulasch gefüllte Teigklöse ordnungsgemäß mit Stäbchen isst, ohne sich als Ausländer zu outen. (Bezüglich des Porridge hatte ich am gleichen Tag sowas wie ein Deja Vu, denn beim Besuch eines indischen Tempels wurde mir als Gastgeschenk ein Becher eines mir bis dahin unbekannten Getränkes gereicht, das sich als in heißem Wasser eingeweichter/fast aufgelöster Reis herausstellte. Wieder so der Porridge-Effekt von geschmacksarmem, heißen Glibber mit eingelagerten haptischen Überraschungen. Selbstverständlich reagiert man auf zuvorkommende Gastfreundschaft mit wohlerzogenem Gastverhalten und leert das Ding mit dem Ausdruck von Freude, Entzücken und Dankbarkeit über die Köstlichkeit. Reisen bildet.)

Grundsätzlich muss ich aber feststellen, dass es hier jede Menge sehr leckerer asiatischer Speisen gibt, die man bei uns gar nicht bekommt, die ich noch nicht gesehen habe und deren Namen ich mir nicht merken konnte. Vorhin hatte ich so ein japanisches Gebäck, eine Teigtasche in Fischform mit Vanillefüllung. Vanille hätte ich jetzt auch nicht für typisch japanisch gehalten, aber es war sehr lecker.

9 Kommentare (RSS-Feed)

Bill
20.11.2013 21:10
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da bleibt nur eins zu sagen:
^_^

Sayonara


FullxD
20.11.2013 22:59
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Die Damenunterwäscheverkäuferin in Singapur und der berichtende Informatiker aus Deutschland haben was den lokalen Bedarf an BHs anbelangt letztlich beide Recht, wie ein tiefer Blick in die Materie ergibt. Zu berücksichtigen ist der jeweilige Stadtteil und in welchem Einzugsgebiet das Damenunterwäschegeschäft liegt. http://forums.hardwarezone.com.sg/eat-drink-man-woman-16/%5Bgot-map-gt%5D-singapore-breast-size-map-reveals-bustiest-flattest-areas-3681464.html


Hank
21.11.2013 5:15
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Esstip: Froscheintopf. Z.b. in den Straßenbuden der etwas außerhalb liegenden Viertel, z.B. Geylang. 12 Frösche ergeben etwa soviel Fleisch wie 1 Hähnchenschenkel, brauchen aber ca. 1 Std. chirurgische Feinarbeit.


Mattes
21.11.2013 8:58
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Netter Bericht. Vor allem weil vor kurzen auf ARTE ein Bericht über Singapur lief und ich mir zumindest etwas von dem vorstellen konnte, was du da beschrieben hast.

Aber das mit den Kamelen hat mich jetzt stutzig gemacht. Ich dachte, Kamel sei ein Familienbegriff wie Hund, und wir unterscheiden da mal zwischen Dromedar (Einhöckrig) und Trampeltier (Zweihöckrig) und Lama und Vikunja.


Fritz
21.11.2013 12:58
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Woher mag es kommen, dass alle Gesellschaften (außer den muslimischen?) den westlichen Lebensstil übernehmen wollen, sowie sie es sich finanziell erlauben können?


Missingno.
21.11.2013 14:38
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@Bill
Sayonara ist aber japanisch. Zaijian ist das chinesische Gegenstück, wenn mich jetzt nicht alles täuscht.

Dim Sum darf man auf das Stäbchen aufspießen, ohne sich zu outen. Machen Chinesen bisweilen nämlich so. Wenn man die nämlich in Soße tunkt, werden die “glitschig”, so dass sie kaum noch mit Stäbchen zu halten sind. Wenn man es schafft, passt das auch, aber wenn es rutscht, hat man quasi verloren. 😉


Marc
21.11.2013 23:52
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Endlich verstehe ich asiatische Küche.


kokko
25.11.2013 15:09
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Hadmut
25.11.2013 15:13
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Ja, genau. Echt lecker, daran hätt ich mich totfressen können. 🙂